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detopia-2023: ...vermutlich vom Herausgeber

»Im Streit des Für und Wider dem Widerspruch stattgeben und ihm
sodann widersprechen: das wäre die Kurzformel für Schreiben.«
Günter Kunert: Die Geburt der Sprichwörter

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1
Daß Literatur trösten kann, ist nicht die kleinste ihrer Fähigkeiten. Aber »Tröstliche Katastrophen«? Wird hier mit Entsetzen Scherz getrieben? Ist es Ironie, Sarkasmus? Galgenhumor? Verzweiflung? Oder Weisheit? Auf jeden Fall rätselhaft, mehrdeutig, provokant. Fragen weckend. Zuvor von Günter Kunert erwogene Titel lauteten: »Chronistkasten« - also Chronist und Nistkasten überkreuz. Oder »Pandorama« - ein Rundblick auf die Übel der Welt, die allesamt aus der ominösen Büchse der Pandora stammen könnten.

2
In Katastrophen kennt sich Günter Kunert aus. In jenem 20. Jahrhundert, in dem die Übel und Ängste vergangener Geschichtsepochen kulminierten, in dem so viele Utopien, Szenare und Hoffnungen verschlissen oder ins Gegenteil verkehrt wurden, ist er 1929 geboren worden. Im Jahr des großen Börsencrashs, aus dem weitere Krisen und Katastrophen hervorgingen: die Diktatur Hitlers und seiner unabsehbar vielen Mittäter; die Entrechtung der Bürger, Zerstörung der Demokratie, Kulturbruch, Völkermorde, und ein Weltkrieg, der wie eine Vorstufe zum Weltuntergang anmutet.

Auf der virtuellen Liste, die all die Feinde des Regimes enthielt: Auszugrenzende, zu Verfolgende, zu Ermordende, fand er sich aus mehrfachen Gründen: wegen der jüdischen Mutter und ihrer linken Gesinnungen; weil er un-zensierte, gar verbotene Bücher las und mit ihren - schon verstorbenen oder verfolgten oder emigrierten - Schreibern sympathisierte; weil er sich für »entartete Kunst« begeisterte. Ein eigenwilliger, frühreifer, hochbegabter, beherzter Junge, ein »Firlefanz« und Eulenspiegel, der froh war, daß ihn die Schule nicht sehr vermißte, wenn er sich ihren Drangsalierungen und Dressurakten entzog, indem er krank im Bett lag und las.

Literatur, als exzessive Lektüre betrieben, wurde Ku-nerts Antidoton, half ihm, Verstand und Gemüt zu immunisieren gegen die Haßtiraden der Mächtigen und ihrer Anhänger. Günter Kunert und seine Eltern überlebten auf wunderhafte Weise die Razzien und die Bombardements und die Straßenschlachten in der »Reichshauptstadt«. Nachdem das für tausend Jahre errichtete Dritte Reich nach zwölf Jahren zusammengebrochen war, unter dem Ansturm der alliierten Armeen, hinterließ es riesige Trümmerfelder, auch in Kunerts Heimatstadt Berlin, und in zahllosen Köpfen seiner Landsleute.

Kunert überlebte mit hellem Verstand und einer großen Gier auf das Neue, das nun kommen würde, kommen mußte.

 

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Als manche heimkehrenden Emigranten, so die Poeten Johannes R. Becher und Bertolt Brecht, nach neuen Talenten Ausschau hielten, fanden sie einen jungen Mann vor, der vom Gift der Nazi-Ideologie nicht infiziert war, und der darauf brannte, seine skurrilen Einfälle, eigentümlichen Visionen, wilden Hoffnungen und tiefskeptischen Gedanken zu Papier zu bringen.

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Für jeden anderen Beruf als den eines Künstlers ungeeignet, hatte er sich zunächst als Bildner versucht, auch als Verfasser meist satirischer Texte. 1949 schrieb die kulturpolitische Wochenzeitung »Sonntag«: »Günter Kunert zeichnet nicht nur witzige >Bilder ohne Worte< - er ist auch Holzschneider, Kettenraucher, schreibt lesbare Glossen und Gedichte, schneidet sich selbst die Haare und ist seit 1948 Mitarbeiter des >Ulenspiegel< ... Kunert besitzt Sinn für das Abnorme, Paradoxe, Widernatürliche und Groteske, das sein fast linearer Zeichenstrich mit viel Sensibilität zu Papier bringt.«

1950, bald nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR - also der deutschen Teilung, durch die eine Trennung der Welt in zwei todfeindliche Halbwelten mitvollzogen wurde - erschien im Aufbau-Verlag, im Osten des geteilten Berlins, sein erster Gedichtband: »Wegschilder und Mauerinschriften«. Nach und nach erwuchs ein reiches, verzweigtes CEuvre, mit dem Kunert zu einem der eigenständigsten, mutigsten Dichter der DDR avancierte. Er schrieb später über diese Zeit: »Staunend vermerke ich das Übermaß an Hoffnung in meinen schriftstellerischen Anfängen in den ersten Nachkriegsjahren, als die Verwirklichung der sozialen Utopie nahe schien. Meine Wissenschaftsgläubigkeit gehört ebenso zu jenen frühen, irreal gewordenen Tagen wie die feste Annahme, daß schließlich und endlich doch die Vernunft siegen müsse.«

Beindruckt vom Marxismus und seinen Verheißungen, wenn auch nicht von seinen alltäglichen Vulgarisierungen, wollte er eine Erneuerung der Gesellschaft herbeischreiben helfen. Als er noch hoffte, es sei ernst mit jener neuen Beziehung von Geist und Macht, die man im Osten Deutschlands proklamierte, war er in den Akten des Geheimdienstes bereits als »negativer und feindlicher Schriftsteller« geführt.

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In seiner Dichtung wurden die Wegschilder seltener; Mauerinschriften und Menetekel nahmen zu. Kunert und einige andere Dichter versuchten, die sozialistische Utopie eines künftigen »Reichs der Freiheit«, das durch Unfreiheit zu erwerben sein sollte, den realen Verhältnissen und ihren Machthabern entgegenzuhalten. Konflikte und Kollisionen mehrten sich. Eine Bruchstelle war erreicht, als die DDR-Oberen dem regimekritischen Liedermacher Wolf Biermann - Sohn eines Kommunisten und Juden, der in Auschwitz ermordet worden war - die Staatsbürgerschaft entzogen, ganz im Stile der Nazis, als deren Hauptgegner sie sich immer verstehen wollten.

Kunert gehörte zu den Erstunterzeichnern einer Petition von Schriftstellern, in der die Regierung aufgefordert wurde, ihren Schritt zu überdenken. Dieser Text und seine Veröffentlichung durch westliche Medien ist zu Recht als eine DDR-spezifische Art von Insurrektion verstanden worden. Viele Kulturschaffende schlossen sich an. Die feindseligen Reaktionen der Partei- und Staatsführung lösten einen Exodus von Künstlern aus. Auch Kunert, in eine Schreib- und damit Existenzkrise gedrängt, verließ 1979 das östliche Deutschland, ließ sich in Kaisborstel / Schleswig-Holstein nieder und lernte, »nicht nur in der Bundesrepublik zu leben, sondern in der Welt«.

Aber schon seit 1963 hatte der DDR-Bürger Kunert als einer der wenigen »gesamtdeutschen Autoren« gelten können. In seiner Autobiographie berichtet er, wie sein Berliner Verleger ihm, um den unbotmäßigen Autor einzuschüchtern und zu disziplinieren, seine gesamten Buchrechte zurückreicht: der Aufbau-Verlag werde ihn nirgendwo mehr vertreten.

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Er »merkt nicht, welches Geschenk er mir macht. Ab sofort vertrete ich meine Rechte selber -auch im Westen. Und niemand wird mir dieses Recht bestreiten können.«
Damals ging Günter Kunert seine Partnerschaft mit dem Carl Hanser Verlag in München ein, die bis heute besteht, und die eine lange Reihe herausragender Bücher ermöglichte.

 

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Seit er selber zu schreiben begann, entwickelte der Poet und Prosaautor Kunert Arten eines »kontroversen« oder »paradoxen« Dichtens, mit denen er versuchen konnte, den Widersprüchen der Wirklichkeit auf die Sprünge zu kommen. Er hat seine Verfahren in Essays und Statements skizziert und beschrieben, die gewichtige Beiträge zur Theorie der modernen Dichtung ergeben. In den meisten seiner Texte wendet er sie an, und erfindet sie ständig neu. Er ist ein genuiner Dialektiker, und die Widersprüche des Lebens, aber auch seine Methoden des denkenden Schreibens und schreibenden Denkens trugen bei, solche Begabung zu steigern. Er gehört zu jenen Autoren, die ihre Gedanken nicht schon vor dem Schreiben zu Ende denken, sondern gern mit Hilfe des Schreibens. Und nicht zu Ende, denn mit dem jeweiligen Ergebnis solchen Suchens kommt das Fragen meist nicht zur Ruhe: Antworten münden in neue Fragen. Schreiben ist ihm Leidenschaft und Obsession, und wird doch meist mit kühlem Kopf betrieben. Aber Kühle und Nüchternheit, die im Rufe stehen, Poesie zu lähmen oder gar abzutöten, setzt er zumeist auf poetische Weise ein. Sein Schreiben, selbst wo es der wissenschaftlichen Diktion nahekommt, ist von jener Art, die man heute als »poetisches Denken« namhaft macht.

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Als um 1950 begonnen wurde, das Phänomen der Kreativität wissenschaftlich zu erkunden (damals aus machtpolitischen und militärischen Antrieben), war dem Dichter schon viel von dem vertraut gewesen, was man seither forschend herausfand.

Wenn es für Kunert einen kategorischen Imperativ gäbe, könnte der lauten: Sei kreativ. (Nur: eine Imperativen unterworfene Kreativität würde ihre Zauberkraft verlieren.) Kreativität half ihm, gegen den Druck der Nazi-Zeit zu bestehen, ermöglichte ihm, sich in der DDR zu bewahren und durchzusetzen, danach unter den Bedingungen der westlichen Welt sein Werk zu entfalten, ohne die Richtung seines Denkens aufzugeben.

 

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Als Günter Kunert in Schleswig-Holstein eine neue Bleibe gefunden hatte, befreite sich seine angestaute Schreibenergie in einer Fülle von Projekten. Aber neben den Lyrik-, Prosa- und Essaybänden, Feuilletons und Festreden, Hörspielen und Filmen gedieh sein bisher umfänglichstes und eigentümlichstes Projekt, sein »Big Book«. Das große Buch der Gegensätze, aus Kleinteilen erwachsend, ein Nicht- oder Anti-Werk, das zugleich Züge eines Opus magnum annimmt. Eine Ansammlung von Notizen und Kurztexten, kontinuierlich wachsend. All die subtile Könnerschaft, über die er in der Lyrik, in seinem Roman, in den Erzählungen, Essays, vor allem in den Prosaminiaturen verfügte, legte er beiseite, um gleichsam neu zu beginnen, fast unliterarisch schlicht. Die nahezu täglich erfolgenden Niederschriften ergeben ein weitläufiges Trümmerfeld und ein fruchtbares Areal: eigen-archäologisches Archiv, Fundus, Reservoir, Museum, Marmorbruch, Werkstatt und großdimensionierte Bauhütte. Gedankentagebuch, Träume-Nächtebuch.

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Fragment im Detail wie im Ganzen, eines, das nicht nach Vollendung, aber nach Fortsetzung stetig verlangt. Da wird Lapidares, gleichsam in Stein Gehauenes, mit Flüchtigem, Beiläufig-Ephemerem durchmischt. Da wird auf Spontaneität gesetzt, auf die Brisanz des Augenblicks, den Blitz der Erkenntnis, und zugleich auf die Weisheit des Bedenkens, und auf die Dauer. Der Autor ist aktuell dem Tage verpflichtet wie ein Blogger, um die meisten der Texte dann für Jahrzehnte beiseitezulegen.

Aus der scheinbar verwirrenden Vielfalt der Notierungen treten Linien hervor: Motiv- und Gedankenketten. Und zu dieser Art des Arbeitens gehört es, sich selbst zu reflektieren und zu kommentieren. Das Big Book, zu Quantität und Fülle neigend, tendiert deutlich auch zum Great Book.

Etwa zur Zeit seiner Übersiedlung nach Kaisborstel begann Kunert, die Notizen zu numerieren, ab Mitte der 80er Jahre setzen Datierungen ein. Beides betont den Dokumentations- und Werkcharakter der Sammlung, eine Signalwirkung, die durch die Aufbewahrung in einem Banktresor noch verstärkt wird: Kunert trug die Papierstapel wie Goldbarren in den Safe, um sie zu schützen, übrigens auch vor dem Autor selber und seinem Drang, die Texte nachträglich zu überarbeiten.

Hier seien einige konzeptionelle Erklärungen aus früheren Aufzeichnungen eingerückt:

»Zu diesen >Tagebuch<-Notizen. Im Gegensatz zu literarischen Formen besteht ihr Reiz in der Spontaneität, mit der sie verfaßt sind; insofern sind sie >fertig< und bedürfen keiner Überarbeitung mehr, ja, man muß sie sogar, als ihr Verfasser, nicht noch einmal lesen, um nicht zur Korrektur verführt zu werden.«

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»Die Zersplitterung ist die Wahrheit. Eine Sammlung von Notizen wie diese entspricht eher einem allgemeingültigen Mangel an gesellschaftlicher und sozialer und damit auch weltanschaulicher Kohärenz. Die voranschreitende Diversifikation, die Spaltung in immer mehr und kleinere Bestandteile, von keinem >Holismus< je wieder zu kitten, muß ihr Spiegelbild in den Kunstwerken, auch in der Literatur finden. Insofern bin ich mit meinen Notaten >up to date<, nur ist dieser Umstand den meisten Leuten unbekannt. (Sehr wahrscheinlich ist die heutige Trivialliteratur nicht allein aus stilistischen Gründen trivial, sondern weil sie eine Stringenz und Kausalität des von ihr Geschilderten zu behaupten wagt, die längst dahin ist.)«

»Hin und wieder extrahiere ich Zeitungsnotizen aus den von mir abonnierten Blättern; es handelt sich meist um >wundersame Begebenheiten< in einem negativen Sinne. Nachrichten von Katastrophen, von Bedrohungen, die eine große Chance haben, unsere Zukunft zu bestimmen.«

Günter Kunert wehrt sich immer wieder dagegen, sein Big Book als eine Art Tagebuch zu verstehen. Er hatte bereits in seinen Reisebüchern über Amerika und England eine tagebuchähnliche Schreibart genutzt, bei der ein anderes Realitätsverhältnis und eine andere Dramaturgie als in fiktionalen Texten wirksam ist. Aber noch 1985, als er schon jahrelang am Big Book schrieb, erklärte er: »Ich schreibe kein Tagebuch ... Das sogenannte Menschliche, ohne das Bedürfnis nach dem Paradigmatischen darin dargestellt, ohne den ... Zwang zur Stellvertretung, zur Selbstanalogie, wirkt platt, langweilig, ärmlich.«

Der Dialektiker Kunert nutzt sein Big Book bewußt ambivalent: Es ermöglicht ihm, etwa die Lyrik von Gedanklichem zu entlasten oder Sachzusammenhänge aufzuarbeiten, die in anderen Genres stören könnten.

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Hier wird es zum Hilfsmittel für das eigentliche Werk. Anderseits schreibt er seine Autobiographie »Erwachsenenspiele«, um das Big Book von den herandrängenden Kindheitserinnerungen freizuhalten, und leidet unter Gewissensbissen, wenn er es eine Zeitlang vernachlässigen muß. Hier gilt es ihm als ein Hauptwerk.

 

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Verschiedene Eigenheiten des Big Book hatten sich bereits in früheren Jahren angekündigt. Schon 1964, nach Kollisionen mit der Staatsmacht, begann Kunert ein Diarium zu füllen, das den lateinischen Titel »intra muros« trug, also: »innerhalb der Mauern« oder: »geheim / konspirativ«. Dort ist zu lesen: »Ich habe mein Nest im Sperrgebiet der Welt gebaut / und singe, singe trotzdem.« - »Die Zukunft, dieses verlorene Paradies.« - »Was ist Wahrheit? Die Entfaltung des Widerspruchs. (T.W A[dorno].)« - »Ideologien und Idiotologien.« - »Wahrheitsersatz, Gerechtigkeitsersatz.« - »Auf des Messers Schneide / gehe ich spazieren. Unter des Damokles / Waffe [hause] ich«. Und: »Ich bin des Messers Schneide / Zwischen Ost und West / Ganz auf sich selbst / Gestellt«. - »Das wichtigste Wort: »Dennoch!« - »Er fühlte sich wie ein Schriftsteller in einem Land, wo langsam das Alphabet abgeschafft wird.«

1964 begann auch seine Arbeit an einer Notizen-Sammlung, die auf überraschende Weise nicht-fiktionales Schreiben mit fiktionalem zu verbinden suchte: in einem simulierten Sudelbuch, das mit Klartext-Notierungen, falschen Zitaten und verwechselten Dichternamen wunderliche Verwirrspiele treibt. (Unter dem Titel »Die Geburt der Sprichwörter« ist es, mit einer Verspätung von Jahrzehnten, kürzlich erschienen.)

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Zahlreiche Vorgänger, die mit Aufzeichnungs-Sammlungen (Essais, Tagebüchern, Erinnerungen, Aphorismen) hervorgetreten sind, haben Günter Kunert Anstöße und Anregungen geliefert. In den Notizen des Big Book nennt er Namen; aber man muß zögern, von Vorbildern zu sprechen. Einflüsse wirken auf ihn zumeist, indem er sich gegen sie zur Wehr setzt. Autoren, zu denen er immer wieder kritisch zurückkehrt, beschäftigen ihn intensiver und folgenreicher als manch andere, die er beiläufig lobt.

Sehr wichtig sind ihm Friedrich Hebbel mit den Tagebüchern, Michel de Montaigne mit den Essais, Georg Christoph Lichtenberg mit den Sudelheften. - Lichtenberg hatte sein Sudel- oder Klitterbuch noch so verstanden, als sei es nur Vor-Werk für spätere Arbeit: »Erst ein Buch, worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir meine Gedanken eingeben, alsdann kann dieses wieder in ein anderes getragen werden, wo die Materien mehr abgesondert und geordnet sind ...«. Er ahnte damals noch nicht, daß es sich bei dieser Materien-Sammlung um sein literarisches Hauptwerk handelte. Kunert wußte schon ab Nr. 1 der Notierungen, daß mehr daraus werden sollte als eine Addition von partikulären Notizen. - Auch die Schriften Walter Benjamins, die Feuilletons Kurt Tucholskys, die Werke Adornos, seltener Nietzsches, sind zu nennen. Die Romantiker, z. B. Friedrich Schlegel. Intensiv Baudelaires Prosa-Gedichte. Kafkas Tagebücher und seine Parabeln der Vergeblichkeit. Und natürlich Heine, Kleists Anekdoten, wohl auch Brechts Tage- und Arbeitsbücher. Und Canetti, obgleich sich Kunert oft von ihm abgrenzt.

 wikipedia  Friedrich_Hebbel 

Bei Canetti las man:

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»An jedem Tag, an dem es nur irgend möglich war, verbrachte ich ein oder zwei Stunden damit, niederzuschreiben, was mir durch den Kopf ging. In dieser Stunde der Freiheit war alles erlaubt, wenn es nur spontan war und später nicht wieder aufgenommen wurde. Es durfte kurz oder lang sein, hitzig oder kalt, böse oder gut. ... Die redliche Überzeugung, daß ich diese Dinge nur für mich niederschrieb, einfach um am Leben zu bleiben und nicht zu ersticken, beließ ihnen ihre Unmittelbarkeit. Es bestand nie die Absicht, sie wieder vorzunehmen, irgend etwas an ihnen zu ändern und sie so zu verfälschen... .Die Aufzeichnungen leben aus ihrer Gegensätzlichkeit und Spontaneität, es ist nichts vorgesehen, nichts erwartet, es soll nichts vervollständigt oder abgerundet werden. Die Sprünge zwischen ihnen sind das Wichtigste; sie entstammen ganz disparaten Teilen des Menschen, zielen in viele Richtungen zugleich und akzentuieren deren Unvereinbarkeit.«

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Katastrophen, denen sich Literatur widersetzt und entgegenstellt, drohen auch heute. Trotz aller Krisenstäbe und Antikrisenprogramme scheinen weltweit fast alle Daseinsbereiche von Krisen befallen. Poetisch gesehen, verwandeln sich beispielsweise manche Banken und Börsen in Spielhöllen, wo ein neuer Homo ludens die Überlebensmöglichkeiten der Menschheit aufs Spiel setzt. Und die Abwehrkräfte reichen anscheinend nicht aus, dies zu verhindern. Eine wahrhaft diabolische Wendung der Geschichte ... Die altgriechische Sage von König Midas, dem alles, was er berührte, zu Gold wurde, gewinnt eine aktuelle Lesart: Geld ist zum Summum bonum, dem höchsten aller Werte geworden. Alle Ressourcen der Erde und all die Menschenleben werden umgewandelt, eingetauscht, transferiert in Gold, Papier, Schwingungen auf den rotierenden Festplatten der Finanzcomputer, bis sie im Nichts verschwinden.

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Da das Schwergewicht, das Kunert auf die kleine Prosa seines »Big Book« legt, ihn nicht hindert, weiterhin Lyrik zu schreiben, kommt in einem seiner neuen Gedichte der König Midas ins Bild, jener Despot, dem er in frühen Jahren ein Singspiel gewidmet hatte:

IM GRABMAL DES MIDAS
bin ich gewesen. Schattenhaftes
Licht. Ein Gang
bis zur düsteren Kammer
im Hügelinnern. Holz stützte
die Wände, Holz die Decke
im letzten ärmlichen Haus
des reichen Königs, dem alles
zu Gold ward und das Gold
zu Gift und das Gift
zur täglichen Speise
sämtlicher Nachkommenschaften.

 

9
Ohne ein hohes Maß an Erfindungs-, um nicht zu sagen Schöpferkraft wird man der Krisen nicht Herr werden. Kreativität, die zu einem Heilswort der Epoche wurde, ist zwar in aller Munde, wird verkündet und gelehrt: in Managerkursen, um die Geschäftsinteressen noch effektiver durchzusetzen, oder in Therapiegruppen, wo es als Ausweg erscheint, sich in der Herstellung von Kitscherzeugnissen zu üben. Und überall wird heftig nach Kreativität gerufen. Aber Künstler und Künste haben es immer schwerer. In der sozialen Topographie der Gesellschaft findet man sie neuerdings in das Wirtschaftsressort eingeordnet - im Sektor »Kreativwirtschaft«. Manchmal scheint es fast, als würden die Künste diesen Trend mitvollziehen.

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Selbst ein so kreativer Poet wie Kunert, wenn er beklagt, daß Künste wenig bewirken können, scheint von Resignation erfaßt. Man könnte an »Zurücknahme« denken, wie sie Thomas Mann in seinem Dr. Faustus-Roman zelebriert hatte.

Angesichts von Kriegen, Diktaturen, Völkermord, Folter, Verbrechen, Kulturzerstörung muß Literatur mit ihren humanen Apellen tatsächlich sehr hilflos und wirkungslos erscheinen. Aber was hat »die Wirklichkeit selber« in den Köpfen der Teilnehmer und Opfer bewirkt?

Allenthalben ereignet sich Tragödie, und wie selten eine »Katharsis«.

Bei Kunert heißt es, Literatur könne oder wolle keine Botschaft mehr übermitteln. Seine einstigen Wegschilder-Gedichte hatten durchaus Botschaften verbreitet, auch wenn sie durch skeptische Zwischenfragen des Autors wieder relativiert wurden. Später lautete die Kunde: Keine Sicherheit! Und dies ist im Grunde bis heute Kunerts Botschaft geblieben. Der Gestus der Verkündigung wird zurückgenommen. Der Mensch ist auf sich selber verwiesen und soll ohne Verheißungen auskommen. Aber auf vielerlei subtile Arten vermittelt Kunerts Werk dennoch Botschaften in Fülle: Zweifle. Schau genau hin. Sei wahrhaftig und authentisch. Wenn du eine Antwort auf deine Frage gefunden hast, frag weiter. Denk selber. Besinne dich auf die eigene Stimme. Entdecke die Widersprüche, und fürchte sie nicht. Achte auf die Sprache der Redenden und Schreibenden, was sie wirklich besagt. Selbst wenn es aussichtslos erscheint, höre nicht auf zu tun, was du als richtig erkennst.

In jahrtausendelanger Entwicklung waren die Künste unverzichtbare Kreativitätsquellen. Genau besehen praktizieren auch die Wissenschaften ein »poetisches Denken«

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dort, wo sie ihre Eingebungen haben und ihre Erfindungen machen. Aber die sogenannten wissenschaftlichen Denkmethoden galten lange als Garanten absoluter Wahrheiten. Dieser Anspruch steht, nicht nur im Werk des Poeten Günter Kunert, immer häufiger in Frage.

10

Man spöttelt öfter, mit seinen Warnungen und schneidenden Urteilen sei Kunert eine männliche Kassandra von Kaisborstel (und die Kassandra der griechischen Mythologie stand ja unter dem Fluch Apollos, daß ihre Warnungen nicht erhört wurden). Aber da sei erinnert: Kassandra hatte mit ihren Prophezeiungen recht. Wenn Literatur durch ihre Analysen und Prognosen anscheinend wenig bewirkt - vielleicht unterliegt auch sie einem Kassandra-Syndrom, wenig gehört zu werden, aber oft recht zu haben ?

Zu dem Vorwurf, Kunert sei ein Pessimist und Schwarzseher, bringt übrigens wissenschaftliche Forschung neuerdings ein aufschlußreiches Argument bei. Psychologische Untersuchungen über das Phänomen eines »unrealistischen Optimismus« (Kunert könnte hier sagen: Eine Tautologie!) habe herausgefunden: Menschen in Furcht neigen dazu, bis zu 80% ihrer Intelligenz ungenutzt zu lassen. Mancher Optimismus wäre also einfach ein Mangel an Informationen ... Wie hatte Brecht gedichtet: »Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen«.

Wer übrigens bedenkt, was Literatur geleistet hat, um unter all den widrigen Umständen einen Dichter wie Kunert zu ermöglichen, der durch sein Beispiel auf andere wirken kann - wird zögern, die Kraft ihres Einflusses gering zu schätzen.

Im vorliegenden Buch kann der Leser mancherlei Trost finden. Nicht nur, daß der Autor weiterhin bereit sei, sich vor stürzende Wände zu stellen, selbst wo er es für sinnlos hält. Auch, daß er immer wieder Eich-Maße setzt für Sprache und Denken. Und daß er sein Schreiben fortsetzen will, allen Resignationsgründen zum Trotz.

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»Tröstliche Katastrophen« bedeutet auch eine Stilfigur: ein Oxymoron, widersinnige Verbindung gegenteiliger Wörter, um vielfältige Assoziationen auszulösen. Aber vielleicht kann dieser Titel zugleich auch ganz wörtlich verstanden werden? Einst in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges schrieb der schlesische Dichter Friedrich von Logau solche Verse:

Trost

Weistu, was in dieser Welt

Mir am meisten wolgefällt?

Daß die Zeit sich selbst verzehret

Und die Welt nicht ewig wehret.

 

 

  wikipedia  Friedrich_von_Logau  1605-1655

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