Ilko-Sascha Kowalczuk
Entwurf unkorrigiert
Die Hochschulen und die Revolution 1989/90
Vortrag auf der Tagung:
Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR.
FU Berlin, SED-Forschungsverbund, 20./21. Mai 2010 (21. Mai 2010)
Im Kern zählten die Hochschulen und Universitäten zu jenen Institutionen, die sich als <gegenrevolutionär> in der 89er Revolution charakterisieren lassen. Im Vergleich mit 1953, 1961, 1968 oder 1976 war der Anteil der Universitäten und Hochschulen an den Ereignissen von 1989 — und in den genannten Jahren war der Hochschulanteil an den Protesten schon marginal genug — geradezu dramatisch gering.
Allerdings konnte ich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit eigenen Forschungen zur Vorgeschichte und Geschichte der Revolution von 1989 feststellen, dass die Unruhe über den gesellschaftlichen Zustand auch Studierende und Hochschullehrer erfasst hatte. Das Verbot des "Sputniks“ etwa haben an allen Hochschulen Studenten und Hochschullehrer kritisch diskutiert, es kam aber nur zu wenigen Exmatrikulationen wegen eines Protestes. An fast allen Hochschulen tauchten Flugblätter und Plakate auf. An der TU Magdeburg ist ein Text aufgehängt worden, der präzise auf den Punkt brachte, worum es ging: "Der Sputnik ist verboten — wie lang wollt Ihr noch ruhn. Erst dann wird sich was ändern — wenn wir was dafür tun.“ Andernorts waren auf Wandzeitungen Bilder von Gorbatschow zu sehen, auf denen ihm der Mund mit Pflaster verklebt worden war.
Auch die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 zeigten eine Hochschullandschaft, die in Bewegung geraten war. Selbst hier stimmten 5,3 Prozent gegen den Wahlvorschlag. Von den etwa 2200 Studierenden der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar waren 15,5 Prozent gegen den Listenvorschlag, 8,3 Prozent betrug der Anteil an der Universität Jena (von 5300), 7,4 Prozent der Universität Leipzig (12 000) oder 6,5 Prozent der Universität Rostock (6300). An der Humboldt-Universität stimmten 5,4 Prozent mit "Nein“ (377), 1986 waren es nur 26 gewesen. Die Kunsthochschule Berlin-Weißensee bildete die Spitze: 51 Prozent (etwas mehr als 100 Studierende) stimmten gegen den Wahlvorschlag.
Auch wenn sich in allen Orten einzelne Studenten und Hochschullehrer an den Protesten und oppositionellen Neugründungen im Spätsommer und Herbst 1989 beteiligten, auch wenn sich unter den Flüchtlingen Studenten und Hochschulangehörige befanden — die Universitäten und Hochschulen waren als Institutionen in der Revolution nicht sichtbar. Das ist historisch bedeutsam, weil die revolutionären Vorgänge in China, in der CSSR, Polen, Ungarn, im Baltikum in den dortigen Universitäten eine feste und wichtige Stütze aufwiesen.
Insgesamt gelten Universitäten und Hochschulen aufgrund ihrer besonderen Struktur und Zusammensetzung als Orte, aus denen Protest geradezu erwartet werden kann — das galt in der SBZ/DDR bis zum Mauerbau auch, doch schon die Ereignisse um den "Prager Frühling“ 1968 zeigten, dass die DDR-Hochschullandschaft ein ganz eigenes Antlitz angenommen hatte und zu den festen Stützen der Diktatur zählte.
Entscheidend dafür war die kommunistische Umgestaltung der Hochschullandschaft in der Ulbricht-Ära, wobei zentral war, dass die SED auch in den Hochschulen die Herrschaft ausübte und so nicht nur einschneidende strukturelle Veränderungen vornahm, sondern sowohl die Immatrikulationen wie die Rekrutierung der Hochschullehrer strikt an politisch-ideologischen Vorgaben ausrichtete. Beides zusammen im Kontext der kommunistischen Diktatur bilden die Erklärungsschlüssel dafür, warum die Hochschulen 1989 abseits standen.
Die ersten, die erwachten im Oktober/November 1989, waren Teile der Studentenschaft, die zunächst die FDJ reformieren wollten und dann unabhängige Studentenräte installierten. Relativ schnell wurde das seit 1951 obligatorische gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium eingestellt. Und damit begann dann ein Umstrukturierungs- und Reformprozess, der viele Gesichter aufwies. Ich kann hier auf die vielen Ebenen nicht eingehen. Etwa warum der größte Teil der Studentenschaft einen strikten Numerus Clausus beibehalten wollte oder wie die leninistischen Gesellschaftswissenschaftler sämtlicher Fachgruppen über Nacht zu Geistes-, Sozial- oder Kulturwissenschaftlern mutierten und ihr Hochschulüberleben zu retten suchten.
Eine Erneuerung aus eigener Kraft, wie es immer hieß, blieb bereits in den Ansätzen stecken und für die ostdeutsche Hochschullandschaft und die neuen Studentengenerationen bedeutete erst die Wiedervereinigung einen tatsächlichen, wenn auch langwierigen, widerspruchsvollen und mühsamen Neuanfang. Ich konzentriere mich nun aber auf eine einzige Frage, die für das Gesamtthema der Tagung nicht unerheblich sein dürfte. Die Frage lautet ganz einfach: Wie gingen die ostdeutschen Universitäten und Hochschulen in den letzten Jahren eigentlich mit ihrer kommunistischen Vergangenheit um?
Man muss zunächst feststellen, in den neunziger Jahren gingen Initiativen zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit, zur Rehabilitierung oder zur Würdigung von Opfern und Oppositionellen fast durchweg von ganz kleinen universitären Gruppen — meist waren die erst 1990 ff. dorthin gelangt — sowie noch stärker von einst relegierten, gemaßregelten, verfolgten, verurteilten Studenten und Hochschullehrern aus. Auf Unterstützung konnten sie meist nicht sonderlich bauen, auch wenn die groteske Solidarisierung des größten Teils der Humboldt-Universität mit ihrem Rektor Heinrich Fink nach dessen Enttarnung als langjähriger IM "Heiner“ singulär war. Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit blieb an allen Universitäten und Hochschulen ein Randthema, es wurden zwar an mehreren Orten Gedenktafeln o.dgl. angebracht, aber eine wirkliche Würdigung der Opfer geschah nur in Ausnahmefällen, etwa in Leipzig mit Natonek, in Rostock mit Esch oder jüngst in Berlin mit Biermann.
Dazu passt übrigens auch, dass an allen ostdeutschen Hochschulen in der geschichtswissenschaftlichen Lehre Angebote zur DDR immer marginal blieben und seit Jahren rückläufige Tendenzen aufweisen, was unübersehbare Folgen für den künftigen Geschichtsunterricht haben dürfte.
Auch wenn man sich die neueren jüngsten Uni-Gesamtdarstellungen anschaut, wird man feststellen müssen, dass dieser Teil der Universitätsgeschichte meist eher zum ungeliebten Anhängsel zählt. Die Universität Jena bildet hier mit ihren zwei voluminösen Bänden eine große Ausnahme, viele Hochschulen können gar nichts Eigenes zu dieser jüngsten Vergangenheit aufweisen.
Wenn man nun fragt, warum dies eigentlich so lief, dann muss man auf eine Legende hinweisen, die die meisten nicht einmal im Ansatz als Legende erkennen, weil vermeintliche Zahlenkolonnen und Statistiken über die personelle Erneuerung der Hochschulen eine andere Sprache sprechen. Denn es herrschte in den Hochschulen sowohl in den Verwaltungen wie in der Hochschullehrerschaft (in der Studentenschaft ohnehin) eine erstaunliche Kontinuität, die auf den ersten Blick mit personellen Austauschprozessen und Überprüfungen auf MfS-Mitarbeit nicht einleuchtet. Ich führe dafür nun ein ganz konkretes Beispiel an, um zu veranschaulichen, wie die Verdrängungsallianz und das Schweigekartell funktioniert, warum in Verwaltung, Hochschullehrerschaft, Ministerialbürokratie und der Studentenschaft eine offene, ehrliche und radikale Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit auf wenig Gegenliebe stieß in all den Jahren. Mein folgendes Beispiel betrifft einen Mann, der nach 1989 eine ganz erstaunliche Karriere in Wissenschaft und Politik machte, ohne dass offenbar seine kommunistische Vergangenheit bekannt war oder eine Rolle spielte.
Ein Beispiel
An der Universität in Halle reichte im September 1981 ein 27jähriger Deutschlehrer — seit 1978 war er dort Forschungsstudent — erfolgreich eine Dissertation mit dem Titel "Über den Zusammenhang von Studienmoral und studentischer Selbsttätigkeit — eine hochschulpädagogische Untersuchung“ ein. In dieser Arbeit wimmelt es nur so von Zitaten kommunistischer Funktionäre wie Erich Honecker, Margot Honecker, Kurt Hager oder Egon Krenz — und zwar nicht nur im Vor- und Nachwort, sondern in den gesamten über 200 Manuskriptseiten. Diese Arbeit ist von der ersten bis zur letzten Seite dem Marxismus-Leninismus verpflichtet.
Das Anliegen der Arbeit besteht darin, hochschulpädagogische Empfehlungen vorzulegen, wie kommunistische Erziehung und Indoktrination der Studenten "noch“ effektiver und erfolgreicher gestaltet werde können. Dabei reiht der Autor eine ideologische Plattitüde, wie man sie tagtäglich in den DDR-Zeitungen vernehmen konnte, an die andere. Z.B. nennt er folgenden Satz eine Hypothese: "Der Begriff der sozialistischen Studienmoral ist unter Anwendung von Erkenntnissen aus der marxistisch-leninistischen Ethik einer hochschulpädagogischen Bestimmung und Analyse zugänglich und lässt sich auf diesem Wege mit Gewinn für die hochschulpädagogische Theorieentwicklung darstellen.“ (S. 6)
Oder: "Weltanschauung und Moral vermitteln den arbeitenden Menschen die geistig-praktische Orientierung, die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, sie bewusst in ihrem Handeln und Verhalten zu verwirklichen und ihre persönlichen Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen in Einklang zu bringen.“ (S. 13) Die m-l Weltanschauung sei die einzig wissenschaftliche und enthalte "ein System von Verhaltensorientierungen, Idealen, Prinzipien und Werten, die sich aus dem Wissen über die Welt und die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung ergeben.“ (S. 14) Die "sozialistische Moral“ sei im SED-Programm zutreffend definiert, die Interessen der Herrschenden decken sich mit denen aller anderen (S. 15). Dabei komme es darauf an, die sozialistische Moral "zielgerichtet und planmäßig zu stimulieren“ (S.31) In der DDR sei Erziehung — der Autor ist Erziehungswissenschaftler — "ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Weltanschauung und Moral“ (S. 33) Der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft bedürfe sozialistischer Persönlichkeiten (S.33-34), wofür die m-l Pädagogik diene. Die Hochschulen in der DDR haben die wichtige und richtige Aufgabe, kommunistische Kader auszubilden (S. 39) Ausführlich geht der Autor auf die FDJ ein, die ihm als wichtigste Organisation gilt, um die Studenten zu sozialistischen Persönlichkeiten auszubilden (S.66-78). Im Zentrum müsse das Kollektiv, nicht das Individuum stehen (S. 85).
So geht das mehr oder weniger über 200 Seiten lang (Eine wissenschaftlich peinliche Studentenbefragung lasse ich hier mal unberücksichtigt, obwohl es auch dazu sehr viel zu sagen und mit Blick auf die Diktaturbedingungen zu fragen gäbe.).
Acht Jahre später, im Februar 1989, reicht der Autor seine Dissertation B an der Uni Halle ein. Die trägt den Titel: "Akademisches Ethos und Hochschulpädagogik — eine Studie zu interdisziplinären theoretischen Grundlagen der moralischen Erziehung an der Hochschule“. Ganz typisch für DDR-Verhältnisse liegen die Themen der Graduierungsarbeiten sehr eng beieinander. Und auch sonst hat sich der Autor nicht entwickelt. Offenbar unbeeindruckt von den Entwicklungen in den achtziger Jahren legt er wiederum eine marxistisch-leninistische Propagandaschrift vor, die einzig und allein der Stützung und Stabilisierung der SED-Herrschaft dient.
Uns begegnen hier — heute würde man sagen — politikberatende Ausführungen, die die kommunistische Herrschaft auf Dauer absichern sollen. Selbst die Sprache klingt, als käme sie aus einer ZK-Abteilung. Wiederum geht es um die moralische Erziehung als Teil der kommunistischen Erziehung (S. 3). "Das aktuelle Anliegen der moralischen Erziehung an der Hochschule besteht in der Ausprägung und Fortpflanzung eines dem Sozialismus gemäßen Ethos der Hervorbringung, Vermittlung, Aneignung und Nutzung von Wissenschaft zum Wohle der Gesellschaft in Einheit mit der harmonischen Persönlichkeitsentwicklung der Studenten, das sich als spezifische Form der Realisierung und Neuschaffung gesamtgesellschaftlicher, sozialistischer Moral im Hochschulbereich entwickelt und bewährt.“ (S. 9)
Ich könnte Ihnen von den weit mehr als 260 Seiten praktisch Seite für Seite vorlesen — das ginge unentwegt so. Aber anders als 1981 geht der Autor nun doch noch ein paar Schritte weiter. So weist er darauf hin, ganz auf SED-Linie: "Entsprechend erscheint es auch für unsere exemplarische Auseinandersetzung mit einigen für die Thematik wesentlichen Aussagen bürgerlicher Philosophie, Ethik und Pädagogik unerlässlich, 1. sich nicht nur mit den Positionen Andersdenkender bzw. des (potentiellen) Gegners auseinanderzusetzen, sondern … zugleich Positionen und Absichten im Klassenkampf erkennen lassen, die es aufzudecken gilt…“ (S. 21) Man muss sich nur verdeutlichen, in welchem historischen Kontext der Autor den Begriff "Andersdenkende“ benutzt.
Der Hochschulpädagoge erklärt zudem, dass es Autonomie, Unabhängigkeit und Freiheit unter kapitalistischen Bedingungen nicht gebe, man solle nur einmal die 50 Millionen Arbeitslose und 300 Millionen ohne Vollbeschäftigung anschauen (S. 27). Das "Kommunistische Manifest liefert die jenes Weltmodell konstituierende theoretischen Grundlagen der künftigen Gesellschaftsentwicklung“ (S. 41-42) für die gesamte Welt, klärt er weiter auf. Das wird viele Seiten lang ausgeführt und leninistisch begründet. Unfreiwillig komisch mutet in diesem Zusammenhang seine Erklärung, optimistisch könne nur sein, wer — wie unser Autor — eine leninistische Weltanschauung habe (S. 58-59). Er erklärt auch, dass man "noch besser“ (typisches SED-Deutsch) die "Vorzüge der sozialistischen Gesellschaft“ darstellen müsse (S. 61). Hier haben die Hochschulen eine besondere ideologische Aufgabe (S. 66). Nur im Sozialismus/Kommunismus könne sich Wissenschaft auch moralisch entfalten (S. 97). Hochschulpädagogen haben mit dafür zu sorgen, dass die Hochschulabsolventen künftig den Sozialismus an leitender Stelle vertreten und noch besser machen (S. 99).
"Aus der Sicht der marxistisch-leninistischen Philosophie und Ethik“ — wozu sich unser Autor hinzurechnet — "wird die Wahrheit erst in Verbindung mit den gesellschaftlichen Zielen, um derentwillen sie zu ergründen ist, zum Wert.“ (S. 136) Wahrheit ist also mal wieder klassen- sprich herrschaftsgebunden. Wahrheit bleibe dem Wissenschaftler sogar "unzugänglich, wenn er sich von der gesellschaftlichen Praxis abwendet“ (S. 137) "Verantwortung des Wissenschaftlers im Sozialismus wie überhaupt der sozialistischen Intelligenz ist immer zugleich auch Bündnisverantwortung gegenüber der Arbeiterklasse, die als führende revolutionäre Kraft den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreibt und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik im Interesse des Friedens und zum Wohl aller Werktätigen mit den humanistischen Idealen der Arbeiterbewegung verbindet.“ (S. 142) Nur im bestehenden Sozialismus sei "reale Freiheit“ garantiert (S. 149, 151)
Ausführlich lässt sich dieser Hochschullehrer über "akademische Freiheit“ aus, die ihm wenig Wert ist, wie auch, da er seine Ketten ja nicht spürt. Nur wer die marxistisch-leninistischen Gesellschaftsgesetze anerkenne und ihnen zum Durchbruch verhelfe, könne frei und in Freiheit leben (S. 161). "Freiheit“ ohne Sozialismus sei eine Illusion (S. 163). Nach einem peinlichen historischen Exkurs stellt er klar, dass erst nach 1945 und nur in der SBZ/DDR "akademische Freiheit“ wirklich in den Hochschulen einzog. Dafür sei die kommunistische Hochschul- und Bildungspolitik verantwortlich, die allen den Zugang zur höheren Bildung ermögliche — eine bis heute umgehende Legende.
"Damit ist das überlieferte Prinzip der <akademischen Freiheit> im dialektischen Sinne <aufgehoben> und unter Bewahrung seines humanistischen Ideengehalts aus seiner bisherigen bürgerlich-liberalen Begrenztheit geführt worden. So kann bis heute der Anspruch auf ‚akademische Freiheit’ nur unter der Voraussetzung auch als sittlicher Wert der sozialistischen Universität gelten und fortbestehen, wenn die höchsten Bildungsstätten allen Menschen“ — wie in der DDR angeblich — "offen sind und als gesellschaftliche Instanz auch eine Gewähr für die Befreiung der Gelehrten selbst von sozialer Isolation und elitärem Bildungsdünkel bieten, an deren Stelle die bewusste und freiwillige Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung tritt.“ (S. 212) In der DDR ist historisch erstmals eine "sittlich-aktive Synthese von Freiheit und Verantwortung des akademisch Gebildeten in der Gesellschaft eröffnet“ worden (S. 212). Von hier aus ist es dann für den Ideologen nur noch ein kleiner Schritt zur These, nur die sozialistische Universität könne Hochschulautonomie vorweisen (S. 214), was selbst in seiner SED-Argumentation schräg und unlogisch ist.
Ich habe Ihre Geduld überstrapaziert, auch dieses Manuskript bietet Seite um Seite lediglich solche ideologischen Einpeitscherparolen. Lassen Sie mich als letztes erwähnen, dass Albert Einstein oder Fritz Haber — neben echten Kommunisten — in dieser Lesart zu sittlichen Identitätsstiftern des sozialistischen Wissenschaftlers und Universitätslehrers mutieren (Anmerkungen, S. LII, Nr. 99), dass Honecker und Lenin besonders häufig zustimmend zitiert werden — was in den achtziger Jahren an Universitäten anders als an SED-Parteieinrichtungen bei Dissertationen außerhalb von Vor- und Nachworten gar nicht notwendig war — und insbesondere beständig Freiheit ohne Sozialismus als historisches Unding hingestellt wird (bes. einprägsam in Anm. 71, S. XLIII, wo marx.-lenin. Freiheitsbegriff und "praktische Wirklichkeit“ im Gegensatz zur "bürgerlichen“ Auffassung abgehandelt und abgefeiert werden).
Und dass der Autor auch antiamerikanische Klischees nicht unberührt lässt, offenbart er eindrücklich in seiner Schlussbetrachtung. Er berichtet von einem "Kernwaffen-Forschungszentrum“ in Kalifornien, wo "hochbegabte junge Leute … Tag und Nacht bei Rockmusik am Computer sitzen, über ihre Terminals lasergebündelte Raketenangriffe aus dem Weltraum simulieren oder im Laborexperiment hochkomplexe Abwehrsysteme testen. Wer sind diese jungen Männer in Jeans und Joggingschuhen, die sich, sozial isoliert und von Popcorn und Cola lebend, der ‚Wissenschaft pur‘ verschrieben haben und in ihrer Faszination gänzlich der Selbsttäuschung erlegen sind, moralisch nichts Fragliches zu tun, sondern einzig der Erkenntnis zu diesen?“ (S. 263) Hier liege eine "Fehlsozialisation“ (was sogar vom Begriff eher unsinnig ist, weil dieser auf den konkreten gesellschaftlichen Kontext abhebt!) (ebd.) vor, die jungen Leute betrieben Wissenschaft ohne Moral und würden ihren Sinndefizit nicht einmal reflektieren. Im Sozialismus sei dies ganz anders. Und damit dies so bleibe und immer, immer besser werde, gibt es die marxistisch-leninistische Hochschulpädagogik und ein von Marxismus-Leninismus geprägtes akademisches Ethos — und letztlich, muss man wohl hinzufügen, solche Ideologen wie diesen Autor, die dies in die Gesellschaft und die Studentenschaft einpflanzen.
Der Autor hat zu den beiden Dissertationen flankierend etwa ein Dutzend Artikel in diesem Tenor bis 1989 publiziert. Er war offenbar in keiner Partei Mitglied.
Ich musste Ihnen das so ausführlich vorstellen, weil die Geschichte eigentlich erst jetzt, also nach 1990 losgeht. Denn anders als man erwarten könnte, wurde der Autor 1992 Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Halle — ohne dass er weitere einschlägige Arbeiten publiziert hätte. In den neunziger Jahren hat er dann u.a. einige Aufsätze zur DDR-Pädagogik publiziert. Ich erspare Ihnen das und weise nur darauf hin, dass er sich — ziemlich verständlich m.E. — für eine "behutsame“ Aufarbeitung aussprach (1994, S. 318) und in seinen Arbeiten von ideologischer Indoktrination nichts zu lesen ist (Enquete 1999). Er hat sich nie selbstkritisch mit seinen Werken bis 1989 öffentlich auseinandergesetzt.
In einem Interview, das am 20. April 2010 in der "Welt“ abgedruckt worden ist, kann man nun folgende Selbsteinschätzungen lesen:
"Wir sind behütet aufgewachsen, in einem ‚privaten Sonnenstaat‘ von der Außenwelt abgegrenzt. … Wir durften als Zwölfjährige bereits mit dem Vater gemeinsam die Westnachrichten im Fernsehen verfolgen. Es war klar, dass dies nicht in die Schule gehörte, sondern in den eigenen Kopf, zum Vergleichen und zum Austausch. Dadurch haben wir von vornherein gelernt, uns in dieser Doppelwelt zu orientieren, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren. Frühzeitig haben wir zu unterscheiden gelernt, auch die ganze Subtilität und Doppelbödigkeit der Sprache zu erkennen.
Die Welt: ‚Die Freiheit des Denkens zu erlangen durch die Fähigkeit, darüber zu schweigen?‘
Durch Schweigen einerseits, aber andererseits auch durch geschicktes Manövrieren, durch das Herausfinden einer Art, sich zu artikulieren, die verstanden wurde, aber trotzdem auffällig anders war, aber nie offen konfrontativ, denn das wäre nicht gut gegangen. Da die Balance zu halten, ohne in einen billigen Opportunismus zu verfallen, darin verdanken wir unseren Eltern sehr viel. (…) Es hat mich furchtbar deprimiert, diese Einschränkungen von Freiheit im ganz individuellen Sinne: nicht reisen zu dürfen, nicht lesen zu dürfen, was man lesen wollte, und das Gefühl zu haben, sich in einer vom Staat vorgezeichneten Bahn zu bewegen, von der keine Möglichkeit des Abrückens und der Abweichung gegeben war. Der DDR weine ich jedenfalls keine Träne nach. Aber meine Kindheit und Jugend in diesem Staat haben mich gelehrt, genau hinzuschauen und hinzuhören, Freund und Feind auseinander zu halten.
Die Welt: ‚Die in der Kindheit erlernte Freiheit des Denkens war Ihnen geblieben.‘
Die war für mich schon früh außer Gefahr, die war manifest, die hatte ich erlernt und die habe ich gelebt. Ich habe mich immer mit dem Thema Freiheit auseinandergesetzt. Im Studium der Philosophen und in der Familie als wiederkehrendes Gesprächsthema. Freiheit ist ja nicht ein Zustand der Bindungslosigkeit und des freien Spiels, sondern Freiheit ist immer mit Verantwortung verbunden, und Freiheit bedarf der Reflexion. Freiheit muss man gestalten, es ist immer Freiheit zu etwas und nicht simpel Freiheit von etwas — das ist ein Schleiermacherscher Gedanke, der mir sehr gefällt.“
Er lässt dieser Leser auch noch wissen, dass er Angst hatte, was wenig nachvollziehbar ist, seine Dissertation B würde nicht angenommen werden. In der "taz“ stand am 19. April 2010 über diesen Mann, er erwecke den Anschein, als wäre er systemkritisch oder halbe Opposition zur DDR gewesen. Nach solchen Einlassungen wie in dem Welt-Interview muss man sogar sagen, er arbeitet beharrlich an diesem Image.
So wissenschaftlich (und politisch) absolut unverständlich es ist, dass Jan-Hendrik Olbertz — dass ist der Name des Mannes — mit diesen ideologischen Machwerken in Halle 1992 eine Professur erhielt, so erstaunlich ist doch auch, dass er seit 2002 Kultusminister in Sachsen-Anhalt ist, seit 2005 im Präsidium des Evang. Kirchentages sitzt, 2003 für einen großen amerikanischen Konzern tätig war und nun im Oktober 2010 Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin werden wird.
Wie sollte von so einer hochgestellten Persönlichkeit eine Initiative zur offenen, ehrlichen und radikalen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit der ostdeutschen Hochschulen ausgehen können, wenn er selbst über sich schweigt? Ja, dass, was er in der "Welt“ über sein Tun in der DDR sagte, kommt einer, schmeichelnd ausgedrückt, Beugung der Wahrheit nahe. Um es unmissverständlich zu sagen: Es ist gar nicht das eigentliche Problem, was Olbertz bis 1989 in der DDR an ideologischen Albernheiten abließ und dafür auch noch mit Doktortitel, Lehrbefähigung und im wiedervereinigten Deutschland mit einer Professur belohnt wurde. Entscheidend für unseren Kontext ist der Umgang damit in den letzten 20 Jahren. Durch dieses Schweigen und die Beugung von Tatsachen werden Aufarbeitungswillen behindert und gehindert. Wer aber in solche Positionen drängt wie Olbertz, sollte schon aus — einem Lieblingswort von ihm — moralischen Gründen nicht schweigen, sondern aufklären. Freiheit beginnt mit der Einmischung in die eigenen Angelegenheiten — und dazu gehört die Vergangenheit, zumal die eigene, nun einmal dazu.
Aber nicht nur das: man fragt sich natürlich, ob denn nie jemand an der Universität Halle in der Berufungskommission — wenigstens die hat es doch hoffentlich gegeben? —, nie jemand in der anhaltinischen Regierung, nie jemand beim Kirchentag und nie jemand an der Humboldt-Uni genau hingeschaut hat, wen man sich da ins Boot holt — seine beiden Dissertationen sind öffentlich jedem zugänglich. Durch sein Schweigen über seine Haltung und sein Tun bis 1989 hat er überdies die Chance vergeben, sich von diesen, von ihm selbst vertretenen SED-Haltungen zu Freiheit, Verantwortung, Kommunismus, Erziehung, Marxismus-Leninismus usw. öffentlich loszusagen. Es gibt ein Recht auf Irrtum, aber diesen muss man eben als öffentliche Person in der Öffentlichkeit auch selbst benennen. Insofern müsste man ja davon ausgehen dürfen, er habe sich von nichts zu distanzieren, habe keine Irrtümer und ideologischen Blindheiten einzuräumen, was ja dann hieße, er vertrete diese kommunistische Ideologie insgeheim noch immer. Da kann man der Humboldt-Universität zu Berlin ja nur noch hinüberrufen: Na dann, herzlichen Glückwunsch zu dieser überwältigenden Konzilsentscheidung bei der Präsidentenwahl und alles Gute bei der weiteren Aufarbeitung der Vergangenheit in der kommunistischen Diktatur!
Ich jedenfalls sehe in solchen Entwicklungen und Kontinuitäten — wobei die Haltung Westdeutscher dazu noch ein anderes Thema wäre — und im Schweigen darüber eine zentrale Ursache dafür, warum die Universitäten und Hochschulen sich nur so zögerlich und nur in Ausnahmefällen konsequent, offen und ehrlich mit ihrer kommunistischen Vergangenheit auseinandersetzen. Und das Beispiel zeigt übrigens auch, dass die Fixierung auf MfS-Mitarbeit, Parteimitgliedschaft, formale Funktionen wirklich zu kurz greift. Jan-Hendrik Olbertz ist dafür ein Beispiel, aber nur eines unter sehr vielen.
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