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Neue Denkmodelle  

 

 

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Immer kürzer werdende Lebenszyklen der Produkte, die Notwendigkeit einer breiten Sortimentsgestaltung, der Zwang zur Diversifikation der Fertigung und der Dienstleistungen — dies alles führt heute zu ununterbrochenen technischen und organisatorischen Umstellungen in den Betrieben. Die Internationalisierung der Märkte bedeutet darüber hinaus eine Anpassung an die unterschiedlichsten nationalen Konsumentenbedürfnisse und Gesetzesvorschriften, die Abhängigkeit von instabilen Währungsverhältnissen und das Damoklesschwert politischer Unsicherheitsfaktoren. 

Der Zwang zur Rationalisierung und die beschleunigte Entwicklung neuer Technologien bringen neben einer laufenden Umgestaltung der internen Organisation die Schaffung völlig neuer Tätigkeiten für die Mitarbeiter und fast nicht zu bewältigende Ausbildungsprobleme mit sich. Und endlich häufen sich Betriebsschließungen, Neugründungen und Firmenzusammenschlüsse. Sie bedeuten Verpflanzung von Menschen und Verschiebung von Mitteln im Großmaßstab. Sie bedeuten drastische Kursänderungen in ungezählten Einzelschicksalen, Interessenkonflikte gigantischen Ausmaßes und das plötzliche Aufeinanderprallen der unterschiedlichsten Führungsideologien.

Aber das ist nicht alles. Das einzelne Unternehmen gerät zusehends ins Spannungsfeld seiner sozialen Umwelt. Der Staat, die Gewerkschaften und die öffentliche Meinung machen in zunehmendem Maße ihren Einfluß geltend. Sie fordern auf der einen Seite laufend zusätzliche, zum Teil völlig neue Leistungen, schränken aber auf der anderen Seite laufend den Bewegungs- und Entscheidungsspielraum des Unternehmens weiter ein. Und da ist schließlich die Mitbestimmung. Sie verspricht, die Grundstruktur der Entscheidungsbildung im Unternehmen zu verändern.

 

Mit der Veränderung leben lernen

Die Veränderung ist also total, sie beschleunigt sich, und sie trifft im Kern. Ein derartiges Ausmaß an Wandel aber ist nur zu verkraften, wenn die Beleg­schaft engagiert mitmacht — wenn die Mitarbeiter gut informiert sind, von sich aus miteinander kommunizieren und den Mut haben, selbständig zu handeln. Dies aber ist aufgrund traditioneller Formen der Organisation und der Führung von vornherein nicht möglich. Die Frage, die sich heute stellt, lautet deshalb nicht, ob Veränderung notwendig ist. Die Frage lautet, wie lange wir noch leben, wenn wir uns nicht verändern. 

Die Frage lautet ferner, ob Veränderung etwas ist, das schicksalhaft hingenommen, passiv erduldet und wie eine bösartige Krankheit bis zum bitteren Ende durchgestanden werden muß — oder ob Veränderung geplant und bewußt gefördert werden kann. Und die Frage lautet, ob Veränderung — da sie nun mal unausweichlich geworden ist — durch Revolution, durch einen Big Bang und durch schmerzhafte Eingriffe oder durch Evolution, durch organische Umstrukturierung, durch einen schrittweisen, gemeinsamen Lernprozeß im Unternehmen stattfinden soll. Für das letztere zu sorgen, ist wahrscheinlich die wichtigste, die lohnendste und damit attraktivste Zukunftsaufgabe des Managements.

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Strategiefragen

Wie aber soll die Veränderung in Gang gebracht werden? An Rezepten — vor allem an einfachen — fehlt es nicht. Die meisten schicken ihre Leitenden einfach an externe Kurse und Seminare, in der Hoffnung, daß sie dort Entscheidungsfindung und Menschenbehandlung lernen. Sie wollen »Veränderung«, meinen aber nur die der anderen. Wer wirklich etwas bewirken will, muß die Treppe von oben kehren. Er muß mit dem Training bei sich selbst beginnen, und er muß die Bereitschaft haben, bestehende Verhaltensmuster, Strukturen und Abläufe selbst in Frage zu stellen, durch andere in Frage stellen zu lassen — und auch konkret zu verändern.

Andere beteiligen die Mitarbeiter am Kapital oder am Gewinn des Unternehmens, in der Erwartung, damit bereits den entscheidenden Schritt getan zu haben. Doch dies erweist sich allzuoft als ein Schlag ins Wasser: Mitarbeiter, die sich am Arbeitsplatz und auf betrieblicher Ebene nicht an den Entscheidungen beteiligt fühlen, sind an einer finanziellen Beteiligung überhaupt nicht interessiert. Wer keinen direkten Einfluß auf die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft hat, ist auch nicht bereit, das Risiko mitzutragen. In diesen Fragen tun sich viele Unternehmer so schwer, weil sie nicht aus einer antiquierten kapitalistischen Geisteswelt herausfinden. Es ist nicht in erster Linie der materielle Besitz, nicht die Funktion eines »Anteilseigners«, die die Menschen aufwertet. Was sie brauchen, ist das Gefühl, »Mitunternehmer« zu sein. Unternehmer aber ist, wer Einfluß auf das Geschick der Firma hat. Es ist deshalb durchaus möglich, Mitarbeiter durch direkte Mitwirkung glücklich zu machen, ohne sie am Kapital zu beteiligen. Aber es ist so gut wie aussichtslos, sie durch Kapitalbeteiligung allein beglücken zu wollen.

Wieder andere versuchen, neue Strukturen, die sie im stillen Kämmerlein ausgeheckt haben, kurzerhand einzuführen. Doch isolierte Maßnahmen und abrupte Eingriffe in das organisatorische Gefüge lösen Unruhe, Streß und Widerstände aus. Dies verkennen nicht nur hochfliegende Systemveränderer, sondern auch Heere von Technokraten und Organigrammstrategen klassischer Managementschule. Partnerschaft beginnt nicht damit, daß man sie anordnet, sondern damit, daß man gemeinsam nachdenkt, miteinander spricht, sich für die Meinung des anderen interessiert — und ihm Einfluß auf die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft einräumt. 

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Was wir heute brauchen, ist die Bescheidenheit, ist die Weisheit und sind die Nerven, um in unserer Gesellschaft und in jedem einzelnen Unternehmen kollektive Lernprozesse einzuleiten, systematisch zu fördern und — gesagt muß es sein — selbst mitzumachen. Das ist die Realität, und alles andere sind Illusionen.

 

Freiheit, die ich meine  

Es ist im Grunde auch müßig zu fragen, ob die Veränderung nicht zuerst in der Familie und in der Schule stattfinden sollte — ob nicht erst »ein neuer Menschen­schlag« geboren sein müßte, bevor man in den Betrieben an eine Veränderung bestehender Strukturen denken könnte. Erstens herrscht mit Ausnahme des Heeres in keinem sozialen Bereich ein so großes Demokratiedefizit wie in der Wirtschaft. Und zweitens bleibt uns wohl kaum die Zeit, jahrzehntelange soziale Entwicklungsprozesse abzuwarten und dann zu entscheiden, ob wir sie mitmachen wollen oder nicht. Die entscheidende Schlacht um unser freiheitliches Wirtschaftssystem wird heute geschlagen — und zwar nicht in der UNO, nicht im Bundestag und nicht in den Aufsichtsräten, sondern an der betrieblichen Front. Hier geht es darum, Freiheit und Gemeinschaft zu lernen.

Man muß heute außerordentlich vorsichtig sein, wenn in der Politik von »Freiheit« die Rede ist. Am meisten strapaziert wird der Begriff von Meinungsmachern, die in erster Linie ihren eigenen Entscheidungs­spielraum gefährdet sehen. Die Zukunft unserer freiheitlichen Ordnung hängt aber nicht nur davon ab, ob beispielsweise der staatliche Einfluß auf das Wirtschaftsgeschehen etwas stärker oder etwas schwächer ausgeprägt ist, oder nach welchem Schlüssel mögliche Pattsituationen in einem paritätisch besetzten Aufsichtsrat geregelt werden. Sie hängt vor allem davon ab, ob es uns gelingt, mehr geistige und persönliche Freiheit dorthin zu bringen, wo die meisten Menschen ihr halbes Leben verbringen — an den Arbeitsplatz. Freiheit, wenn sie überhaupt etwas bedeutet, ist nicht das, wovon andere reden, sondern das, was man an eigener Selbstverwirklichung erlebt. Mehr Freiheit und mehr Gemeinschaft am Arbeitsplatz — dies wäre für viele Menschen der natürliche Weg zu einem echten Demokratieverständnis.

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Humanisierung des Denkens

Zu antworten ist aber auch denjenigen, die der Meinung sind, für Demokratie zu sorgen sei Sache des Staates; die Aufgaben der Wirtschaft seien die Güterversorgung und die Erhaltung und Vermehrung von Wohlstand.

Die drei großen wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, Geldentwertung, Wirtschaftsrückgang und Arbeitslosigkeit, sind das Resultat einer im Verhältnis zu den gestiegenen Konsumansprüchen ungenügenden produktiven Leistung. Die Hauptursache für den schlechten Leistungsgrad liegt in den hierarchisch-bürokratischen Organisations- und Führungsprinzipien in Wirtschaft und Verwaltung. Diese stehen nicht nur im Widerspruch zu den Bedürfnissen und Wertvorstellungen der Menschen, sondern sind auch unvereinbar mit der Dynamik der Arbeits- und Entscheidungsvorgänge in einer modernen Leistungsorganisation.

Das Ausschöpfen der brachliegenden Leistungsreserven setzt eine grundlegende Innovation der betrieblichen Sozialstrukturen voraus. Diese aber verlangt entsprechende Verhaltensänderungen und damit eine Verlagerung der Prioritäten auf psychologische und soziale Aspekte der Unternehmensführung. Sie bedeutet das Ende der Technokratie.

Fortschritt in der heutigen Zeit setzt also ein ganz anderes Wirtschaftlichkeitsdenken voraus: Die Sozialstruktur eines Unternehmens, das zukünftigen Aufgaben gewachsen sein soll, muß systematisch entwickelt werden.

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Fetisch »Effizienz«

Organisationsentwicklung ist — im Gegensatz zum technokratischen Pragmatismus herkömmlichen Managertums — eine Lernstrategie und damit langfristig ausgerichtet. Die meisten Manager stehen aber unter einem permanenten, kurzfristigen Erfolgszwang und betrachten infolgedessen alles, was länger als ein paar Wochen oder Monate dauert, von vornherein als »kontraproduktiv«. Dies ist der Fetisch »Effizienz«. Hinter ihm verbirgt sich in der Regel nichts anderes als die Unfähigkeit — oder die mangelnde Bereitschaft — über den Tag hinaus zu denken.

Dies hat nichts mit Intelligenzmangel zu tun, sondern mit dem, was man das Dominospiel der Hierarchie nennen könnte: Die Mitarbeiter aller Stufen werden von ihren jeweiligen Vorgesetzten laufend mit kurz- und mittelfristigen Forderungen und Kurskorrekturen bombardiert, ununterbrochen in Zugzwang versetzt und in Trab gehalten sowie aufgrund entsprechend kurzfristig produzierter Ergebnisse bewertet und ausgelesen. Kaum jemand gelangt heutzutage durch das zu Lorbeeren, was er für die langfristige Funktionsfähigkeit der Organisation tut. Im Gegenteil: Wer gemeinsames Nachdenken und Diskutieren über Grundsatzfragen anregt, kommt in den Geruch, kein Geschäftsmann zu sein, das wesentliche Ziel der Unternehmung, nämlich zu produzieren und Geld zu verdienen, aus den Augen verloren zu haben. »Es hat noch niemand durch Reden Geld verdient.« Dies ist eine der typischen Phrasen, mit denen Manager sich gegenseitig vom Nachdenken abhalten.

So, wie viele Menschen einen ersten Herzinfarkt oder sonst einen existentiellen Schock überleben müssen, um sich auf das Grundsätzliche zu besinnen, ihr Leben bewußter zu gestalten und bewußter zu leben, genauso scheinen viele Unternehmungen erst dann in der Lage zu sein, ihre innere Verfassung grundsätzlich zu überdenken, wenn sie durch eine Krise, die ihren Fortbestand in Frage stellt, dazu gezwungen werden. 

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In einer akuten Krisensituation kann aber durch langwierige Prozesse in der Regel ohnehin nicht mehr Remedur geschaffen werden. Die Entwicklung in der Wirtschaft wird sich deshalb nach dem darwinistischen Selektionsprinzip vollziehen. Einige Unternehmen werden die Notwendigkeit des Wandels nicht rechtzeitig erkennen. Sie werden wirtschaftlich nicht lebensfähig bleiben und von der Bildfläche verschwinden. Andere werden den Wandel rechtzeitig als Chance erkennen und bewußt vorantreiben. Sie werden das Gesicht der Arbeitswelt von morgen prägen.

 

Feuer von rechts und von links  

Aber auch diejenigen, die sich rechtzeitig für den langfristigen Weg der Organisationsentwicklung entschließen, haben es nicht leicht. Wer hierarchische und bürokratische Verhältnisse ändern will, kann nicht mit Applaus von allen Seiten rechnen. Er gerät, wie die Erfahrung zeigt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ins Kreuzfeuer der Kritik. Die einen werden die Bereitschaft zur gemeinsamen Willensbildung als Schwäche auslegen, Chaos wittern und die Funktionsfähigkeit des Unternehmens gefährdet sehen — nach dem Motto: »Es untergräbt das Vertrauen in die Führung, wenn man den Leuten erlaubt, sich ihre eigene Meinung zu bilden.« Anderen wird alles zu langsam gehen. Sie werden — lediglich unter anderem Vorwand — ein und dasselbe verlangen: autoritäres Durchgreifen.

Einige Moralisten werden besorgt fragen, ob die gezielte Veränderung, und sei sie noch so wohlgemeint, nicht einer »Indoktrination«, einer unterschwelligen Manipulation der Mitarbeiter gleichkomme, die möglicherweise gar keine Veränderung wollen. Die Klassenkämpfer vom Dienst werden in den angestrebten Reformen nichts anderes sehen als eine humanitär bemäntelte Rationalisierung zum Zwecke einer noch konsequenteren, noch raffinierteren Ausbeutung der Mitarbeiter. Und einige ganz Linke werden den Evolutionsgedanken als solchen von vornherein ablehnen, weil ein Lernprozeß die revolutionäre Veränderung verzögern oder gar verhindern könnte. Womit sie zweifellos völlig recht haben.

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Schmerzen im Innern  

Doch die größte Belastung ist nicht die Kritik von außen, sondern die Veränderung im Innern. Dies ist der schwierigste Punkt: Organisationsentwicklung ist kein Sandkastenspiel, keine Trockenübung, sondern ernstgemeinte innovative Arbeit. Sie ist der Versuch, die unausweichlich gewordene Entwicklung betrieblicher Sozialstrukturen und menschlichen Sozialverhaltens nicht schicksalhaft hinzunehmen, sondern durch aktive Beteiligung der Mitarbeiter an den Entscheidungsvorgängen gezielt zu fördern. Es hieße, sich etwas in die Tasche lügen, wenn man nicht akzeptieren würde, daß sich hierbei Änderungen im Machtgefüge vollziehen. Man kann die Mitarbeiter nicht mitreden lassen und dann etwas anderes entscheiden. Man kann mit ihnen auch nicht nur über das Handtuch im Klo und den Kaffeeautomaten im Pausenraum reden. Man muß mit ihnen über all das reden, was bei der Erfüllung der gemeinsamen Aufgabe eine Rolle spielt — die Werkzeuge, die Maschinen, die Arbeitsabläufe, der Führungsstil, das Lohnsystem.

Es geht also bei der Organisationsentwicklung um wesentlich mehr als lediglich um die Anwendung bestimmter, sozialwissenschaftlich fundierter Management­techniken. Es geht um eine Haltung, um persönliche Überzeugungen, um geistige Auseinandersetzung. Um dieses persönliche Betroffensein kommt keiner herum, der wirklich etwas verändern will. Macht zu teilen, tut immer weh — auch wenn man dafür noch so reichlich entschädigt wird.

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Gewerkschaftlicher Rollenkonflikt  

Wenn Organisationsentwicklung betrieben wird, sind aber nicht nur Mitarbeiter und Management, sondern auch der Betriebsrat und die Gewerkschaft betroffen. Auch die Gewerkschaft muß lernen. Auch sie muß bereit sein, ihr eigenes Rollenverständnis zu überprüfen. Sie muß aus ihrer einseitigen Rolle als Anwalt in Sachen »Lohn« ausbrechen und sich auch um die sozialen Bedürfnisse der Mitglieder kümmern. Dazu aber muß sie, genau wie das Management, über den eigenen Schatten springen. Sie muß bereit sein, bürokratische und hierarchische Strukturen in den eigenen Reihen abzubauen. Vor allem aber darf sie eine Zunahme der Selbständigkeit und des Einflusses bei den Arbeitnehmern nicht als Abbau der eigenen Macht betrachten und von vornherein ablehnen, sondern muß sie fördern und entwickeln helfen. Davon aber sind wir heute noch weit entfernt. »Autonome Gruppen gibt es nicht.« Dieser Satz stammt von einem einflußreichen Gewerkschaftsvertreter, der ein umfangreiches Humanisierungsprojekt, das wissenschaftlich begleitet und staatlich unterstützt werden sollte, zu Fall gebracht hat.

Man muß sich zwar vor Verallgemeinerungen hüten. In den Reihen der Gewerkschaften herrscht eine ähnliche Meinungs- und Ideologienvielfalt wie unter betrieblichen Führungskräften und Unternehmern. Es ist jedoch keine Verallgemeinerung, wenn man heute feststellen muß, daß die Initiativen der Gewerkschaften sich neben dem rein materiellen Verteilungskampf bislang auf Fragen der äußeren Arbeitsbedingungen sowie — vor allem in letzter Zeit — auf die Sicherung von Arbeitsplätzen beschränkt haben. In eher seltenen Fällen kommt es allenfalls noch zu Auseinandersetzungen über extrem gleichförmige, also durch Monotonie belastende Arbeitsvorgänge. Dem Autor ist jedoch kein einziger Fall bekannt, in dem sich eine Gewerkschaft für die Entwicklung neuer Formen direkter Mitwirkung der Mitarbeiter bei den Entscheidungen stark gemacht hätte — wohl aber mehrere Fälle, in denen eine Geschäftsleitung ohne Erfolg versucht hat, Betriebsrat und Gewerkschaft für die Verwirklichung derartiger Konzepte in einem Betrieb zu gewinnen.

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Wir sind ganz am Anfang  

Die angewandte Organisationspsychologie befindet sich zur Zeit in der Pionierphase. Daß wir auf allen Stufen mehr persönliches Engagement, mehr Zusammenarbeit und mehr Verantwortungsbereitschaft brauchen, darüber sind sich zwar heute alle einig. Daß aber die Art und Weise, wie wir organisiert sind — das heißt, wie wir die Aufgaben verteilt haben und die Entscheidungen treffen —, diesem Ziel diametral entgegengesetzt ist, darüber sind sich heute erst wenige im klaren. Das grundsätzliche Infragestellen der herkömmlichen Organisationsprinzipien ist tabu. Die Auseinandersetzung mit dem Thema »Hierarchie« bleibt Sozialwissenschaftlern und linken Chaoten vorbehalten.

Dies hat zum einen damit zu tun, daß nicht nur Wirtschaftsunternehmen und Staatsbetriebe, sondern praktisch alle unsere Organisationen —die politischen Parteien, die Gewerkschaften, aber auch die Kirchen, die Universitäten, die Kliniken — hierarchisch und bürokratisch organisiert sind. Wir kennen überhaupt nichts anderes.

Zum zweiten sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zu einem neuen Menschenbild und zu einem neuen Organisationsverständnis geführt haben, verhältnismäßig neu und haben noch kaum Eingang gefunden in das Denken der Führer unserer Organisationen. Diejenigen, von denen die entscheidenden Impulse zu strukturellen und verhaltensmäßigen Reformen in unseren Organisationen eigentlich kommen müßten — die Politiker, die Unternehmer, die Gewerkschaftsführer —, sind heute teils aus ihrem eingeübten Rollenverständnis heraus, teils aus zeitlicher Überlastung, teils aber schlicht aufgrund eines sozialpsychologischen Bildungsdefizits gar nicht dazu in der Lage.

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Ihre Situation läßt sich vergleichen mit derjenigen der Ärzte. Wir wissen heute, daß der weitaus größte Teil der Leiden, mit denen die Patienten zum Arzt kommen, psychische und soziale Ursachen haben. Der Arzt ist aber gar nicht in der Lage, diesen Ursachen nachzugehen; erstens, weil er dafür nicht ausgebildet ist, und zweitens, weil er dafür keine Zeit hat. Es bleibt deshalb bei der Behandlung von Symptomen. Das Resultat ist die Ineffizienz des Gesamtsystems — sind zu viele Tote, zu viele Kranke und Kosten, die uns fast erdrücken.

Die Zukunft gestalten 

Die Arbeitswelt ist ein ähnlich komplexes System. Wir haben auch hier neue Einsichten in psychologische und soziale Zusammenhänge gewonnen. Wir müssen ökologisch denken, komplexe Wechselwirkungen zwischen Umwelteinflüssen und menschlichem Verhalten verstehen, längerfristige Entwicklungs­prozesse einleiten und steuern lernen. Die Erkenntnis drängt sich heute geradezu auf, daß es ohne sozialen und organisatorischen Wandel keine Wirtschaftlichkeit mehr geben wird. Humanisierung und Mitbestimmung — von vielen zu Unrecht noch immer in den Bereich der reinen Sozialethik verwiesen — sind integrierende Bestandteile einer zukunftsgerichteten, wissenschaftlich begründeten Führungskonzeption.

Zugegeben: Was die moderne Sozialwissenschaft unter Mitbestimmung versteht, und was die Politik daraus gemacht hat, sind zwei Paar Schuhe. Doch dies entbindet niemanden von der Aufgabe, sich kritisch und unvoreingenommen mit den Problemen menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens — in unserer Gesellschaft im allgemeinen und in der Unternehmung im speziellen — auseinanderzusetzen. Im Gegenteil: Wer als Unternehmer auch in den kommenden Jahren noch Freude an seinem Beruf haben will, muß sich gerade mit diesen Problemen befassen. Und wer nicht blind ist, kann im Grunde gar nicht anders: Er wird früher oder später einen Sozialreformer in sich entdecken. Er wird den Wandel mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und dort, wo er wirklich not tut, in die Hand nehmen wollen.

Wir könnten mit gleich vielen Menschen eine wesentlich größere produktive Leistung erbringen, als dies heute der Fall ist. Diese Menschen könnten zufriedener und gesünder sein. Und das Geld, mit dem heute Millionen von Kranken und Arbeitslosen finanziert werden müssen, würde möglicherweise reichen, um sinnvolle Arbeit für alle Gesunden zu schaffen. Wir könnten mehr Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft haben — und dazu noch, ohne selbst darben zu müssen, vermehrt denen auf dieser Welt helfen, die heute noch verhungern müssen.

Utopie? Jeremias Gotthelf hat die Antwort gegeben: »Wer es nicht der Mühe wert findet, bessere Zeiten herbeiführen zu helfen, der ist auch nicht gut genug für bessere Zeiten.«

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