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Nachrichten aus Ambivalencia von Günter Kunert 2001


26.2.1985

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79  Das völlige Fehlen von Demut bei Kommunisten macht sie fortwährend unglaubwürdiger: Da sie immer noch alles zu wissen vorgeben in einer Epoche, in der das gesamte Wissen, weil als rein instrumental erkannt, fragwürdig wurde, erscheint der behauptete Besitz eines unrelativierbaren Wissens von der Gesellschaft und somit vom Menschen grotesk. Freilich handelt es sich bei diesem Anspruch um keinen Scherz, da er ja mit Macht, sogar mit Gewalt dort aufrechterhalten wird, wo die entsprechenden Machtmittel zur Verfügung stehen - was weniger auf philosophische als auf triviale Weise dieses Wissensdogma widerlegt.

80  Das Wunder des Lebens hat sich reduziert auf das Wunder des individuellen Überlebens.

81  Die Zeitungen sind voller Kryptogramme; wohl dem, der sie entschlüsseln und beizeiten Vorsorge treffen kann.

82  Er ist ausgeschieden, ist ausgeschieden worden; von jemandem gesagt, der zwangsweise (oder eben auf »natürliche« Weise) den Sozialkörper verlassen mußte. Vielleicht fühlt sich auch darum der Ausgeschiedene als letzter Dreck der Gesellschaft. Die Sprache hat ihm ja seinen fäkalischen Status schon mitgeteilt.

84  Jemand, der vom Zentralcomputer immer schlimmere Auskünfte über sich selber erhält, gegen immer höhere Zahlungen versteht sich; darum muß der Jemand, im Wahn, sich vorbeugend schützen zu müssen, ständig nach weiteren Neuigkeiten und Informationen über sich forschen - und um sich das leisten zu können, muß er nun tatsächlich kriminell werden, was die Mitteilungen über ihn noch schlechter werden läßt.

85  Marx als Arbeiter im Weinberg der strikten Kausalität.

86  Die Deutschen hatten ihr Schicksal unter den Auftrag der Geschichte gestellt - wie kein anderes Volk. Und sie sind auch an ihr, dieser irrationalen Macht, gescheitert wie kein anderes.

87  Zerebrale Veränderungen bei Katzen. Die alte Katze, kindisch werdend, trägt wieder das Fleisch vom Teller fort, um es »in Sicherheit« zu bringen und dann erst zu fressen.

88  Blinde, die einen Sehenden blenden: Modell des primären gesellschaftlichen Mechanismus, der die Gesellschaft erhält und zugleich zur Selbstzerstörung verurteilt.

89  Rückwirkende Gesetze, welche Leute für etwas verurteilen, das so weit zurückliegt, daß die Verurteilten sich dessen gar nicht mehr erinnern können.

90 Die mythischen Gestalten sind in vieler Hinsicht unvollkommen, bis auf das Moment ihrer mythischen Existenz: Das ist ihre Stärke. Wären sie vollkommen, wären sie auch tot, da Vollkommenheit Tod bedeutet, Starre und Leblosigkeit.

91 Mythos der Maschine: Ob nicht unsere Überzeugung von der Megamaschine ebenso mythisch ist wie das Leben, wie die Dinge und Monstren in anderen Mythen, und nur unser Verständnis, unser Verhalten bestimmend ?

92  Fernsehen: Die »falsche« Historisierung und damit Mythisierung der Welt.

93 Die Strafe für verbotenes Wünschen ist die prompte Nichterfüllung. Oder die verkehrte Erfüllung. Jemand verläßt seine Frau für eine andere, doch im Augenblick der neuen Erfüllung verliert er seine Potenz.

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94 Prometheus: Qualen: der modernisierte Adler erscheint als Gespenst des versäumten Lebens. Und Prometheus muß in verschiedenen, depravierten und geknechteten Gestalten umherschweifen. »Eintagskinder«!

95  Mein Name sei Analy Sand.

96  Ob nicht die Männer ihre eigene, zu verbergende Schwäche immer auf die Frauen projiziert haben? Ob nicht ihre irrationale Wehrhaftigkeit, ihr Kämpfertum aus dem Zwang resultierte, sich ständig eine Stärke vormachen zu müssen, die im Grunde gar nicht gegeben war ? Eine Frage für die Liste der unbeantwortbaren.

97  Sie wollen Schriftsteller werden ? Bringen Sie sich in eine aussichtslose Lage, und Sie werden merken, wie Ihnen plötzlich Kreativität zuwächst.

98 Im Fernsehen, besser in den Fernsehfilmen und -spielen, erscheinen nur die Highlights des Lebens, innere wie äußere: Man verliebt sich, versöhnt sich oder wird ermordet. Niemals wird die gelebte Redundanz sichtbar - die vermutlich auch gar nicht darstellbar ist. Dennoch wird das scheinhafte Leben mit jenem, das man so niemals zu führen vermöchte, verwechselt. Die subjektive Langeweile ergötzt sich an den Bildern konzentrierten Daseins und würde durch die Vorführung seiner selbst entweder noch gelangweilter sein - oder verstört über die Wahrheit der eigenen Nichtigkeit.

99  Geschlechtsumwandlung: Ein Mann in der DDR will sich operativ zur Frau umwandeln lassen, um fünf Jahre früher aus dem Lande ausreisen zu können. Ist zwar noch nicht geschehen, aber - da die Sehnsucht nach Welt der Verzweiflung entspricht, in einem reziproken Prozeß - durchaus denkbar. Wir werden vielleicht bald von solchem Fall hören.

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100  Bei Flugzeugentführungen akzeptieren wir Wahrheitsfanatiker es ohne weiteres, daß die Entführer belogen und betrogen und oft zum Schluß niedergeschossen werden.

101  Die Götter konnten sich Dummheit leisten, weil sie unsterblich waren.

102  Zur Ethik des Schriftstellers: Gibt es denn eine, die ihn über den Bereich des Schreibens hinaus zu irgendeinem Verhalten verpflichten würde? Ist ihm nicht alles erlaubt - außer schlecht zu schreiben ?

103  Ist nicht die Neigung des Schriftstellers zur Utopie, zur friedfertigen, zur »humanen« Gesellschaft der Ausfluß seines eigenen Verlangens, der inneren, kreativitätsbedingenden Spannung zu entgehen ?

104  Absinken der kulturbildenden Kraft: Weil Kultur immer unnotwendiger wird, denn ihre Aufgabe, uns von der Natur abspaltend zu distanzieren, ist so ziemlich erfüllt. Wir sind der Natur schon dermaßen fern und ihr fremd geworden im Laufe der Jahrhunderte, daß es keines künstlichen, kunstvoll hergestellten Ab-standes mehr bedarf.

105  Der Mensch hat seine natürlichen Feinde verloren - außer Ehefrauen und Politiker.

106  Erst wenn die Wunder geschehen und vorüber sind, wissen wir, daß es Wunder waren.

107  Der einzige Mut, den man noch hat, ist der Wankelmut.

108  Seitdem auch die Bäume umgebracht werden, schließt ein Gespräch über sie kein Schweigen über Verbrechen mehr ein.

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109 Eindringen von Videokassetten in den Buchhandel: Eines Tages stehen in den Regalen keine Bücher, und der Mangel an großen literarischen Werken stammt aus dem geheimen oder schon gar nicht mehr so geheimen Wissen vom Überwältigtwerden des geschriebenen Wortes durch ein anderes, »brutaleres« Medium.

110 Sloterdijk hat den historischen Entwicklungsmoment des »kynischen Bewußtseins« verkannt, wie mir scheint: Dessen Rückkehr oder Wiederbelebung hinge unauslöslich mit der Rückkehr frühantiker Verhältnisse zusammen - undenkbar also. Aber auch Sloterdijks »zynisches Bewußtsein« ist ebenfalls nur das Produkt eines geschichtlichen Augenblicks; wollten wir jedoch seine Denunziation dieses Bewußtseins als ein der Herrschaft eigenes, den Herren vorbehaltenes für richtig halten, müßten wir, da das zynische Bewußtsein sich wie Buschfeuer ausbreitet, daraus schließen, daß die demokratischen Verhältnisse es sehr vielen Leuten gestatten, sich als Herren zu fühlen oder doch den Herren und Herrschaften ähnlich zu sein. Oder Sloterdijks Hypothese ist falsch, was ich als das Wahrscheinlichere annehme.

111 Ein Fälscher, der, analog zu Kujau und seinen Hitler-Tagebüchern, die Aufzeichnungen einer aktuelleren weltgeschichtlichen Persönlichkeit fälscht - wobei zu seiner großen Verwunderung seine Fälschung am Ende durch die Wirklichkeit bestätigt wird.

112 Die »beispielgebende« Moral: Wie man früher auch nur bedingt die Zehn Gebote beachtete, so folgt heute niemand den moralischen Geschichten im Fernsehen. Jeder ist jedoch durch die Inaugenscheinnahme höchst befriedigt, weil die extensiv exemplifizierte Moral von der eigenen Mühe befreit, die als durch andere vollzogen vorgetäuscht.

114 Heute schon erscheint uns die noch recht nahe Vergangenheit wie ein Märchen. Hundert Jahre zurück liegt eine Menschheit, die wir uns nur noch anläßlich ihrer Verarbeitung im Film dementsprechend falsch vorstellen können.

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115  Mit der Unheimlichkeit eines Wiener Walzers: Heißt, daß jene anscheinend fröhliche Harmonie wie ein Vorhang wirkt, hinter dem das Unsägliche, Befürchtete vollstreckt wird. »Wiener Blut« klingt mir dermaßen hochmütig-mörderisch in den Ohren, daß ich die danach Tanzenden nicht begreife.

116 Ich lebe in einem Abbild des Universums, nicht im Universum selber. Wir alle nicht, weil wir uns das verbotene Bild gemacht haben, das uns überwältigte und unsere Vorstellungen und Phantasien für immer band.

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117  Es gibt Dinge, vor denen man sich sagt, das siehst du vielleicht zum letzten Male in deinem Leben. Nachdem man in seiner Jugend sie zum ersten Male gesehen hat.

119  Die Selbstreinigungskraft des Menschen ist erloschen.

120  Das Fernsehen als Herrschaftsinstrument erfindet und präsentiert Katastrophen und Bedrohungen, um somit beim Zuschauer Einverständnis, wenn auch ein säuerliches, mit den gegebenen unbehag­lichen Umständen zu schaffen. Die bildliche Politik des kleineren Übels, dessen wachsende Größe verdeckt werden muß.

121  Die wachsende Vermenschlichung der Dinge bei zunehmender Verdinglichung der Menschen. Welche Beziehungen bestehen zwischen den - im Benjaminschen Sinne - sprechenden Gegenständen und der fortschreitenden Entfremdung, welch letztere übrigens so umfassend sein muß, daß der sie bezeichnende Begriff in der Öffentlichkeit nicht mehr auftaucht. Keiner redet von dem, was alle betrifft.

122  Das Gedicht ist eine Erregung des Nervensystems.

123  Mit den Fernsehfigurenstimmen im Nebenzimmer kommt die Wärme ins Haus: fatalerweise.

124  Die Wahrheit muß überarbeitet werden. Weil sie ihre Gedanken nicht zu Worte kommen lassen.

125  Da das Individuum vorgibt, anders zu sein, als es ist, wird sein Leben »inauthentisch«. Das ist der Kern der menschlichen Entfremdung (sagt J.-J. Rousseau).

126  Die Kominternsitzungen endeten immer mit Beifall und Durchfall.

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127 Jede Haltung, die man einnimmt, droht zur Pose zu erstarren.

128 Liebe zu Gegenständen ist leichter, aber teuer.

129 Eine Wunde aus Kunststoff als Zugehörigkeitszeichen. Für die Nachkommen von Guerilleros vielleicht ...

130 Sisyphos erhält Arbeitslosenunterstützung, nachdem er den Stein ans Ziel gebracht hat.

131 Abenteuer finden heutzutage nur noch in Körperöffnungen statt.

132 Die Neurosen, die als Auswirkungen des Kapitalismus angesehen werden, gab es von jeher, nur wurden sie vor Freud nicht als solche bezeichnet und damit zu Krankheitssymptomen erklärt - sie durften sich noch unreflektiert transformieren und maskiert in Erscheinung treten, bei den Herrschern wie bei den Beherrschten: Als Würde oder Eitelkeit, Ignoranz oder Intrigentalent, als Begabung zur Kabale oder zur Liebe und zu vielem mehr. Als Fehlfunktion denunziert und eifrig therapiert, bleibt wenig Antrieb oder Motorik für unsere Begabungen übrig. Darum sind sie auch so zwergenhaft. Soweit ein Notat zur linken, »kritischen« Theorie vom Kranksein durch Gesellschaft. Insofern ist diese Theorie nicht besser oder analytischer als das billigste Konformitäts-Denken, das in allem Abweichenden nur einen Defekt zu erkennen vermag und nicht die notwendige Reaktion auf Zustände, die zwar modifiziert, jedoch als gesellschaftsbedingte nie aus der Welt geschafft werden können.

133 Geschichte eines Mannes, der, weil er todkrank ist, die Wahrheit zu sagen beginnt - welch Entsetzen, als man ihn kuriert und er mit seiner Gesundung und den Folgen seiner Offenheit rechnen muß.

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134 Den fast hundert Jahre alten Staub aus den Augen reiben und sehend werden.

135 Warum Christen (die echten) meist schlechte Schriftsteller sind. Weil sie die innere Zerrissenheit als Voraussetzung jedes künstlerischen Schaffens leugnen und sich zu unfruchtbarer Harmonie zu zwingen suchen. Aber wer seinen Frieden in Gott findet, kann sich gleich mumifizieren lassen.

136 Das Nichts, so Erich Jantzsch, faltet sich am Anfang symmetrisch auseinander, um sich am Ende wieder zusammenzufalten, damit alles gewesen war. Wahrscheinlich sollte es richtiger heißen: Wie gewesen. Denn die Spurlosigkeit des verschwundenen Universums kennt keine Vergangenheit, sie versetzt das »Gewesen war« in den Zustand des Konjunktivischen: Als ob es gewesen wäre. Freilich dient auch der Konjunktiv dann zu nichts mehr.

137 »Symbolische Selbstrepräsentation« sei das Gedicht, las ich irgendwo, was dahingehend zu erweitern wäre, daß es sich beim Gedicht auch um eine symbolische Repräsentation unterschiedlichster Wirklichkeiten und epochenbedingter Geisteszustände handelt, die sich nicht auf das Selbst des Dichters beschränken.

138 Das Mißverständnis unserer Körper hält uns zusammen in einem langen Dialog.

139 Verbrechen werden durch Nichtverfolgung post festum gerechtfertigt.

142 Das ist noch keine neue Erotik, wenn sich Interessen berühren.

143 Warum Kothurn und Maske im antiken Theater? Damit das Wort frei erscheine, unbehindert und nicht zurückgedrängt von Mimik und »Körpersprache«?

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144 Sprachlogik ist unbedingt auch Funktionslogik. Unsere Sprache verpflichtet uns von Anfang zu jenem kausalen Denken, dessen technikbedingte »Engführung« uns auf den gegenwärtigen Punkt gebracht hat, der ein »Point of no return« ist.

145 Das byzantinische Erbe, ein ohnehin fragwürdiges, wie es uns die Nachfolge im alten und neuen Rußland gezeigt hat, ist schließlich im »Balkanismus« verkommen. Das, was die Politologie oder die politische Publizistik »Balkanisierung« nennt, ist zur Grundlage der Verhältnisse im Machtbereich der byzantinischen Erben geworden. Selbst die theokratischen Züge, die Erstarrung in Sprache und Kunst finden sich in der Gegenwart wieder.

146 Rätsel: Was für ein Land ist das, das Bürger ausbürgert oder einsperrt, weil sie das Ansehen des Landes, das seine Bürger ausbürgert oder einsperrt, herabwürdigen ?

147 Jemand wird vermittels einer Terminologie eingemauert: Die um ihn wachsenden Wände farbloser, gleichförmiger, nichtssagender Worte schließen ihn am Ende von der Welt ab, von der er und die von ihm nichts mehr erfährt.

148 Man spricht, beiläufig, sein eigenes Urteil, ohne es zu ahnen. Und ohne daß es ein anderer, welcher zur Warnung berufen wäre, merken würde.

149 Wo man für einen Witz eingesperrt werden kann, ist die heitere Muse eine traurige Person.

150 Wir gehen ins Potemkino, wo der Film das Leben ersetzt.

151 Ich und ich sind zweierlei.

152 Wird man mit einem ästhetischen Instinkt geboren, gegen den nach der Adoleszenz anzuagieren nötig ist, um aus diesem solchermaßen entstehenden Widerspruch Reiz, Lust und Anregung zu ziehen?

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153 Sie werden eines Tages keine Ewigkeit mehr vorfinden.

154 Wenn als ein Kennzeichen des Barock die ständige Präsens des Todes in Abbildern gilt, dann leben wir immer noch im 17. Jahrhundert. Nur erscheint jetzt Freund Hein in den Tagesnachrichten über Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze und Autounfälle, in den Kriminalfilmen als gewaltätiges Ende und in der Politik als militärischer Fachberater, um uns sein »Memento mori« zuzurufen, das sogleich als »Carpe diem« mißverstanden wird.

155 Ein Schlächtermeister ist verhaftet worden, was sagt man nur der Bevölkerung, die Wahrheit doch besser nicht, schließlich hat der arme Mann sich ja nicht bereichert, sondern es nur gut gemeint in jenem harten Winter, als die Fleischversorgung versagte; auch seine Frau hat nichts gewußt, da sie ihre alte Mutter besuchte, und er verarbeitete ja ungesäumt das Fleisch zu Wurstwaren, Sülze, Gehacktem, also nicht im Naturzustand zur Ansicht ausgelegt, so daß eigentlich niemand was wissen kann, freilich muß man den Mann bestrafen, milde, es liegt übrigens keine Vermißtenanzeige vor, und im Grunde hat der Mann nur seine Pflicht, nein, mehr als seine Pflicht getan, unter Hintanstellung persönlicher Bedenken eine krisenhafte Situation überwinden helfen, was doch alles auf Freispruch deutet.

156 Neue Prophezeiung: Eine amtliche Erniedrigung wird dir widerfahren.

157 Friedhofsbeamte verwalten die Lebenden. - Recht und Gesetz sind, jedenfalls in der DDR, ersetzt durch Wohlwollen und Unwillen, ergo: durch Willkür.

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158 Geschichte über einen Mann, dem dauernd »Unfälle« und »Zufälle« zustoßen, bis er merkt, wie wenig zufällig die Unfälle sind, sondern amtliche Inszenierungen, um seine Eigenwilligkeit, seine Selbständigkeit zu brechen und ihn als Rädchen ins Gesamtwerk zu integrieren.

159 Nach der biblischen Aufforderung, sich der Erde zu bemächtigen, scheint ein unbekannter Gott ausgerufen zu haben: Macht euch die Seele Untertan! Und wie es mit der Erde ging und geht, so wird längst die Seele kolonisiert, ausgebeutet, mit Pestiziden behandelt, flurbereinigt und am Ende als fruchtlose Brache sich selbst überlassen.

160 Eine schreiende Gleichgültigkeit.

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161 Das Aussichtslose ist ein Zierat.

162 Uniformierte und Uninformierte sind trotz des einen zusätzlichen Buchstabens meist identisch.

163 Evolution: Formierte - Uninformierte - Uniformierte.

165 In der Idee vom »Neuen Menschen« steckt die sichere Erkenntnis, daß das System ohne eine Veränderung der Leute versagen wird. Müssen wir jetzt nicht schlußfolgern, daß, da vom »Neuen Menschen« (in den sozialistischen Ländern) keine Rede mehr ist, das System sich als gescheitert betrachtet und seine Selbstunsicherheit daraus resultiert - oder ob es insgeheim sein ideologisches Modell aufgegeben und sich zu gestrigen Herrschaftsmethoden entschlossen hat, die keines gewandelten Menschenbildes bedürfen? Das sollte sich auch ein nichtlesender Arbeiter fragen.

166  Wenn sich die Ohren versammeln, stellt das Gras sich tot.

167  Tagediebe, die uns die Tage stehlen, indem sie uns regieren.

168  Geschichte von einem Mann, der seine gesamte Habe in Päckchen, Pakete und Kisten verstaut und wegschließt und seinen Besitz nur auf diese Weise genießen kann.

169  Geschichte von einem Zahnarzt, der während der Behandlung in seinem Patienten eine zweite Person entdeckt, mit der er in Kontakt tritt. Zuletzt verzögert er die Behandlung, ja, er schafft seinem Patienten künstlich Beschwerden, nur um immer wieder mit der versteckten Person eine wenn auch stumme Beziehung zu pflegen.

170 Einen Sinn erschleichen: Auf diese Weise suchen manche Menschen nach Lebensgewinn.

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171 Die durchaus erfreuliche Seite der »Identitätskrise« besteht darin, daß sie das Merkmal aufgehörter Rollenspiele ist. Früher wurde das Individuum durch Repression formiert und definiert; die Rolle im Leben entstand aus Zwängen, und noch in ihrer Ablehnung bildet man sie selber gegenbildlich ab. Nun sind die unfreiwillig getragenen Masken gefallen, und was sichtbar wird, erweist sich als Gesichtslosigkeit und erkrankt sogleich nach dem Blick in den Spiegel an »Profilneurose«.

172 Angestrebt war das Paradies. Nicht das Narrenparadies.

173 Unter dem Siegel der Verschwiegenheit gehen Geister um ...

174 Fortschritt: Die Mörder erlauben uns wieder, die Namen ihrer Opfer zu nennen.

175 Geschichte von einem Ehepaar, das sich dem Fernsehen derart anheimgegeben hat, daß es unaufhaltsam seinen Platz wechselt und zu einem im Fernsehgerät agierenden Ehepaar wird, während was vor dem Fernseher zurückbleibt, zu etwas ganz und gar Undefinierbarem geschrumpft ist. Übrig bleibt das gegenseitige, völlig fruchtlose Betrachten.

176 Girodoux: Der Mensch als Karyatide des Leeren.

177 Arbeiten für eine Welt, in der bloß gearbeitet wird ?

178 Der Mensch ist eine leicht widerlegbare Hypothese.

179 Viele Steine haben vergessen, daß mit ihnen Menschen gesteinigt wurden.

180 Titelsucht und Titelverleihung sind Zeichen der Schwäche und dienen der Stabilisierung von Individuum und Staat; beide setzen sich aus nichts weiter als Floskeln zusammen; wo diese fehlen, herrscht Unbestimmtheit, gegen die es anzugehen gilt. Und weil man hin und wieder Pilze ißt, entschließt man sich notfalls zur Ausrufung der Pilzokratie.

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181 Die Linke tendiert, wegen der Unerreichbarkeit eines Zipfels Utopie, zum Terrorismus oder zum Spießertum, manchmal sogar, jedenfalls dort, wo sie an die Macht gelangt, zu beidem gleichzeitig.

182 Entsinnlichung des Lebens und Sinnverlust des Daseins.

183 DDR: Geborgenheit - aber um welchen Preis. Unentwegt finden staatserhaltende Verbrechen statt, so daß der einzelne der Kriminalität nahezu enthoben ist.

184 Was ist schon an einer Wahrheit dran, die keine Wahrheit ist ?

185 Der real existierende Sozialismus und der real existierende Alkoholismus korrelieren miteinander.

186 Das ideologische Placebo kann keine Wirkung tun, weil jeder Therapierte weiß, daß es eines ist.

186a Ob das gegenwärtige magisch-ideologische Denken aus der späten und kurzen Christianisierung der Slawen herrührt ?

187 Bernardo da Silva Ramos, gest. 1931, entdeckte in einer zwanzig Jahre dauernden Dschungelexpedition zweitausendachthundert frühgeschichtliche Schriftblöcke, griechisch, phönizisch, in den Urwäldern Brasiliens, die sich später als Verwitterungsprodukte herausstellten. Leider hat dieses Beispiel immer weiter Schule gemacht - zumindest im politischen Dschungel.

189 Wir lebten (in der DDR) wie im Marionettentheater, wo Faust nicht enden will, keine Erde jemanden wiederhat und des Pudels Kern immer der letzte amtliche Beschluß ist.

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190 Je größer die Lügen, desto kleiner die Geister.

191 Erst glühender Patriot, dann völlig ausgebrannt.

192 Leichte Erschütterung beim Anblick von Tucholskys Handschrift: der meinen sehr ähnlich. Und warum (damals vom PEN-Kongreß) zurück aus Schweden mit diesem eigentümlichen Kopfzustand, mit diesem Schwindelgefühl - Mitbringsel aus Marifred ?

193 Das Leben braucht den ganzen Tag. Wie das Gedicht.

194 Wer Furcht sät, wird Haß ernten.

195 Die Absicht, jeden Irrtum zu vermeiden, ist selber ein Irrtum.

196 Sobald man den Dingen zu nahetritt, verlieren sie ihr Geheimnis - wie die Menschen. Alles und erst recht alles in der Kunst lebt von der und durch die Distanz.

197 Geschichte eines alten Menschen, der in ein Heim umziehen soll. Seine Wohnung brennt vorher ab, und es ist ungewiß, ob es sich um den Versuch einer Selbstverbrennung oder nur um Unachtsamkeit gehandelt hat, um Fahrlässigkeit, hervorgerufen durch die permanente Angst vor dem Umzug: Um unbewußte Selbstverbrennung also.

198 Und wenn er nicht Selbstmord begangen hat, dann ist er noch heute unter uns. Die Gesellschaft, und diesmal tatsächlich sie als Funktionskörper, verbietet, daß wir wieder Kinder werden, unglücklich glücklich und damit für die Gesellschaft unbrauchbar, da sie, in ihrem ewig abscheulichen Zustand, nur durch die allerunseligsten und ihrer Unseligkeit hohnsprechenden Geschöpfe aufrechterhalten werden kann: eine unschleifbare Bastille.

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199 Abspaltung eines Teils des Gehirns als Computer. Erneute Primitivisierung mit der Übertechnisierung, die nicht mehr verstanden wird. Eine Dominanz der technischen Kultur führt zu einem Rückgang der einstmals schon, wenn auch nur partiell erreichten geistigen Reife. Die um sich greifende Technik schafft ein Technischwerden der Kulturerzeugnisse, was, wie hier, schon die es behandelnde Sprache klarlegt: Action-Film, Musik, mechanisch-monoton, Kunstwerke wie Tangelys sich selbst genügende Maschinen, um nur wenige Beispiele zu zeigen, verändern das ohnehin nicht sehr ausgeprägte Reflexionsvermögen des Menschen und schwächen es weiterhin ab. Die schrumpfende Reflexion leitet stracks zu neuer Mythisierung. Vom Mythos der Geschichte gelangen wir zum Mythos der Technik, heute schon existent als unerschütterlicher Glaube an die technisierte Diagnostik und Therapie: Reparieren Sie mich bitte umgehend, Herr Doktor. So wenig wir die Geschichte »im Griff« haben und ihr Objekt sind und bleiben, so wollen wir heute die Technik nutzen, um uns aus ihrer Sklaverei zu befreien. Wir reden zwar davon, daß wir die Last und die zerstörerischen Folgen »alter« Technik abzulegen respektive durch neue Technik künftig zu vermeiden gedenken, doch handelt es sich wieder einmal um einen Sturmangriff auf den Olymp, den wir Kentauren, wir Mischwesen aus Fleisch und Eisen verlieren müssen, weil der Realitätsgehalt der Mythen ein sehr indirekter, sehr mißverständlicher ist.

200 Auch wer die Lüge selber nicht ausspricht, kann an ihr ersticken.

201 Die großen Worte gleichen schlechten Übersetzungen aus einer toten Sprache.

202 Es gibt Leute, die ihr Leben als Briefmarke beenden.

203 Der ganze Sozialismus ist ein Mißverständnis untergeordneter Stellen.

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204 Das Leben ist der Konsumgüter höchstes nicht!

205 Vielleicht ist Deutschland ein Land, das nur nach einer Katastrophe bewohnbar ist.

206 Beurteilt werden die Herrschenden nach den von ihnen zu verantwortenden Toten, nicht nach ihren Erklärungen und Reden.

207 Es gibt Länder, deren Hauptprodukte Märtyrer sind.

208 Erfahrung sammeln heißt: Zeit verlieren.

209 Ich bin kein Optimist, weil ich keine Sterbehilfe leisten kann.

210 Der sozialistische Fatalismus: so sollte im Grunde die dort drüben favorisierte Kunst genannt werden.

211 Die List der Vernunft besteht aus zwei weiteren Eigenschaften: Aus der Lust an ihr und aus ihrer Last. List, Last und Lust: die einsilbige Alliteration bedurfte nur einer ihnen beigeordneten Kategorie, eben der Vernunft, um über diese alles auszusagen. So denkt die Sprache für uns, wir müssen bloß hinhören.

212 Otto von Guericke: »Ein Beweis, der auf Erfahrung beruht, ist jedem Beweis auf Vernunftschlüssen vorzuziehen.«

213 Grundübel des soz. Systems: Daß es seine eigenen Versprechungen niemals erfüllen und nur mittels Repression als erfüllt vortäuschen kann.

214 Unser Leben hängt davon ab, ob wir eine kleine Hürde überwinden: unseren Schatten, über den wir ins Rettungsboot zu springen haben.

215 Lykantrophie: Der Wahn, in einen Werwolf verwandelt zu

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sein, ist nichts anderes als eine andere, gegenwärtig inaktuelle Form der Normalität.

216 Das Hochheben eines Steines, sei er noch so symmetrisch oder sonstwie schön, entblößt ein grausiges Gewimmel: Darum ist das Aufheben von Steinen bei Strafe verboten.

217 Montaigne kommt mir derart bekannt vor, daß zu fürchten ist, nicht er sei unser Zeitgenosse kraft eines antizipatorischen Denkens, sondern wir die seinen aus erbärmlicheren Gründen.

218 Durch Nähe werden die Dinge unsichtbar und verschwinden; was bleibt, ist ihr unenträtselbarer Abdruck.

219 Unter gläsernem Gebälk Systeme anhaltender Zerstörung: Auch eine Definition von Zivilisation.

220 Idee, das Fiktionale vorangegangener Wirklichkeiten zu entdecken und aufzuhellen. Denn es muß in jeder gewesenen Realität etwas Fiktionales bestanden haben, sonst würde sie niemals derart divergent, ja, unserer Wirklichkeit entgegengesetzt verstanden und empfunden werden - was ja eigentlich nur tatsächliche Fiktion zu bewirken pflegt. Enthielte nun Vergangenheit solch fiktionales Element, dürfte es in der Gegenwart ebenfalls vorhanden sein. Als was es aber zu begreifen wäre, als Zeitgeist, als Epochenstimmung gilt es noch zu bedenken.

221 Was alle wissen, soll am besten geheim bleiben.

222 Die Stimme des Volkes: Geraschel im Laub des Baums der Geschichte, den die Axt widerlegt.

223 Wenn ich einen Namen für den »Jedermann« wählen sollte, von dem diese Welt, wie sie ist, herstammt, würde ich ihn Akry-phos nennen.

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224 Außenseiter: Herzlich gern. Von draußen sieht man besser, wie es den Heringen in der Tonne geht, als zwischen ihnen.

225 Das Gesetz des kleinbürgerlichen Alltags: Von Schlaf zu Schlaf, von Urlaub zu Urlaub, von Abwesenheit zu Abwesenheit.

226 Ein in sich verknäulter Affekt löst sich durch das Gedicht und zugleich in ihm auf: Wer dieses Geheimnis erklärt, verliert es währenddessen.

227 Eine verlogene Güte, die uns den Atem nimmt, trieft aus den öffentlichen Mündern.

228 Das Bemühen sozialistischer Staaten, einen Tauschhandel mit Menschen zu treiben, verrät die Mittelalterlichkeit des Systems: Naturalwirtschaft.

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229 Wie bleiche, ausgewaschene, innerlich tätowierte Därme eines toten Titanen: Lascaux.

230 Das Beste liegt hinter uns und war schlecht.

231 Die Privilegien von Häftlingen und von Funktionären sind vergleichbar.

232 Darmstädter Symposium über die »Tradition als Steinbruch«, wo auch nach dem Zitat gefragt, aber wenig befriedigende Antworten gegeben wurden. Mir scheint, das Zitat im Kunstwerk stellt eine Rückversicherung in der Unsicherheit fehlender ästhetischer Normen dar. Wie weit auch immer die Künstler sich vorwagen oder vorwärtsgetrieben werden zu unerprobten Mitteln ihres veränderten Weltverstehens, das Zitat, auch als Verhöhnung des Originals, selbst noch in seiner Abgelöstheit, bietet so etwas wie eine Korsettstange, einen Halt in der Haltlosigkeit der gegenwärtigen ziellos vor sich hin schaffenden Kreativität.

233 Wo keine Zukunft mehr vorstellbar ist, vielleicht auch gar nicht mehr zu erwarten, kehrt der Blick sich notwendigerweise ins geschichtlich Vergangene, um dort zu erlangen, was die Künftigkeit vorenthält: auch das ein Motiv für das Zitat in der aktuellen Kunst.

234 Wie unsinnig die Bemerkung, von Guernica sei nur Picassos Bild übriggeblieben, das jedoch dem wahren Schrecken der Bombardierung jener baskischen Stadt nicht gerecht werde. Natürlich nicht: Die Struktur der Wirklichkeit und die der Kunst divergieren ungeheuer. Aber Wirklichkeit kann künstlerisch nur evoziert werden, wenn sie in die Struktur der Kunst überführt, also deformiert, meinetwegen vergewaltigt wird. Und es bleibt selbstverständlich nur die mehr oder minder gelungene Ausführung der Kunststruktur übrig, während die Wirklichkeit längst geschichtlich geworden und nahezu spurlos verschwunden ist.

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235 Auch die Frage nach der Wiederkehr von Reim und festem Versmaß läßt sich solcherart beantworten: Vor der rastlos unstrukturierten Realität, die eindeutiger Fixpunkte zu ihrem Verständnis ermangelt, erfolgt der Rückgriff auf festere formale Strukturen, die von sich aus eine gewisse Stütze bei der literarischen Wirklichkeitsbehandlung anbieten: ein weiterer Beweis dafür, daß die Sprache für uns dichtet und denkt.

 

(3.10.85)

237  Je länger ich gezwungen bin, über den Begriff »Politik« nachzudenken, desto fadenscheiniger und verschwommener wird er mir; was mir einst so sicher erschien, läßt sich so recht nicht mehr fassen. Auf eine mir nicht eindeutig erkennbare Weise ist Politik zu einer Wörtersammlung verschrumpft, an der sich Politiker delektieren, aus der sie ihre Mundfülle beziehen, ein Arsenal. Und worin, das ist die verzweifelte Frage, besteht die Beziehung dieser ungreifbaren Politik zur immerhin faßlichen Literatur ? Wie diese Beziehung definieren, wenn sie sich gar nicht feststellen läßt ? Lauter Schwierigkeiten, die mich quälen, da ich sie thematisieren soll. »Literatur und Politik« - ein Verhältnis wie zwischen Kapitän Ahab und Moby Dick.

238  Eine andere Geschichte bestünde darin, daß eine Redaktion, vielleicht die eines Wochenblattes, weiterhin Artikel oder Berichte von einem bereits verstorbenen Mitarbeiter erhält, ohne daß sie dessen Tod wahrgenommen hätte. Erstaunen und vielleicht sogar Schauder, sobald sich herausstellt, daß längst nach dem Begräbnis immer noch Manuskripte eintrafen, was zu metaphysischen Spekulationen Anlaß gibt. Bis sich möglichenfalls herausstellt, daß die Frau des Toten, aus dem Vorhandenen kompilierend und col-lagierend, die Zusendungen verursacht hat. Es bleibt jedoch ein Angewehtsein von jenem berüchtigten Hauch aus Nirgendwo.

239   Von den Träumen sind die allermerkwürdigsten solche, in denen ich mich in Landschaften befinde. Denn als Bewohner des

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