Ulrich Linse

Ökopax und Anarchie

Eine Geschichte der
ökologischen Bewegungen
in Deutschland

 

Mit 33 Schwarzweißabbildungen

1986 im dtv, Originalausgabe

1986  163/192 Seiten

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Utopiebuch     1985-Buch

 

Inhalt    von Ökopax und Anarchie

Vorwort: Wider die Geschichtslosigkeit ökologischen Denkens  (7)

1  Vom bürgerlichen Antimodernismus zum völkischen Ökomodernismus  (14)

Arbeiterschaft und Natur oder Der »andere Fortschritt«  (42)

3  Die religiöse Vision von Ökopax und der Ort von Ökotopia  (57)

4  Radikaler Ökosozialismus der Weimarer Zeit: die »Siedlungs-Aktion« 72

5  Alternativer Ökoanarchismus: die »Naturrevolution« 95

6  »Menschen der Gandhi-Tat« 125

7  Die Grünen: alter Wein in neuen Schläuchen? 153

Anhang: 
Über die Autobiographie Paul Robiens 164 

Anmerkungen 168 
Literaturverzeichnis 186
Personenregister 190

 

 

 

Wider die Geschichtslosigkeit ökologischen Denkens

Vorwort 1986 von Ulrich Linse

 

»Die meisten Fragen und Forderungen unserer Kultur sind eigentlich Zukunftsprobleme. Wir tun unser Teil: Die Enkel müssen vollenden.
Naturschutz bildet eine gewaltige Ausnahme
. Wo wir nicht im Zeichen der Stunde resolut eingreifen,
da bleibt unseren Enkeln nichts übrig als die Klage um ein unwiederbringlich Verlorenes.« – Wilhelm Bölsche

7-13

Geschichtslosigkeit ist ein besonderes Kennzeichen der »neuen sozialen Bewegungen« in Deutschland. Sie sind zu aktivistisch und kurzlebig, um sich der Geschichte zu erinnern, während sie selbst Geschichte machen wollen. 

So war zum Beispiel 1976 der vermutliche Schöpfer des Bildes von der neuen »grünen« Bewegung, die dann im Herbst 1977 in Niedersachsen als »Grüne Liste Umweltschutz« erstmals ihre parteipolitische Namensidentität fand, durch grüne Luftballons, die im Mai 1969 im Volkspark von Berkeley hochgelassen worden waren, zum grünen Symbol inspiriert worden.1

Doch er war Deutscher genug, um den Zusammenhang von wirksamer sozialer Bewegung und Farbsymbolik zu spüren und als Nachfahre der Romantiker zu erkennen, daß die grüne Farbe »das Erd- und Pflanzenreich, den gewaltigen Lebensprozeß, der ständig auf- und abwogt«, symbolisiert.

Und doch bleibt der Bezug zu Amerika kennzeichnend für den Kontinuitätsbruch zwischen den »neuen« und den »alten« sozialen Bewegungen in Deutschland und damit auch für die Blindheit gegenüber den übergreifenden Gemeinsamkeiten dieser »deutschen Bewegungen«.3

Es scheint ganz in Vergessenheit geraten zu sein, daß in Deutschland durch die romantische Tradition Franz von Assisis Lobgesang auf die »Mutter Erde« zu einem auf »Mutter Grün« abgewandelt wurde,4 daß schon um die Jahrhundertwende eine neuromantische soziale Bewegung – nämlich die bürgerliche Jugendbewegung – die burschenschaftlichen Farben Schwarz-Rot-Gold auf Mützen und Bändern in »Grün-Rot-Gold« aktualisierte5 und ein >Farbenlied<6 diese vom »Oberpachanten« Karl Fischer eingeführte Neuerung folgendermaßen erklärte:

»Grün ist die Farbe der Natur
Sind Wiesen, Tal und Felder.
In Grün erglänzet rings die Flur,
Die Berge und die Wälder.
Uns treibt's hinaus ins frische Grün
Als freie Burschen dort zu ziehn,
Denn Grün ist unsre Farbe.«

Aber nicht nur die in der freien Natur wandernden wilhelminischen Bürgersöhne und -töchter griffen auf dieses naturwüchsige Farbsymbol zurück, sondern auch die Landsiedlungsbewegung der Weimarer Zeit: 1919 veröffentlichte ein anonymer »Spartakus in Grün, an dem der Rote sterben soll«, ein <Grünes Manifest> in welchem er auf »grünem Land« visionär eine »neue natürliche Lebensweise« erblickte und zur »Expropriation der Städte« aufrief.7

Doch der »faschistische Graben«8 verschlang diese und viele andere Ansätze ökolog­ischen Denkens, desavouierte sie auch dadurch, daß sie nun ausschließlich mit einer »Blut-und-Boden«-Mentalität assoziiert wurden, entwertete sie doppelt, weil mit konservativen Floskeln in Wirklichkeit nur eine auf ökonomisches Wachstum angelegte kriegsvorbereitende agrarische und industrielle Autarkiepolitik verbrämt wurde. 

Die Zersetzung einer ökologisch ausgerichteten Industriekritik war so erfolgreich, daß mit der Gründung der Bundesrepublik die Jahrzehnte dauernde Herrschaft der Parteien des industriellen Wachstums anbrach, bei denen lediglich der Umfang der ökonomischen Steuerung und sozialen Verteilung umstritten war.

Als dann Ende der sechziger Jahre – allen bewußt geworden durch den ersten »Ölschock« von 1973/74 – der Wirtschaft und dem »Fortschritt« plötzlich buchstäblich die Energie auszugehen drohte, war die Verwirrung groß, denn es gab keinerlei relevante öffentlich-politische Debatte über den ökologischen Preis des Industriesystems – trotz der bereits Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre entstehenden Bürgerinitiativen und einiger Kleinstparteien mit Umwelt- und Lebensschutzprogrammen wie der »Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher«, der »Freisozialen Union« oder des »5-Prozent-Blocks«. 

Da mußten insbesondere durch den von der Energiekrise geförderten, aber umstrittenen Ausbau der Kernenergie (seit 1971/72 die »Anti-Atom-Bewegung« als überlokale Erscheinung) und schließlich durch den immer sichtbarer werdenden Zusammenbruch ganzer Ökosysteme die Ängste gewaltig ansteigen und Fluchttendenzen aus der Industrie­zivilisation ausgelöst werden.

So dauerte es einige Zeit, ehe das Selbstverständliche ausgesprochen wurde: »Es gibt Alternativen in der Industriegesellschaft, aber keine zu ihr.«(9) Damit war das Signal gesetzt, die Polarisierung zwischen Ökonomie und Ökologie aufzugeben zugunsten der sachgemäßeren These eines künftigen Miteinanders und der Einsicht über die gegenseitige Abhängigkeit.

8/9

Doch der durch die Krise ausgelöste Bewußtseinsschub hatte schließlich auch die unter­schiedliche Wertigkeit der beiden Sphären gezeigt: »Das Ökosystem ist das Primäre, Grundlage jeglichen Wirtschaftens: Zwar könnte die Natur ohne Wirtschaft weiter­existieren (vielleicht sogar besser als heute); doch die Zerstörung eines Ökosystems hat unweigerlich den Niedergang des darauf aufbauenden Wirtschaftssektors zur Folge.«10 Die Konsequenz daraus war die Forderung nach einer Umkehr des bisherigen Dominanzverhältnisses der Ökonomie über die Ökologie.

Und dies bedeutet mehr als museale Natursanierung inmitten einer von Landschafts­ruinen geprägten hyperindustriellen – wenn auch als »postindustriell« bezeichneten – Industriewelt oder Wagniskapitaleinsatz auf »sanfte« Hochtechnologien, in der Hoffnung, so doch noch den auf ökonomischem Wachstum beruhenden Fortschritts­glauben retten zu können.

9

Den etablierten politischen Parteien, welche die Folgen aus solchen Erkenntnissen für ihr Handeln hätten ziehen müssen, entglitt – abgesehen von Außenseitern wie Herbert Gruhl oder Erhard Eppler – zunächst fast völlig die Initiative (obwohl die SPD bereits 1961 den »blauen Himmel über der Ruhr« zum Wahlkampfthema erhoben und die Bundesregierung 1970 ein »Sofortprogramm« und 1971 ein »Umweltschutz­programm«, allerdings beide völlig unzureichend, vorgelegt hatte). 

Die Initiative lag ganz bei den sogenannten »neuen sozialen Bewegungen« einschließlich der kulturrevolutionären Alternativszene und den Umweltschutz-Bürgerinitiativen, 3000 bis 4000 an der Zahl. In ihrer Folge kam es schließlich zu der kleinen, Anfang 1980 gegründeten Partei »Die Grünen«; logischerweise mußten dann viele annehmen, daß diese allein in der Lage sei, politische Antworten auf die neu entstandenen Fragen zu finden. 

Den Altparteien kam es da sehr entgegen, wenn sie wenigstens in ihrer eigenen Geschichte Ansätze zu einer ökologischen Ausrichtung vorfanden, die ihnen die innere Umstellung möglich machten. Am meisten Glück damit hatte die SPD, die sich nun dankbar ihrer »Naturfreunde«, bisher von der Partei wegen der von ihnen in den vorausgehenden Jahrzehnten an den Tag gelegten politischen Radikalität eher mißliebig betrachtet, zu erinnern begann." 

Den konservativen Parteien, weit geschichtsloser als die SPD, fiel weniger Vergangen­heit zu diesem Thema ein (sogar ihre Hugo Kükelhaus, Werner Lindner oder Alwin Seifert werden ihnen von anderer Seite ins Gedächtnis gerufen).12 Sie mußten zusehen, wie ihnen als den Anhängern eines einseitig verstandenen zerstörerischen Fortschritts nun die »grünen« Ökologen als die wahrhaft Konservativen entgegengehalten wurden.13

Diesen »Grünen« wiederum wurde von den Sozialwissenschaften bestätigt, sie seien eine »neue« soziale Bewegung, und dementsprechend sieht es in ihrem Denken auch aus: »Geschichte kommt bei ihnen nicht vor. Sie turnen herum, als seien sie die ersten auf der Welt, die Erfahrungen machen, alle Erkenntnisse sind brandneu — ihnen ungewohnte Begriffe nehmen sie mit dem Gestus dessen in den Mund, der sie glaubt erfunden zu haben.«14 Ihre historische Unbedarftheit rief die beißende Kritik derer hervor, die auf die Nähe grüner Sozialökologie zu den Denktraditionen der Lebens­philosophie und des Sozialbiologismus verweisen konnten.15

Dies ist eine reizvolle Situation für den Historiker, der bei der Identitätssuche gerne mitwirken möchte. Denn er kann die Konservativen dahingehend beruhigen, daß es bei ihnen nicht nur »Fortschrittsfeinde«16 gab, sondern daß sich der bürgerliche

10

Fortschrittspessimismus in der Weimarer Zeit durch den Druck von Versailler Vertrag, Inflations- und dann Deflationskrise zu einem neuen Kompromiß zwischen Ökologie und Technik zu mausern begann, allerdings die beiden Bereiche nur durch eine mit konservativer Ideologie überhöhte Ästhetik zu vermitteln trachtete und deshalb leicht vom Nationalsozialismus vereinnahmt werden konnte (Kapitel 1).

Die Sozialdemokraten möchte er gerne dahingehend belehren, daß ihr heute hochgejubeltes »ökologisches Frühwarnsystem« in Gestalt der Naturfreunde vor dem Zweiten Weltkrieg zumindest in seinem ökologischen Bewußtsein nicht über den bürgerlichen Naturschutz hinauskam, aber dank seiner dezidiert proindustriellen und antikapitalistischen Wertorientierung auch gegenüber völkischem Romantizismus immun war (Kapitel 2).

Er möchte aber seinen Untersuchungsgegenstand auch nicht auf die Frage nach den historischen Wurzeln einer praktikablen Verbindung von Ökonomie und Ökologie reduzieren, sondern unterhalb dieser Ebene verwirklichbarer Reformen und politischer Kompromisse eine tiefere (manche mögen sagen: archaischere) religiöse Schicht in der Geschichte der heutigen Grünen aufdecken: Hier geht es nicht mehr um die Realpolitik, sondern um grundlegende ethische Entscheidungen. Hier wird die geforderte Stellungnahme nicht durch die Perspektive langer Entwicklungswege relativiert, sondern durch die existentielle Alternative zwischen Heil oder Untergang verabsolutiert.

Neben den Realpolitiker tritt hier die Figur des spirituellen Gurus – und »große Männer« wie Tolstoi oder Gandhi, deren Rezeptionsgeschichte in der deutschen Subkultur im folgenden erstmals untersucht wird, zeigen die Fruchtbarkeit dieser Dimension auf.

Eine solche religiöse Politik oder politische Religiosität mag nicht mit unserem aufgeklärten Weltbild übereinstimmen. Ich glaube jedoch, daß wesentliche Triebkräfte historischen Handelns unerkannt blieben, wollte man sich gegenüber dieser Motivationsebene blind stellen oder sich ihr gegenüber für unzuständig erklären. Wenn es auch dem Historiker nicht zukommt, eine »historia sacra« (Heilsgeschichte) zu schreiben, so fällt doch eine Darstellung der historischen grünen Bewegung auch unter dem Gesichtspunkt einer Heilserwartungsbewegung sehr wohl in seine Kompetenz.

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Mögen auch die Anhänger einer gemäßigten staatlichen Reformpolitik solche »sektierer­ischen« Impulse in der Politik ablehnen, mögen sie das politische Amt in meilenweite Distanz zu dem eines politisch-religiösen Gurus bringen, so dürften doch gerade Zeiten der Krise nicht die gefühlsmäßige Komponente verdrängen, sondern müßten den moralischen Fundamentalismus für sachliches Handeln fruchtbar machen.

Für den Analytiker der grünen Bewegung jedenfalls stellt das idealerweise zwar pro­dukt­ive, tatsächlich aber oft hemmende Wechselspiel zwischen utopischem Rigorismus und praktischer Reformpolitik einen faszinierenden Beobachtungs­gegenstand dar (Kapitel 3 und 4).

Und schließlich konnte ich auch der Verlockung nicht widerstehen, eine immer wieder gehörte These zu widerlegen: daß nämlich die gleichzeitig bürgerliche und linke, ja linksradikale Bewegung, die heutigen radikalen Ökopazifisten und Ökosozialisten, ein Novum seien. Dem läßt sich die historische Kenntnis von der Existenz eines marginalen ökopazifistischen und ökosozialistischen Flügels in der anarchistischen Bewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik entgegenhalten. Bereits damals wurden die Spannungen zwischen diesen Gruppierungen und dem eigentlichen Arbeiter-Anarchismus sichtbar. 

Es gab durchaus Ansätze zu einem Brückenschlag zwischen der Arbeiterbewegung und den radikalen Ökologen; aber auch die Ursachen des Scheiterns solch grün-roter Fronten lassen sich bereits in der Vergangenheit ausmachen (Kapitel 4 und 5). Wer freilich von diesem Buch die Schilderung von Massenbewegungen und Haupt- und Staatsaktionen erwartet, der wird enttäuscht werden.

Sicher gab es auch geschichtsmächtige massenwirksame antimodernistische Ström­ungen in Deutschland – ohne sie wären etwa die Wahlsiege der National­sozialisten nicht denkbar gewesen. Aber die Geschichte der sozialen Bewegungen ist diffiziler: die plötzlich wie ein mächtiger Strom dahinreißenden Bewegungen sind oft über Jahrzehnte ein kleines, unbedeutendes Rinnsal; sie können unter der Einwirkung krisenhafter äußerer Einflüsse bedrohlich anschwellen und nach deren Wegfall ebenso rasch wieder abklingen und nur noch unterirdisch weiterwirken – ein Sammelbett für Unzufriedene und Spinner, aber auch ein fast unsichtbarer Kontinuitätsträger alternativer Konzeptionen und Ideologien im Fluß der Zeit.

Wegen dieses Spezifikums sozialer Bewegungen habe ich mich nicht gescheut, das Interesse des Lesers auch auf zahlenmäßig oft ganz kleine Gruppen – wie die »Naturrevolutionäre« der zwanziger oder die Gandhi-Bewegung der beginnenden dreißiger Jahre – zu lenken.

Vom Umfang der beteiligten Personen her könnte man leicht den Verdacht hegen, hier sollten sektiererische Kuriositäten dem historischen Vergessen entrissen werden, dem sie mangels einer lebendigen Traditionsbildung zu Recht verfallen sind.

Ich glaube indes zeigen zu können, daß gerade in solchen »menschlichen Laboratorien« und nicht im breiteren Strom der bürgerlichen Naturschützer und proletarischen Naturfreunde erstmals radikale ökologische Fragestellungen erprobt und diese auch auf erstaunlich kompromißlose Weise in Lebenspraxis umgesetzt wurden.

Mag sich in den Kapiteln 4 bis 6 auch die Perspektive der Darstellung punktuell verengen, die Geschichte der ökologischen Bewegung auf wenige Einzelpersonen reduzieren, so wird nur in diesen hier zum ersten Mal quellenmäßig erfaßten Kleinstgruppen jene Tiefe und Weite ökologischer Konzeption sichtbar, die man heutzutage mit der Vorstellung verbindet, die den Frieden des Menschen mit der Natur und seinem Mitmenschen – mit »Ökopax«17 also – ansagt.

Daß eine solche Vision nicht nur das Anliegen weniger »Inspirierter«, sondern (vielleicht nur vorübergehend) einer Massenanhängerschaft wurde, ist – wie ich abschließend in Kapitel 7 zeige – historisch in der Tat beispiellos und kennzeichnend für die Politisierung ökologischen Denkens bei den heutigen »Grünen«.

12-13

Ulrich Linse, Vorwort 1986
Wider die Geschichtslosigkeit ökologischen Denkens

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