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Teil 3  Zeitbombe Gesellschaft

11 - Leben in Megalopolis

 

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Menschen verlassen ihre Heimat nicht ohne triftigen Grund. Wer alle Brücken hinter sich abreißt, tut dies, weil er da, wo er herkommt, nicht mehr leben kann. Die meisten sind auf der Flucht vor existenz­bedrohender Armut, viele vor Krieg oder politischer Verfolgung. Und einige sind von Haus aus kriminell. Sie sind auf der Flucht vor den Konsequenzen ihrer Verbrechen. — Dies sind die Hintergründe der heutigen Massenmigration. Der Weg führt häufig in ein fremdes Land, und er führt fast immer in die Stadt. In allen Erdteilen konzentriert sich die Bevölkerung immer mehr in urbanen Ballungs­zentren. Die Zukunft der Mensch­heit entscheidet sich in Megalopolis.

  Fremde unter Fremden 

Wenn man verstehen will, was in den Schmelztiegeln wuchernder Großmetropolen passiert, muß man sich die Situation von Neuzuzüglern vergegen­wärtigen: Sie sind in der Regel ungebildet, sozial entwurzelt und maus­arm. Viele haben ihr letztes Geld für die Reise ausgegeben oder an kriminelle Schlepper­banden verloren. Sie kommen in eine völlig fremde Welt. Sie haben allein schon Mühe, sich zu verständigen. Sie sind nirgends will­kommen. Legale Arbeit ist Mangelware. Und sie brauchen Nahrung und Unterkunft, um zu überleben. Der Weg in die Prostitution und ins Verbrechen ist deshalb für viele so gut wie vorpro­grammiert.

Menschen sind zwar grundsätzlich fähig zu wechselseitigem Respekt, zu partnerschaftlicher Zusammen­arbeit, ja sogar zu Liebe, Freundschaft und Solidarität. Über diese Fähigkeit verfügen aber nur Menschen, die in einem einigermaßen intakten sozialen Umfeld aufgewachsen sind — und sie zeigen sie nur Mitmenschen gegen­über, die sie kennen, und denen sie vertrauen. Fremdheit dagegen — Fremdheit der Hautfarbe, der Sprache, der Denkweise, der Religion oder auch nur der Kleidung — ist der Nährboden für Mißtrauen, Aggression und Haß.

Einvernehmliches Zusammenleben setzt einigermaßen dauerhafte Beziehungen zwischen den Menschen vor­aus. Sie müssen sich persönlich kennen und Vertrauen aufbauen können. Wo immer Menschen in Massen bunt durch­einander gewürfelt werden, bleiben sie sich gegenseitig fremd. Wie im ersten Teil dieses Buches — "Das Erbe des Neandertalers" — dargelegt: Menschen, die völlig fremd sind, werden von anderen nicht als ihres­gleichen, häufig gar nicht als "Menschen", sondern lediglich als "Objekte" wahrgenommen. Die natürliche "Beiß­hemmung" fällt weg. Der Aggression, der Gewalt, der Hinterlist und der Ausbeutung sind Tür und Tor geöffnet. Die Geschichte der Menschheit lehrt, wie entsetzlich Menschen mit fremden Menschen — sei es in fernen Regionen, sei es im eigenen Land — umgegangen sind. Über die Jahrtausende. In allen Erdteilen. Bis heute.

Der extreme Anstieg der Kriminalität, der mit der Migration einhergeht, ist nicht nur eine Folge der Armut, sondern auch der Kälte und Brutalität, mit der Menschen einander begegnen, die sich wechselseitig fremd sind und keine Gelegenheit haben, sich in angemessener Zeit besser kennenzulernen. Der Neuankömmling ist für die bereits Ansässigen nicht ein Mitmensch, sondern ein Fremdling — und das neue Umfeld ist für viele Zuzügler nicht mehr als ein wie auch immer auszubeutendes "Jagdrevier". Da ist häufig auch nicht die Spur einer inneren Hemmung zu erkennen — höchstens Angst vor Strafe.

  Der Streß der Masse 

Vielleicht haben Sie bei sich selbst schon einmal festgestellt: Der Mensch braucht ab und zu mal seine Ruhe. Auch wer mit Menschen zusammenlebt, die er liebt, braucht hin und wieder einen Platz, wo er allein und ungestört ist. Die besten Familien und Wohnge­meinschaften funktionieren nur, wenn jeder ein Refugium hat, wo er sich zurückziehen kann. Wenn zu viele Individuen zu lange auf zu engem Raum zusammenleben müssen, führt dies zu Streß — zu sogenanntem Dichtestreß.

Was man bei Menschen im praktischen Leben beobachten kann, ist bei Tierarten, die in ihrer natürlichen Umwelt Auslauf haben, in systematischen Experimenten wissenschaftlich untersucht worden: das Verhalten unter Dichtestreß.

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Ob bei Hühnern, Mäusen, Ratten oder Spitzhörnchen: Länger dauernder Dichtestreß führt zu Aggressionen, zu schwerwiegenden Verhaltensstörungen sowie zur Schädigung des Immun­systems. Die Tiere werden nervös. Sie greifen sich gegenseitig an. Es kommt zu schweren Ver­letzungen, es gibt Tote. Man kann Mäuse dazu bringen, an Magengeschwüren und bösartigen Geschwülsten zu erkranken — ausschließlich dadurch, daß man zu viele von ihnen auf zu engem Raum zusammen­pfercht. Ratten pflanzen sich nicht mehr fort, weil keine Schonräume für die Bildung und Entwicklung von Familien mehr vorhanden sind. Dafür rotten sich Banden männlicher Jungtiere zusammen, die marodierend umher­ziehen und ihre Umwelt terrorisieren — Vergewalt­igung, Totschlag und Kannibalismus eingeschlossen.

Das Leben in der Stadt ist von vornherein mit Streß verbunden: Verkehrslärm, Gestank und Giftstoffe, aber auch allgemeine Hektik, Unfallgefahr sowie kriminelle Bedrohungen sorgen dafür. Wer außerdem noch mit zu vielen Menschen in einer zu engen Mietwohnung oder gar in einer Bretterbude ohne jeglichen Schutz vor Lärm, Kälte, Nässe, Ungeziefer und Eindringlingen lebt, steht permanent unter starkem Streß. Dies sind nicht Bedingungen, unter denen ersprießliche menschliche Beziehungen gedeihen können. Alkohol wird zum Dauer­begleiter, Prostitution ist für viele die einzige Möglichkeit des Broterwerbs, Familien brechen auseinander. Kinder wachsen in einer Welt auf, in der jeder sich selbst der Nächste ist, und viele landen auf der Straße, noch bevor sie lesen und schreiben gelernt haben.

Einsamkeit, Gefühlskälte, Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Brutalität können nirgends so leicht, so effizient und so nachhaltig gelernt und eingeübt werden wie in einer anonymen Masse von Menschen, die sich gegen­seitig fremd sind.

Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen sind letztlich von zwei Faktoren abhängig: Erstens, vom verfügbaren Einkommen, um die unmittelbaren Grundbedürfnisse zu befriedigen. Dieses mißt sich ganz simpel in Geld. Zweitens, von der sogenannten Lebensqualität. Diese mißt sich nicht in Geld, läßt sich aber anhand definierter Kriterien objektiv feststellen: saubere Luft, sauberes Wasser, gesunde Nahrung; geschützter Wohn­raum; genügend Platz; Ruhe; soziale Integration; Schulbildung und medizinische Versorgung; Möglichkeiten zu kreativer und naturnaher Freizeitgestaltung. Bezeichnender­weise wird mit dem Begriff "Freizeit" still­schweigend vorausgesetzt, daß der Mensch noch etwas anderes hat, nämlich Arbeit. Auch dies gehört letztlich zur Lebensqualität: eine sinnvolle und befriedigende Beschäftigung.

Diese an sich ganz einfachen Merkmale zeigen: Die Armenviertel der Großstädte sind buchstäblich das Gegenteil dessen, was Menschen brauchen, um gesund leben und sich sozial entwickeln zu können. Sie sind vielmehr gigantische Brutstätten der Krankheit, der Gewalt und des Verbrechens.

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Ghetto der Reichen

Wer Geld hat, will nicht an einem Ort wohnen, wo es viele Arme gibt. Und wer kein Geld hat, kann es sich nicht leisten, dort zu wohnen, wo es Reiche gibt. Resultat: Weltweit sind Arm und Reich fein säuberlich voneinander getrennt. Je mehr Arme es gibt, desto höher die Kriminalität — und desto rigoroser müssen die Reichen ihre Villen und Wohnsiedlungen nach außen abschirmen.

Ob in den USA, in Südamerika, in Indien oder teilweise auch bereits in Europa: Villen sind ausgebaut wie Festungen, Wohn­siedlungen für Wohlhabende mit Mauern und Stacheldraht hermetisch nach außen abgeriegelt. Ein eigener, schwer­bewaffneter Sicherheitsdienst mit Hunden patrouilliert Tag und Nacht. Alles, was man für das tägliche Leben benötigt, ist intern vorhanden: der Supermarkt und das Restaurant, die Apotheke und die Modeboutique, der Internist und der Zahnarzt, der Friseur und das Kosmetikstudio, die Schule und der Kindergarten, die Tankstelle und die Autowaschanlage, das Fitness-Zentrum und der Tennisplatz.

Frauen und Kinder verbringen mit Ausnahme des Urlaubes praktisch ihr ganzes Leben auf dieser Insel der Glückseligen. Sie verkehren nur noch mit ihresgleichen. Ihr Bild von der Außenwelt beruht auf dem Fernsehen. Und wer täglich raus muß zur Arbeit, pendelt im gepanzerten Wagen. Denn jenseits der Mauer beginnt das Niemandsland. In den USA wird heute für private Sicherheitskräfte doppelt soviel Geld aufgewendet wie für den gesamten staatlichen Polizei­apparat.

Ghetto der Armen

Und dies sind die Ghettos der Armen: gigantische Wohnsilos mit Tausenden und Abertausenden gleich­förmiger und überbelegter Wohnungen — eine Betonwüste ohne Bäume und Grünflächen, durchsetzt mit Baustellen und Bauruinen sowie Bergen von Schutt und Kehricht. In den westlichen Ländern gibt es im Durchschnitt pro Kopf der Bevölkerung 1,5 umbaute Räume. In den ärmeren Ländern liegen die Werte zwischen 0,45 (Mexiko) und 0,36 (Indien). Und dies sind die Durchschnittswerte. In den Armen­vierteln leben in der Regel 4 bis 6 Personen in einem Raum — in einem Gebiet ohne öffentliche Verkehrsmittel, Schulen oder Krankenhäuser.

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Und dann die Bidonvilles, die Bretterbudenstädte, die Heimat der Ärmsten der Armen. Staub, Dreck und Gestank allenthalben. Kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, meist noch nicht einmal elektrischer Strom. Verlumpte und dreckige Kinder. Viele kranke Menschen. Keine Straßen, keine Wege, nur festgestampfter Naturboden. Das Regenwasser fließt oft mitten durch die Hütten, eine dreckige, stinkige Brühe — und doch die einzige Reinigung, welche wegschwemmt, was überall herumliegt: Hundekot, Abfälle, menschliche Fäkalien.

Der Bürgermeister von Rio de Janeiro wohnt in einer wunderschönen, sorgfältig befestigten und streng bewachten Villa — nur einen Steinwurf vom Rand der Favelas, der berüchtigten Slums entfernt. Hier lebt ein Drittel der Bevölkerung der Multi­millionen­stadt, und hier wird im Durchschnitt alle zwei Stunden ein Mord verübt. "Jede Nacht", erklärt der Bürgermeister, "hören wir da drin Schießereien. Aber wir gehen gar nicht erst rein. Am Rande der Favelas hört die Autorität des Staates auf. Das ganze Gebiet wird von kriminellen Banden kontrolliert. Da kann auch die Polizei nicht rein. Die Beamten würden nicht mehr lebend herauskommen. Wenn wir eine Razzia durchführen, holen wir die Armee. Aber bis die Soldaten kommen, sind die Gangster meistens verschwunden. Wenn nicht, kommt es zu Schießereien, und dann gibt es Tote. Wir befinden uns hier im Krieg."

Zukunftslabor Slum

Drogenhändler und ihre mafiaartig organisierten Banden sind die eigentlichen Herren der Favelas. Sie sind die einzigen Arbeit­geber, und sie haben die gesamte Bevölkerung hinter sich. Die Drogenbarone erklären den Bewohnern der Favelas: "Wir holen das Geld bei den Reichen und bringen es euch."  Daß in Tat und Wahrheit nur Brosamen in den Favelas hängen bleiben, braucht niemand zu wissen. Das Rezept funktioniert: Die Gangster sind die Helden, der Staat ist der Feind.

Die bewaffnete Drogenmafia hat die unumschränkte Macht übernommen und den Staat ersetzt. Sie macht die Gesetze — und sorgt dafür, daß sie eingehalten werden. Sie verteilt Aufgaben und Arbeitsplätze. Sie rekrutiert und bezahlt die Spitzel und die Killer, die in Massen gebraucht werden. Wenn bei einer Schießerei ein Soldat ums Leben kommt, geht ein Freudengeschrei durch die Favelas. Wenn ein Gangster erschossen wird, gibt es eine Trauerfeier nach Art eines Staats­begräbnisses, an der die gesamte Bevölkerung der näheren Umgebung teilnimmt. "Hier kann man studieren, was weltweit auf uns zukommt. Das Schicksal von Rio ist das Schicksal aller großen Städte auf dieser Erde." So der Bürgermeister.

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Der Staat hat schon heute in keinem Land mehr die Kapazität, um allen seinen Bürgern Sicherheit zu gewähr­leisten. Er konzentriert sich auf die Stadtzentren, auf wichtige Einrichtungen sowie auf die Siedlungen der herrschenden Klasse. In den anderen Gebieten wird die Macht schrittweise von einer anderen Autorität übernommen — von einer Autorität, die gut organisiert ist, und die als einzige über die Mittel verfügt, um ihrer Macht Nachdruck und Achtung zu verschaffen: Waffen. Diese Autorität ist die organisierte Kriminalität. Ob in Moskau, in der chinesischen Provinz oder in den Favelas von Rio: Der Staat hat abgedankt. Und die Vorstädte großer europäischer oder amerikanischer Metropolen — etwa die Banlieue von Paris — sind davon nicht mehr weit entfernt.

Die Blätterteiggesellschaft

Auflösungserscheinungen zeigen sich aber auch beim wohlhabenderen Teil der Menschheit. Mobilität, Tele­komm­unikation und Globalisierung führen zu dramatischen Veränderungen in unseren gesell­schaft­lichen Strukturen. Manager stehen ihren Kollegen rund um den Globus, mit denen sie ständig verkehren, oft näher als ihren Mitarbeitern in den nächsttieferen Etagen. Wissenschaftler und Fachleute aller Art kommunizieren intensiv mit ihresgleichen über alle Grenzen hinweg — und haben oft in ihrem nächsten Umfeld kaum mehr engere Freunde.

Dieser Trend wird durch die Verkabelung der Menschen im Cyberspace noch verstärkt. Über Internet werden Beziehungen geknüpft mit Menschen in den entferntesten Ländern, die das gleiche Hobby haben oder sich für das gleiche Thema interessieren. Bald hat man eine Reihe von Freunden bei den Antipoden — und weiß nicht, wie der Wohnungsnachbar heißt. Die Gesellschaft wird Schritt für Schritt in immer feinere und vielfältigere horizontale Schichten aufgelöst. Das Gefühl der Zugehörigkeit geht immer mehr verloren, der Begriff "Heimat" verliert seinen Sinn.

Marc Andreessen, Mitbegründer der auf Internet-Anwendungen spezialisierten Softwarefirma Netscape, beschreibt die Entwicklung wie folgt: "Geographische Grenzen, die bisher einen Staat zusammen­gehalten haben, werden immer unwichtiger. Die Mitglieder einzelner Gruppen kommun­izieren lieber weltweit unter­einander, statt mit ihrem Nachbarn zu reden. Wir werden uns noch damit befassen müssen, was das für unsere Gesellschaft heißt."

* (d-2015:)  wikipedia  Marc_Andreessen  *1971  

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Die Trennung der Gesellschaft in Besitzer von Know-how und Habenichtse geht nach Andreessen Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Trennung, denn Informationstechnik ist teuer und ihre Nutzung setzt Bildung voraus. "Die Welt spaltet sich in eine Klasse von gut verdienenden Professionals, die Häuser, Computer und Geländewagen besitzen, und eine Unterklasse, die von der Hand in den Mund lebt. Diese Unterklasse hat keinerlei Verhandlungs­position den Arbeitgebern gegenüber, in den USA noch nicht mal eine Kranken­versicherung, und schon gar keine Sicherheit, auch morgen noch einen Job zu haben." Darin liegt — so Andreessen — politisches Sprengpotential. "Wenn man die Mehrheit der Bevölkerung auf diese Weise entrechtet, besteht auf lange Sicht die Gefahr einer Revolte gegen die privilegierte Oberschicht."

  Kollektive Verantwortungslosigkeit 

Die Spezialisierung der Tätigkeiten und die soziale Schichtung der Gesellschaft haben fatale Konsequenzen. Immer mehr Menschen verkehren nur noch in mehr oder minder geschlossenen Zirkeln mit ihresgleichen, haben kaum Kontakt mit Vertreter­innen und Vertretern anderer Schichten und verlieren den Bezug zur sozialen Realität in der Gesamtbevölkerung. Jeder geht seinen privaten und beruflichen Geschäften nach — und niemand fühlt sich dafür verantwortlich, was insgesamt passiert.

Daß Otto Normalverbraucher kein politisches Wesen ist, und sich um nichts kümmert, was über seinen engen Horizont hinausgeht, ist in diesem Buch hinlänglich besprochen. 

Die Trennung der eigenen Tätigkeit von der Gesamt­verantwortung hat aber auch bei obersten Verantwortungs­trägern einen Perfektions­grad erreicht, der jede Hoffnung auf eine Lösung unserer Probleme und Konflikte zunichte macht.

Ein Topmanager fühlt sich äußerstenfalls gerade noch dafür verantwortlich, was seine Firma tut. Wenn in der Branche, der sein Unternehmen angehört, in der Wirtschaft oder erst recht in der Gesellschaft insgesamt problematische Dinge passieren — dies alles sind nicht seine Obliegenheiten. Er ist ja kein Politiker. Der Leiter eines Forschungsinstitutes, der Chefarzt, der Rektor einer Universität — jeder sitzt in seinem Kästchen und ist froh, wenn er seinen eigenen Kram einigermaßen ordentlich geregelt kriegt. Nicht, daß da nicht hart gearbeitet würde. Aber jeder zieht haarscharfe Grenzen, wofür er sich interessiert und wofür er sich engagiert. Wir sind eine Gesellschaft von Spezialisten.

Wenn ein Topmanager, ein Hochschullehrer, ein Rundfunkintendant oder ein anderer Würdenträger unserer Gesellschaft sich öffentlich zu Wort meldet, dann ist es mit an Sicherheit grenzender Wahr­schein­lichkeit zu einem Thema, das seinen unmittelbaren Interessen- und Zuständig­keits­bereich tangiert. Dann vertritt er die Interessen seiner Institution, seines Berufsstandes, seiner Fakultät oder seiner Branche. Wie gewählt und ausgewogen er sich immer ausdrücken mag — er ist in der Regel nichts weiter als ein Lobbyist.

  Ende des Dialogs 

Es gilt in unserer Kultur auch als vornehm, sich so zu verhalten. Es wird als durchaus legitim betrachtet, daß man sich nur mit Dingen befaßt und sich nur zu Fragen äußert, von denen man als Fachmann oder Fachfrau unmittelbar etwas versteht. Sach­kompetenz ist gefragt. Zuständigkeit oder Nichtzuständigkeit regelt den Energiefluß. Und niemand, der den Staatsbeamten — durchaus zu Recht — übertriebenes Zuständigkeitsdenken vorwirft, hat das Gefühl, daß es vor seiner eigenen Türe etwas zu wischen gäbe.

Wenn aber alle — die Vertreterinnen und Vertreter der Elite genauso wie die einfachen Bürgerinnen und Bürger — sich vornehm aus allem raushalten, was nicht ihren unmittelbaren Zuständigkeits- und Interessen­bereich tangiert, dann muß man sich um die Zukunft unserer Gesellschaft ernsthafte Sorgen machen.

Die trennenden Faktoren nehmen dramatisch zu: zunehmender Reichtum an der Spitze, zunehmende Verarm­ung an der Basis der sozialen Pyramide; intensive Beschäftigung für die einen, massenhafte Arbeits­losig­keit bei anderen; direktes Aufeinanderprallen der Sprachen und Religionen als Folge der Migration; wachsende Angst und Mißtrauen aufgrund der zunehmenden Kriminalität; Zerfall der Familien und Verwahr­losung der Jugend. Allein in Rußlands Städten gibt es bereits eine Million Straßenkinder. Sie werden zum Teil wie streunende Hunde eingesammelt und in geschlossene, maßlos überfüllte Heime gesteckt, wo sie gehalten werden wie Tiere und psychisch und physisch verelenden. Denn der Staat hat kein Geld.

Was uns verloren gegangen ist und bitter fehlt, ist das gemeinsame Palaver rund ums Lagerfeuer — der Ort wo alle, unbesehen des Alters, des Geschlechts und der besonderen Funktionen, miteinander diskutieren, und irgendwann gemeinsam beschließen: Unternehmen wir etwas oder unternehmen wir nichts? Und wenn wir etwas unternehmen wollen, wie packen wir's an. Wir. Nicht die.

Dies hat nichts mit Pfadfinderromantik zu tun. Wenn kein ganzheitlicher und partnerschaftlicher Dialog stattfindet, kann auch nicht gemein­schaftlich gehandelt werden. Die Gesellschaften werden von innen heraus zersetzt.

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Christoph Lauterburg   1998  Der globale Crash und die Zukunft des Lebens