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2 - Die Nische der Hominiden 

Lauterburg-1992

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Eigentlich dürfte es uns gar nicht geben. Die frühen Menschen waren den damals lebenden Raubtieren an Größe, Kraft und Schnelligkeit weit unterlegen. Für die Jagd waren sie viel zu langsam und schwerfällig. Ander­er­seits waren sie bei weitem groß genug, um selbst auf größere Distanz gesehen zu werden — und sie lebten auf der ebenen Erde, und nicht etwa, wie viele Affenarten, zurückgezogen im Geäst hoher Bäume. Vor allem aber waren sie viel zu groß, um wie Kleingetier - Bakterien, Insekten oder Mäuse - ihre Art durch Massen­fortpflanzung erhalten zu können. Im Gegenteil, sie lebten in kleinen Gruppen, weit verstreut über große Gebiete. 

Eine Frau konnte im Laufe ihres kurzen Lebens vielleicht drei bis vier Kinder großziehen — immer nur eines auf einmal, denn ein Kind mußte während der ersten Jahre seines Lebens auf den weiten Wander­ungen der Sippe Schritt für Schritt getragen werden. Während Jahrmillionen gab es insgesamt nie mehr als einige Hunderttausend Exemplare — ein verschwindend kleiner Bestand im Vergleich zu demjenigen aller damals lebenden größeren Säugetiere. Unter derartigen Voraus­setzungen zu überleben, war in der Tat eine nicht zu überbietende Glanzleistung.

  Weltmeister der Anpassung 

Die Strategie, die dieses Kunststück möglich machte, heißt Anpassung. Wir waren und sind — wie die Schimp­ansen — Alles­fresser. Unsere Vorfahren konnten sich von Früchten, Nüssen, Blättern, Wurzeln und Knollen oder aber von Eiern, Fleisch oder Fisch ernähren — je nachdem, was gerade verfügbar war. Sie setzten scharfe Steine als Werkzeuge ein, um Wurzeln zu zerkleinern, Tiere zu erschlagen, Knochen aufzubrechen, Kadaver zu häuten und Tierfelle zu säubern. 

Sie waren in der Lage, Essbares zu sammeln und mit sich zu tragen — erste Formen der Vorratshaltung. Mit der Zeit lernten sie, in Rudeln zu jagen, und etwas später, Tiere gezielt in eine Falle zu treiben. Nach rund zwei Millionen Jahren lernten sie sogar, das Feuer zu beherrschen. Danach verbreiteten sie sich innerhalb kürzester Zeit - in wenigen Tausend Jahren - bis in die kältesten Regionen unseres Planeten.

Dies alles setzte besondere Fähigkeiten voraus: zum einen bewußte, der jeweiligen Situation entsprechende Entscheidungen anstelle eines ein für allemal genetisch festgelegten Verhaltens­programmes; zum zweiten die Fähigkeit, zu lernen — das heißt Informationen aufnehmen, im Gedächtnis behalten und weitergeben zu können; und drittens, besonders wichtig: die Fähigkeit zur Fürsorge und Zusammenarbeit. 

Gemeinsam ist man stark — dies war das Überlebens­rezept des vergleichsweise schwächlichen und verletzlichen frühen Menschen. Gemeinsam wurde gejagt, gemeinsam wurde die Nahrung verteilt und verzehrt, gemeinsam verteidigte man sich gegen Raubtiere oder Gruppen feindlicher Stämme. Kein Tier hat je ein so hochentwickeltes Sozialleben gehabt wie die Hominiden. Zusammenhalt und koordiniertes Vorgehen haben es den Menschen ermöglicht, unter den verschiedensten Bedingungen zurecht­zukommen und sich gegen alle damals lebenden Tiere — auch gegen so große wie die Mammuts und so gefährliche wie die Säbelzahntiger — erfolgreich durchzusetzen.

  Der aufrechte Gang 

"Sich auf die Hinterbeine stellen" ist noch heute der Ausdruck für Selbstbehauptung und Durchsetzungs­willen — und genau dies war notwendig, wenn man sich als affenartiges Wesen von den Bäumen herab in die Savanne hinaus wagte. Man mußte sich aufrichten, um im meterhohen Gras Überblick zu gewinnen, oder aber, um durch Markieren von Größe Raubtiere abzuschrecken. Hin und wieder für kurze Zeit aufzustehen genügte nicht. Man mußte sich auf zwei Beinen fortbewegen können. Damit wiederum war ein entscheidender Vorteil verbunden: Die Hände waren frei zum Greifen, Tragen oder Werfen von Gegenständen.

Wer beides konnte, sich auf den Hinterbeinen fortbewegen und gleichzeitig die Hände gebrauchen, der hatte bessere Aussichten zu überleben. So haben die Hominiden im Laufe der Evolution beides perfektioniert. Dazu war allerdings eine entsprechende Koordination der Bewegungsabläufe erforderlich.

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Im übrigen mußte man ein ausgeprägtes Raumgefühl, insbesondere ein Gefühl für "oben" und "unten" ent­wick­eln. Mit der Ausgestaltung des Bewegungs­apparates ging deshalb eine Vergröß­erung und Differenz­ierung des Gehirns einher.

Die frühen Hominiden waren allerdings noch keine Jäger. Sie konnten nur an eiweißreiche, tierische Nahrung heran­kommen, wenn sie diese greifen konnten: Eier, Insekten, Larven sowie kleine, verletzte oder tote Vögel und Säugetiere. Ihre Hauptnahrung war vegetarischer Natur. Um aber in der Savanne genügend Eßbares zu finden, mußten sie weite Gebiete durchstreifen. Unsere Vorfahren waren nicht besonders schnelle, dafür aber außerordentlich ausdauernde Läufer — und ständig in Bewegung.

  Die frühe Geburt 

In der ökologischen Nische, in der sich die Hominiden befanden, waren Größe und Leistungsfähigkeit des Gehirns die entscheidenden Vorteile im Kampf ums Überleben. Doch da gab es ein Problem: Einerseits war Nachwuchs mit besonders gut ausgebildetem Gehirn gefragt; anderseits war damit ein größerer Kopf verbunden. Doch die Öffnung, durch die das Kind bei der Geburt aus dem Mutterleib kommen sollte, war anatomisch begrenzt und aus konstruktiven Gründen auch nicht beliebig erweiterbar. Eine Veränderung des Beckens hätte bei der Mutter unausweichlich zu einer Beeinträchtigung der Fort­bewegungs­fähigkeit geführt.

Die Evolution hat einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden: eine immer frühere Geburt. Die besten Über­lebens­chancen hatten diejenigen, die erstens ein gut ausgebildetes Gehirn besaßen, zweitens so früh geboren wurden, daß sie gerade noch durch die enge Öffnung schlüpfen konnten, und drittens von der Mutter entsprechend intensiv und lange ernährt, gepflegt und beschützt wurden. Jahrelang. Denn die neugeborenen Menschen waren in Tat und Wahrheit Frühgeburten und nicht — wie beispielsweise ein Fohlen — zum Zeit­punkt der Geburt bereits weitgehend ausgereifte und selbständig fortbewegungsfähige Lebewesen.

Ausgerechnet dieses scheinbare Handicap hat in der Folge zur Entwicklung entscheidender Überlebens­vorteile geführt. Menschen­kinder werden besonders früh in ihrer Entwicklung mit der lebendigen Umwelt konfrontiert. Sie beginnen sehr viel früher zu lernen. Sie werden sehr viel länger und intensiver von ihrer Mutter betreut und entwickeln deshalb eine ausgeprägte Fähigkeit, stabile emotionale Beziehungen einzugehen. Sie haben eine besonders lange Kindheit, während welcher sie von der Mutter auf das Leben vorbereitet werden.

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Sie können sehr viel komplexere Strategien, nicht zuletzt im Umgang mit anderen Menschen, lernen und einüben. Das Wesen, welches besonders hilflos und verletzlich zur Welt kam, war, wenn es die Kinderstube verließ, besonders gut vorbereitet auf die Überraschungen und Gefahren, die das Leben in der freien Natur bereithielt.

  Die Weitergabe von Wissen  

Eine der wesentlichsten, aber auch anspruchsvollsten Fähigkeiten, die im Laufe der Kindheit erlernt werden mußte, war die Verständigung mit Artgenossen. Mitteilungen über die eigene Befindlichkeit sowie über Verhält­nisse im Umfeld zu machen, aber auch solche Mitteilungen empfangen, speichern und gegebenen­falls an Dritte weitergeben zu können — dies sind Höchstleistungen der Kommunikation, die den frühen Menschen gewaltige Vorteile gegenüber jedem anderen Lebewesen verschafften.

Die hochentwickelte Kommunikation ermöglichte ganzen Menschengruppen, in schwierigen Situationen — etwa bei der Jagd oder bei drohender Gefahr — abgestimmt und koordiniert vorzugehen. Die Sprache ermöglichte aber auch eine ungleich intensivere und vielfältigere Gestaltung der Beziehungen zwischen den einzelnen Individuen. Freundschaften konnten entstehen, vorübergehende Koalitionen ausgehandelt, dauerhafte Partner­schaften eingegangen werden. Das Beziehungs­gefüge in einer Gruppe von Menschen war und ist nicht nur vielfältiger und flexibler, sondern auch persönlicher und intensiver als in irgendeinem Rudel von Tieren.

Die Fähigkeit der Menschen zum Speichern und Weitergeben von Wissen hatte eine weitere Konsequenz: Wissen und Erfahrungen konnten von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Die Kultur einer menschlichen Population enthielt das gespeicherte Wissen nicht nur der lebenden Individuen, sondern auch ihrer Vorfahren. Und solange das gespeicherte Wissen sich bewährte, wurde es beibehalten. Traten im Umfeld entscheidende Veränderungen ein, kam neues "Wissen" dazu. Die Kultur entwickelte sich weiter.

Wenn dagegen das Umfeld stabil blieb, konnte eine Kultur unverändert große Zeiträume überdauern. Zu allen Zeiten haben menschliche Populationen mit unterschiedlich entwickelten Kulturen gleichzeitig gelebt. Die letzten Stein­zeit­kulturen gehen in unseren Tagen als Folge der Zersiedelung unseres Planeten zugrunde.

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  Fürsorge, Zusammenarbeit und Konfliktregelung 

Zusammenleben in einer Gruppe bedeutet nicht nur Zuwendung, Rücksichtnahme sowie wechselseitige Für­sorge, Hilfe und Unter­stützung, sondern auch Streit, Intrigen, Konkurrenz und Konflikt. Geselligkeit ist nicht ein gleichbleibender Zustand der Nähe und des Wohlbefindens, sondern ein ununterbrochener Prozeß wechselnder Nähe und Distanz, der Zuneigung und der Abneigung, des Streitens und des Friedenschließens, des Eingehens von Kompromissen, des Vermittelns und des Aushandelns allseitig tragbarer Lösungen. Dies alles zu beherrschen, und zwar so, daß man selbst auf seine Kosten kommt, gleichzeitig aber den Zusammen­halt in der Gruppe nicht gefährdet — das will gelernt sein.

Die Fähigkeit, Konflikte offen, aber unblutig auszutragen und wieder beizulegen, ist hierbei ebenso wichtig wie die Fähigkeit, sich um andere zu kümmern, auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen, anderen zu helfen. Diese Fähigkeit, die unsere Vorfahren zur dominierenden Art auf diesem Planeten gemacht hat, kommt uns heutzutage schrittweise, aber unaufhaltsam wieder abhanden.

Soziale Intelligenz, wie wir sie heute nennen, ist mehr und mehr Mangelware. Kommunikations­trainings, Seminare für Gesprächs­führung oder Kon­flikt­management sowie Therapien aller Art — vom Urschrei bis zur Psychoanalyse — haben Hoch­konjunktur. Der Neandertaler würde einen Lachkrampf kriegen.

Das Darwinsche Prinzip "Survival of the fittest" — das Überleben des jeweils Stärkeren — bedeutet nicht von vornherein das Überleben des stärksten oder intelligentesten Individuums. Es bedeutet bei verschiedenen Tier­arten — und ganz speziell beim Menschen — das Überleben der am besten funktionierenden Zusammen­arbeit. Die sozialsten und kooperativsten Gruppen haben sich durchgesetzt und konnten sich erfolgreich weiter­entwickeln.

Daß heute immer mehr Menschen heranwachsen, die nur das Recht des Stärkeren und die Durchsetzung eigener Interessen mit Gewalt gegen andere kennen­gelernt haben, und die all das nicht mehr beherrschen, was jeder Frühmensch im Laufe seiner Kindheit gelernt und eingeübt hat, ist ein entscheidender Aspekt des Dramas, dem dieses Buch gewidmet ist. 

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  Symbole, Normen und Rituale 

Die menschliche Sprache ist ein Code. Sie besteht aus einer Menge abstrakter Symbole, die wir verwenden, um anderen Infor­mationen über uns selbst oder über Verhältnisse im Umfeld weiterzugeben. Das Symbol für "Regen" kann unterschiedlich lauten: "Pioggia", "Rain" oder "Pluie". Entscheidend ist aber, daß die Mitglieder einer Gruppe, die sich unter­einander verständigen müssen, alle den gleichen Code, die gleichen Symbole verwenden. Sie brauchen eine gemeinsame Sprache. Sonst ist eine erfolgreiche Verständigung nicht möglich.

Außerdem brauchen sie gemeinsame Spielregeln. Sie müssen wissen, wie man sich — wenn man zu dieser Gruppe gehört — in bestimmten Situationen zu verhalten hat. Es ist für das Überleben der Gruppe letztlich nicht entscheidend, ob man sich bei der Begrüßung die Hand gibt, die Nase reibt oder die Faust erhebt; ob Monogamie oder Polygamie angesagt ist; und ob Sex vor der Ehe verboten ist oder gezielt organisiert wird. Entscheidend ist aber, daß diese Dinge von allen Mitgliedern einer Sippe gleich gehandhabt werden. Sie brauchen ein gemeinsames Konzept, wie eine Behausung gebaut werden und aussehen soll. Und sie brauchen eine gemeinsame Vorstellung davon, was als "schön" und was als "häßlich" zu betrachten ist. 

All dies erleichtert das Zusammenleben und Zusammenwirken ganz außerordentlich. Die Komplexität, die entstünde, wenn nichts festgelegt wäre, würde nie und nimmer bewältigt werden können. Es käme zu einer babylonischen Verwirrung.

Wenn Menschen den Zusammenhalt in der Gruppe stärken, die Gemeinschaft pflegen wollen, dann müssen sie sich auch gemeinsam freuen und gemeinsam trauern können. Sie müssen gemeinsam Feste feiern, Musik machen, singen und tanzen. Und wenn sie religiöse Gefühle haben, brauchen sie gemeinsame Anlässe, um diesen Gefühlen gemeinsam Raum und Ausdruck zu geben. Die Menschen brauchen, um die Zusammen­gehörig­keit zu stärken, ihre kleinen und großen Rituale. Denn der Zusammen­halt ist nicht durch Instinkt, durch genetisch festgelegte Verhaltens­programme gewährleistet. Er muß laufend gepflegt und gefestigt werden.

Menschen sind nicht wie Bienen oder Ameisen, die ebenfalls ein beeindruckendes Sozialleben entwickelt haben, genetisch und hormonell gesteuerte Automaten. Ihr Verhalten wird durch bewußte, situative Entscheidungen sowie durch die in ihrem sozialen Umfeld herrschende Kultur gesteuert — durch ganz bestimmte Symbole, Normen und Rituale. Diese können von einer Population zur anderen diametral verschieden sein. 

Wenn ein Ire Sie auf der Straße respektvoll grüßt, schüttelt er den Kopf — genau so, wie jeder normale Deutsche dies tun würde, wenn er zum Ausdruck bringen möchte: "Was sind Sie doch für ein Vollidiot!". Menschen­fleisch zu verspeisen, kann höchster Genuß im Rahmen eines Festessens oder absolutes Tabu sein. Aber innerhalb einer bestimmten Gruppe gibt es kein Sowohl-als-auch.

Der Zusammenhalt verlangt einheitliche Regelungen, die klare Ver­hältnisse schaffen und jedem Mitglied der Gruppe sagen, was "gut" und "böse", "erlaubt" und "verboten" ist. Eindeutige Regelungen reduzieren den Auf­wand für Klärungen und Diskussionen. Sie reduzieren die soziale Komplexität auf ein erträgliches Maß.

Kultur ist die Gesamtheit der Sitten und Gebräuche — der Symbole, der Werte und Normen, der Tabus und Rituale — die ein Volk oder eine Menschen­gruppe im Laufe der Zeit entwickelt hat, um das Zusammenleben zu regeln. Die gemeinsame Kultur ist das, was die Menschen verbindet. Sie gibt ihnen eine gemeinsame Identität. Sie gewährleistet Zusammenhalt nach innen und Stärke nach außen.

Der Mensch ist ein Kulturwesen. Er besitzt die Fähigkeit, Kulturen zu entwickeln und zu verändern. Aber genau hier liegt auch eines unserer größten Probleme: Menschliche Kulturen können so verschieden sein, daß sie nicht mehr miteinander vereinbar sind. Fremdheit erregt Mißtrauen und führt leicht zu Abstoßung. Dieser in Jahrmillionen durch die Evolution entwickelte Mechanismus setzt der Gemeinsamkeit, der Solidarität und dem Frieden zwischen Menschen klare Grenzen.

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Christoph Lauterburg  1998