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8.  Völkerwanderung

Lauterburg-1998

 

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Zur Zeit, da dieses Buch geschrieben wird, befinden sich in China 120 Millionen Menschen auf Wander­schaft. China hat in den letzten Jahrzehnten als Folge der Übernutzung ein Drittel seiner Agrarflächen verloren. Die Böden geben nichts mehr her, die Menschen, vorher schon nicht gerade auf Rosen gebettet, beginnen Hunger zu leiden. Sie verlassen ihre Heimat und gehen auf die Suche nach Arbeit und nach einer neuen Bleibe. Beides hoffen sie in einer der großen Städte zu finden. Aber nur für eine Minder­heit geht diese Rechnung auf. Die andern irren umher — eine gigantische Masse entwurzelter, vagabundierender Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben.

Wie überall auf der Welt, wo viele Menschen auf engem Raum und in bitterer Armut leben, wuchert in China das Verbrechen. Nach offiziellen Angaben haben die Sicherheitsorgane in einem Jahr 150.000 kriminelle Banden aus dem Verkehr gezogen. Verbrecher werden zwar massenhaft hingerichtet, aber die Kriminalität breitet sich weiter krebsartig aus. In ganz China regieren in ländlichen Regionen mehrheitlich nicht mehr offizielle Instanzen, sondern lokale kriminelle Banden. Der Staat schafft es gerade noch, in den großen und dramatisch wachsenden Städten ein gewisses Minimum an Sicherheit zu gewährleisten.

Doch dies ist nur das Beispiel Chinas, des bevölkerungs­reichsten Landes der Welt — des Landes, dem nach den Prognosen der Wirtschafts­experten die Zukunft gehört.

   Zug ins gelobte Land  

Überall auf der Welt sind Menschenmassen in Bewegung gekommen: im gesamten asiatischen Raum, in Süd­amerika, in Afrika, in Europa. Zum einen verlassen Menschen ihre Heimat, um in ein anderes, tatsächlich oder vermeintlich wohlhabenderes Land aus­zuwandern. Zum anderen flüchten die Menschen vom Lande, wo es keine Arbeitsplätze und häufig genug auch keine Nahrung mehr gibt, in die Städte. 

Und wenn in einer Region Krieg ausbricht, kann es schlagartig zu Flüchtlingsströmen kommen, die Millionen zählen. Insgesamt dürften heute halb so viele Menschen entwurzelt umherziehen wie zur Zeit der historischen Völkerwanderung im 6. bis 8. Jahrhundert insgesamt die Erde bevölkerten.

Die moderne Technik hat die Menschen bis in die entlegensten Winkel der Erde erreicht. Der überwiegende Teil der Menschheit hat heute Zugang zu einem Fernsehgerät. Viele haben zwar kein frisches Wasser und kennen keine Toiletten. Aber ein einfacher Solarkollektor, eine Satellitenschüssel und ein Fernsehgerät sind bis ins Innerste von Afrika fast immer in erreichbarer Nähe.

Was geht in einem Menschen vor, der nicht lesen und schreiben kann, am Hungertuch nagt, aber täglich <Dallas>, <Denver Clan> und <Baywatch> vorgeführt bekommt? Er sieht, wie die Reichen auf dieser Welt leben. Er weiß, daß ein Eldorado existiert. Und er riskiert, wenn es sein muß, sein Leben, um dahin zu gelangen.

   Flucht in die Stadt 

Die Flucht vom Land in die Stadt hat weltweit zwei Hauptursachen: die Unfruchtbarkeit der Böden als Folge von Erosion und Übernutzung und die Konzentration der fruchtbaren Böden in den Händen weniger Groß­grundbesitzer, welche ihre Farmen mit modernster Technologie großräumig bewirtschaften. Die Chance der Besitzlosen, als Zugewanderte in einer Stadt Arbeit zu finden, ist zwar gering — aber statistisch betrachtet immer noch größer als auf dem Lande.

Auf der ganzen Welt wachsen deshalb die Städte — Mexico-City beispielsweise um 2000 Personen pro Tag. Zur Jahr­tausend­wende wird jeder zweite Erdenbürger ein Städter sein. Um 2015 wird mit weltweit 543 Millionen­städten gerechnet, wovon 30 Megametropolen mit 10, 20, 30 oder 40 Millionen Einwohnern sein werden. In Mexico-City leben heute 18 Millionen Menschen. Dieser Stadtmoloch wächst jedes Jahr um die Bevölkerung der Stadt Stuttgart und dürfte im Jahre 2020 etwa 46 Millionen Menschen zählen. Und um 2025 werden bereits zwei Drittel der Menschheit in Städten leben, in Latein­amerika, der am stärksten urbanisierten Region, sogar 85 Prozent.

So lauten zumindest die Prognosen des World Resources Institute, der Weltbank und der UNO. Daß diese Voraus­sagen auf reichlich optimistischen Annahmen bezüglich der Ernährungslage, des Gesundheits­zustandes der Menschen sowie der Belastbarkeit urbaner Infrastrukturen beruhen, sei hier nur am Rande vermerkt.

    Konflikt der Kulturen   

Die mit der Migration verbundenen Komplikationen beginnen damit, daß jeder Neuankömmling als zusätz­licher Konkurrent um Brot und Arbeit die Notlage der bereits vorhandenen Einwohner verschärft. Dies weckt schon mal keine Sympathien. Sprachliche Verständigungs­schwierigkeiten kommen erschwerend hinzu. 

Vor allem aber prallen völlig unterschiedliche Welt­anschauungen und Kulturen aufeinander. Das Ergebnis ist, daß die Menschen sich nicht mehr wechselseitig als "ihres­gleichen" verstehen und akzeptieren. Wer nicht in einem Ghetto leben und sich zumindest im engeren Umfeld gegen Fremd­einflüsse abschirmen kann, dessen bisheriges Wertsystem ist in einer turbulenten und zumeist feindlichen Umwelt innerhalb kürzester Zeit dem Zerfall ausgeliefert. Er verliert seine seelische Heimat und seine innere Orientierung.

Fremdenhaß und Rassismus gehören zu den gefährlichsten Auswüchsen der modernen Zivilisations­gesell­schaft. Es kann hier nicht darum gehen, diese Phänomene zu legitimieren. Aber man sollte sich mindestens darum bemühen, zu verstehen, wie und warum sie entstehen. 

Das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen setzt zweierlei voraus: Ein wechselseitiges Kennenlernen und eine wechselseitige Anpassung. Wenn aber Menschen unterschiedlichster Herkunft derart durch­einander­gewirbelt werden, wie dies heute in städtischen Agglomerationen der Fall ist, noch dazu in einem knallharten Wettbewerb ums nackte Überleben, kann ein derartiges Zusammen­wachsen gar nicht stattfinden. Jeder bleibt sich selbst der Nächste — und potentieller Feind des anderen.

Es sind leider immer die einen, die in ihrem Alltag unmittelbar von der Einwanderung fremder Menschen betroffen sind — am Wohnort, in der Schule, auf der Straße und, so vorhanden, am Arbeitsplatz —, und es sind andere, die darüber wissenschaftliche Abhandlungen schreiben oder politische Thesen entwickeln.

   Multiplikation des Mangel  

Versorgung und Entsorgung sind in einer Stadt mit Millionen von Armen nicht nur ein wirtschaftliches, sondern vorab ein logistisches Problem gigantischen Ausmaßes. Um beim Beispiel Mexico-City zu bleiben, weil hier konkrete Zahlen verfügbar sind: 

Einer Stadt pro Sekunde 63.000 Liter Wasser zuzuführen, ist schon nicht gerade einfach. Diese Wassermenge — sie entspricht der­jen­igen eines mittleren Flusses — innerhalb der Stadt zu verteilen, noch schwieriger. Die Gesamtlänge der Wasser­leitungen beträgt 12.000 km — etwas mehr als ein Viertel des Erdumfanges. 4000 km des gesamten Netzes sind verrottet und lassen das Wasser versickern, bevor es irgendwo aus einem Hahn laufen kann. Und jeden Tag sollte für 2000 neue Einwohner Zugang zu Wasser geschaffen werden.

Hunger wird in der Großstadt für viele noch mehr zum Problem als auf dem Lande. In allen großen Metropolen rund um den Globus zeigt sich das gleiche Bild: kirchturmhohe Müllhalden; Schwärme von Möwen und Ratten; Heere barfüßiger Frauen und Kinder, die sich im rauchenden Abfall auf die neu ankommenden Kehrichtladungen stürzen, um sie nach etwas Eßbarem oder Verwertbarem zu durchsuchen, stundenlang, in einem Gestank, vor dem wir panikartig die Flucht ergreifen würden.

   Ersticken im Dreck  

Smogalarm und Atemwegserkrankungen sind auch in europäischen und amerikanischen Großstädten längst keine Seltenheit mehr. Aber in den Ballungs­zentren der Entwicklungsländer ist das Leben buchstäblich lebens­gefährlich geworden. In Mexico-City laufen 3,5 Millionen Autos, die meisten veraltet, verrostet und ohne Katalysatoren. Pro Tag werden 43 Millionen Liter Brennstoff verbraucht und 600.000 Liter Lösungs­mittel in die Luft gepustet. 40% der Tankstellen sind leck und verseuchen das Grundwasser. An 345 von 365 Tagen herrscht Smogalarm. Ähnlich liegen die Dinge in Sao Paulo, in Santiago de Chile, Bangkok oder Neu-Delhi. In der Hauptstadt Indiens leiden 4 Millionen Menschen an Atemwegs­erkrankungen, ein hoher Prozent­satz der Kinder an Asthma.

In den Metropolen der Schwellenländer, wo sich ein gewaltiger Wirtschaftsboom anbahnt, steht den Einwohn­ern das Schlimmste noch bevor. Ein ungezügeltes Wachstum läßt Städte wie Jakarta, Kuala Lumpur, Chengdu, Schanghai oder Peking zu flächendeckenden Baustellen werden. Der motorisierte Straßenverkehr verzeichnet dramatische Zuwachsraten — und die Luft wird derart verpestet, daß man zum Teil die Sonne kaum mehr sieht.

In den neuen Wirtschaftsräumen Asiens kommt zweierlei zusammen: Ein atemberaubendes Wachstum — und eine so gut wie totale Gleichgültigkeit, was die Umwelt betrifft. Das Ausmaß der Umweltzerstörung, die in diesem Teil der Welt zur Zeit stattfindet und sich in den nächsten Jahren fortsetzen wird, übersteigt jede Vorstellung. Daß wir uns — nach allem, was wir in der Vergangenheit selbst verbrochen haben — in einer schlechten Position befinden, um den Schwellenländern ins Gewissen zu reden, steht auf einem anderen Blatt.

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