Start    Weiter

Einführung in die weltgeschichtliche Lage

 

 

11-27

«Der Kommunismus ist tot», rufen die einen. Die anderen fragen: «Der Kommunismus ist tot — was nun?» Angesichts der unvorstell­baren Zerstörungen, welche die Kommunismus-Regime zu verantworten haben, ist der Ton unverhohlener Befriedigung bei den nun obsiegenden Widersachern nur zu berechtigt. Die Zerstörungen sind sichtbar am Leben der Menschen, am Zustand der Städte, am Stand des Naturgeschehens. 

Immer erschreckender sind die Bilanzen einer weiteren zu bewältigenden Vergangenheit. Der <Archipel Gulag> war ihr erster grauenvoller Name; aber viele Namen folgen nun. Unter dem Benennbaren und dem Sichtbaren ahnen wir die gar nicht auszulotenden Tiefenzerstörungen von lebensgeschichtlichem und historischem Bewußtsein, die noch lange unerkennbar Geschichte mitbestimmen werden. In neuer Kritiklosigkeit zeigen sie sich bereits dort wie hier.

Eine der Tiefenschichten solcher nur ganz mittelbarer Zerstörungen zieht sich eben auch durch diese Befriedigung selbst. So berechtigt und heilsam das Aufatmen ist, notwendig für den Neubeginn, so verfehlt ist Genugtuung. Genug getan ist nämlich auf keiner Seite. Im Gegenteil. Bereits die liberalen humanistischen Geister, die vor sechzig Jahren die Freiheit in Europa verteidigten, hatten davor gewarnt, in einem billigen Scheinsieg den Liberalismus zu verlieren. 

«Aber es wäre allzu schmählich, wenn der Antikommunismus sein ganzes Heil von den materiellen Schwierigkeiten seiner Gegner erhoffen wollte. Der Schiffbruch des Kommunismus wäre dann gleichbedeutend mit dem völligen Zusammenbruch des gegenwärtigen Menschen.»1

Wir können wohl kaum sicher sein, daß der inzwischen erfolgte Sieg nicht wesentlich auf die materielle Überlegenheit des Westens gegründet ist und die andere Seite unbeantwortet blieb. Deshalb werden die Fragen in dieser Schrift von den unmittelbaren Grundlagen der Lebensorganisation her aufgegriffen und nicht etwa vom Geist der Verfassung, den eine repräsentative Demokratie praktisch nur begrenzt verwirklichen kann.

#

Der ökonomische, ökologische, humanitäre und geistige Bankrott der kommunistischen Systeme reißt ein riesiges historisches Loch auf, für das plötzlich die westlichen Gesellschaften die Verantwortung zu übernehmen haben.

Wenn hier der klassische «Grundwiderspruch» nicht zu einem Hauptthema wird, so heißt das nicht, daß er als erledigt angesehen werden könne. Die vom Marxismus vertretene These zu «Lohnarbeit und Kapital» kann allerdings nicht länger die geschichtlichen Verhältnisse fassen. Nicht der Antagonismus zwischen Proletariat und Kapital beherrscht unsere gesellschaftlichen Fragen und Aufgaben. Dieser Widerspruch hat seine geschichtliche Form und Zuspitzung verloren. 

Niemand wird im Ernst heute noch von Klassen sprechen wollen. Der Status und die «Charaktermaske» des Proletariers wie des Kapitalisten sind zerfallen. Die Rollen des Unternehmers und des Arbeiters haben wesentliche Charakterzüge an eine allgemeine Charakterlosigkeit verloren, deren Unterschiede nach Kriterien der Macht und des Zugriffs auf Machtmittel beschreibbar sind.

Selbstverwirklichung und Genuß sind der Gesellschaft als Ganzem zu Problemen geworden. Konstitutiv für diese Probleme sind Formen der Enteignung und der Entfremdung, die längst nicht mehr aus dem Mangel an materiellen Verfügungsmöglichkeiten direkt abgeleitet werden können. Jedenfalls gilt dies nicht länger für die sogenannten zwei Drittel der Gesellschaft, während das dritte Drittel eher in eine notleidende Außenseiter­position als in einen systematischen Gegensatz gedrängt wird.

12/13

Soziologisch betrachtet sind viele, die einst zur Arbeiterschaft gehört hätten, entweder Angestellte oder eben Arbeitslose. Unternehmer finden sich immer weniger. Ihre einstigen Rollen für die Organisation der Industriewelt haben ebenfalls Angestellte weitgehend übernommen.

Unterscheiden lassen sich die einen und die anderen Angestellten — sowie viele Arbeitslose und viele der noch existierenden «kleinen Selbständigen» — vor allem nach dem Grad ihrer Abhängigkeit von fremden Entscheidungen und dem Pegelstand ihres «Lebensstandards». Mancher Handwerker, der nur als Zulieferer für einen Großbetrieb durchkommen kann, ist nicht weniger abhängig als ein mittlerer Angestellter. Die meisten Manager wissen nicht einmal mehr, welche Fähigkeiten und Anforderungen einen Kapitalisten auszeichneten, der seinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft einnahm.

Die Abhängigkeiten sind äußerst verschiedene; aber diese Unterschiede haben nicht das Prägende an sich, von dem her wir bestimmte historische Aufgaben entwerfen könnten. Die «Lebensstandards» sind sehr verschieden hoch; aber mit dem jeweiligen Pegelstand ist keine eigene Lebensform verbunden. Nicht nur die proletarische und die bäuerliche Kultur, sondern auch die bürgerliche haben ihren Geist aufgegeben. Wie die Kriterien im sogenannten Sport nur noch «höher, schneller, weiter» heißen, so sind auch die verschiedenen Lebensformen nur noch quantitativ unterschieden. Ob der Tineff, mit dem man seinen Alltag möbliert, mehr oder weniger gekostet hat, macht keinen Unterschied dafür, wie wahrhaft eine Gestalt sich andeutet. Wir leiden sehr unterschiedlich bequem. Aber wieviel eigene Wahrnehmungsfähigkeit, wieviel Erfahrungsvermögen und wieviel wahrhafte Wirksamkeit wir unseren Verhältnissen abringen können, dies ist immer weniger eine Frage von Klassenzugehörigkeit.

13


Dabei ist der Klassenwiderspruch keineswegs gelöst worden. Seine Konturen haben sich aufgelöst. Sein Kern ist überlagert worden von Widersprüchen, die den Menschen aller gegenwärtigen Gesellschaften grundsätzlich gemeinsam aufgegeben oder aufgebürdet sind: der einsame Verlust an vorbereiteten Anleitungen und der öffentliche Mangel an geschichtlichen Anregungen dazu, wie Erleben gestaltet werden könnte; die Not, die die Natur unter der Produktion aller dieser Lebensstandards leidet; die Ermüdung der naturhaften Bewegungen in uns Menschen unter der Gewalt der technologischen Mittel der Naturbeherrschung; die weltweite Verelendung von Völkern und Gegenden unter der Gewalt der Expansion westlicher Strategien in Ökonomie, Politik, Ideologie; das Entgleiten von Ort und Zeit aus unseren Lebensgeschichten und der Abfall der Erde vom übrigen Kosmos unter alten und neuen Konzepten der Machbarkeit.

Noch nie sind die Menschen, zumal als Einzelne, so überfordert worden. Noch nie haben jedoch auch so viele Menschen so eindringlich die geschichtlichen Fragen zu spüren bekommen. Wo es uns gelingen kann, das Bewußtsein vom unermeßlichen Wahnsinn in neue Forderungen zu verwandeln, da mögen neue Kräfte hervortreten, die einander anerkennen und ermutigen, auch wenn die Wege der einen und der anderen nicht die gleichen sind.

Sozialistische Formen des Zusammenlebens der Menschen stellen bisher den einzigen großen Versuch dar, die Erleichterungen industrieller Produktion und die Mechanisierung von Entscheidungszusammenhängen, die von der abendländischen Moderne hervorgebracht worden sind, systematisch und von innen mit grundlegenden Bewertungen zu verbinden. So treten die grundsätzlichen Zusicherungen eines allgemeinen Rechtes auf «Arbeit» oder auf «Wohnung» in der Form von «Menschenrechten» der bürgerlichen Tradition aus dem 18. Jahrhundert auf. Sie meinen aber nicht deren einschränkenden Charakter gegen Übergriffe einer gesellschaftlichen Gewalt, sondern wollen an sich positiv zum Ausdruck bringen, daß alle Mittel und Vorgänge in dieser Gesellschaft, über gewisse Rahmenvoraussetzungen hinaus, alle Menschen unmittelbar in der Ausbildung ihrer Individualität befördern sollen.

14


Aus dem gebotenen historischen Abstand zu Marx und Engels kann man vom Sozialismus, insofern er sich als radikale Fortsetzung eines humanistischen Engagements bei der Gestaltung der Geschichte verstanden hat, sagen, daß sein Anspruch auf eine Vereinigung historischer Gegensätze hinauslaufen konnte: Die Instrumente des technisch-ökonomischen Fortschritts sollten mit den formalen Mindestanforderungen der Aufklärung für die Individuen, aber zugleich auch mit den ganz substantiellen Gewißheiten der traditionellen Kulturen vereinigt werden, die mit der Fürsorge für ihre Mitglieder auch die Bestimmung über deren Lebensführung beanspruchten. 

Um das genauer zu erläutern, wollen wir einige rasch wechselnde Blicke auf die Geschichte der Freiheitsidee werfen.

Dabei stelle ich die Begriffe Kultur und Gesellschaft einander gegenüber, um verschiedene Dimensionen geschichtlichen Zusammenlebens von großen Menschengruppen aufzuzeigen. Solche Unterscheidungen haben immer nur einen begrenzten Sinn im Verhältnis zu jeweils aufeinandertreffenden Entwicklungen, in die sie kritisch einzugreifen erlauben sollen. In entschiedenen Schritten wurde die westliche Freiheit gerade dadurch erkämpft, daß die äußeren Organisationsfragen der Gesellschaft von den Fragen nach Inhalt und Sinn der Lebensgestaltung getrennt wurden. Die Verhältnisse forderten diese Trennung heraus, die allerdings, wenn sie zum absoluten Prinzip gemacht wird, in schwere neue Schwierigkeiten führt.

15


Ein frühes Modell hat D'Alembert in der Einleitung zur französischen Encyclopedie gegeben. Er kritisiert das Denken in Systemen, weil die damals etablierten Systeme spätscholastisch geprägt waren. Der Aufklärer richtete seine Kritik gegen einengende oder erdrückende Dogmatik. Er sprach sich statt dessen für ein systematisches Denken aus und ergriff damit Partei für das selbstkritische Denken, das bei Kant Durchgängigkeit kritischer Vernunft heißt und durch logische Figuren wie den berühmten «Mechanismus der Verstandesbegriffe» treffend charakterisiert ist.

Diese antidogmatische Haltung eröffnete Freiräume. Als herrschendes Ordnungsprinzip der Gesellschaft schuf diese Tendenz ein offenes Feld, insbesondere für Wirtschaft und Wissenschaft. Es bestand in formalen Regeln und Regelungen, die durch ebendiese Formalität und Betonung des Faktischen den gefürchteten Dogmatismus vermeiden halfen. Die Definition für Freiheit ist paradigmatisch: Die Freiheit eines jeden reicht so weit, wie sie die der anderen nicht beeinträchtigt. Hier soll beiseite gelassen werden, was der Marxismus solchem Liberalismus als Ideologie, als neuerlich dogmatischen Mißbrauch dieser Grundsätze bei mit ihnen unvereinbaren Machtunterschieden vorgehalten hat. Es kommt darauf an, daß mit der Abwehr von Dogmen eine Gesellschaft geschaffen wurde — nur der Tendenz nach, wie immer in der Geschichte —, die grundsätzlich keine Kultur sein wollte und durfte.

Die in den Staats- und Sozialwissenschaften vielbesprochene Trennung von Staat und Gesellschaft meint Vergleichbares. In zwei voneinander zu unterscheidenden Dimensionen gibt sich ein Volk verschiedene Ordnungen für unterschiedliche Aspekte und Schichten seiner Existenz. Weiter kann diese Begrifflichkeit hier nicht erörtert werden, weil zu viele Überschneidungen des grundsätzlich Getrennten in der Theorie und Praxis unserer Verfassungen eine eingehende Darstellung außerordentlich kompliziert machen würden. Schließlich tragen immerhin die Grundrechte, die unsere Gesellschaften bei der Einrichtung von Verfassungen für unsere Staaten zur Grundlage erklärt haben, als formale durchaus ihrerseits Züge einer kulturellen Konzeption.

16


Infolgedessen gilt meine Unterscheidung von Kultur und Gesellschaft und meine Entgegensetzung nur der kritischen Aufmerksamkeit für einen wesentlichen Mangel. Um eine Kultur zu bilden, wie die der republikanischen Römer oder der Puebloindianer oder der mittelalterlichen Feudalgesellschaft als Gegenwart einer christlichen Heilsgeschichte, fehlt es uns an gemeinsam verbindlichen Vorstellungen von der Ausfüllung solch formal gesicherter Freiräume.

 

Um noch deutlicher zu machen, was da gemeint sein kann, bietet sich an, etwa auf die afrikanischen Einwände gegen die westlichen Menschenrechte einzugehen. Eine solche vergleichende Betrachtung rückt auch die westöstliche Problematik in den Weltzusammenhang, der inzwischen als die nordsüdliche Problematik bezeichnet wird. Aus Afrika wird der westlichen Vertretung der Menschenrechte und der Forderung ihrer Garantie die der Stammesrechte entgegengehalten.

Hinter dieser Formel steht das langsam immer entschiedener sich gegenüber dem Westen ausdrückende Bewußtsein davon, wie bedeutend für die Menschen es ist, in ihren geschichtlich gewachsenen Beziehungen zu leben, sowie die verzweifelte Sorge, daß unter anderen ideologischen Vorwänden oder einfach durch die Gewalt moderner Ökonomie und Verwaltung diese Beziehungen keine nennenswerten Überlebensaussichten mehr haben.

Friedrich Nietzsche würde etwas überrascht gewesen sein, daß ich diese Auseinandersetzung mit seinem Wort zur Freiheit auf einen allgemeinverständlichen Begriff zu bringen versuche. Es scheint mir aber, wie sehr auch aus dem modernen Mangel und nicht aus der primären Fülle der Beziehungen geboren, genau das Entscheidende zu benennen. Nietzsche kritisierte die Lebensleere des formalen Freiheitsbegriffes mit der Frage «Freiheit wovon?» Damit trifft er genau die Entstehungsbedingungen der Aufklärung. Das seiner selbst bewußte Bürgertum verlangte gegenüber der politischen Gewalt absolutistischer Herrschaft und gegenüber der ideologischen Gewalt dogmatischer Kirchen die Freiheit, seine Entfaltung denkend und handelnd zu verfolgen.

17


An zu entwickelnden theoretischen, praktischen, künstlerischen, religiösen Vorstellungen war diese Zeit so reich, daß nur die gewaltsame Unterdrückung Gegenstand des Kampfes und der Sorge war. Man braucht nur an Schillers Freiheitspathos zu denken. «Gedankenfreiheit» verhieß am Ende des 18. Jahrhunderts die Öffnung eines Staudammes. Vernunft und Empfinden waren zu einer Fülle von philosophischen Systemen und politischen Entwürfen und künstlerischen Schulen herangereift. Nietzsches Mahnung am Ende des 19. Jahrhunderts hieß «Freiheit wozu?» Daß diese Frage sich zunächst nicht gestellt hatte und darum auch grundsätzlich vergessen worden war, wurde erst ein Jahrhundert später offensichtlich genug, um eine zweite Aufklärung zu fordern.

Als die westlichen Freiheiten formuliert wurden, in Nordamerika zuerst und in Frankreich, dann bis in den russischen Rand Europas, waren noch Vereinigungen mit politischen Zielen verboten. Geistige Gemeinschaften und Literatenzirkel wurden unterdrückt. Aufklärerisches Denken flüchtete in Geheimlogen der Freimaurer. Diese Zusammenschlüsse waren lebendig. Es galt nur noch, öffentliche Betätigungsfreiheit für sie zu erringen. Niemandem fiel ein zu bedenken, was einmal die Bürger der neuen Gesellschaften miteinander verbinden werde, wenn die Tendenzen der Abgrenzung in Individuen, in Privateigentums­sphären und Kleinfamilien zur Isolation geführt haben würden. Max Horkheimers Wort von der «eisigen Kälte der bürgerlichen Gesellschaft» läßt sich sehr wohl schon aus der frühen Theorie begründen und in den Opfern der ökonomischen Konkurrenz seit den Kontorkriegen der Medici belegen. Aber es berücksichtigt zuwenig, was die Geschichte eben daneben auch hervorgebracht und geprägt hat.

18


Freilich sprachen von jeher die neuen Anthropologien und Gesellschaftslehren von «dem Menschen». Sie haben von vornherein das Wort der Schöpfungsgeschichte semantisch übernommen, das heißt verkürzt. Gott schuf «den Menschen», wie er die Erde, das Wasser und das Licht schuf: ein mythisches Bild drückte eine Kosmogonie aus und wurde Wort. «Der Mensch» des sogenannten Naturzustandes, also vor aller Menschheitsgeschichte in Stämmen und Völkern, bei Hobbes oder bei Rousseau, wurde empirisch gedacht, wenn auch zum Idealtypus verallgemeinert. Und dabei wurden bereits grundlegend die Beziehungen zwischen den Menschen vergessen, in denen und durch die wir nur Mensch sein — oder werden — können, als die aber auch Menschheit nur in die Geschichte treten konnte.

Dieses Versäumnis haben auch Nietzsches Proteste gegen die substantielle Leere der Freiheitsrechte nicht betont.

Erst heute, da, weitere hundert Jahre später, der empirische Mensch zum Substrat statistischer Daten und der Idealtypus zum Durchschnittstypus — «Mr. near everedge» — degeneriert ist, nimmt das Problem der Isolation politisch wirksame Konturen an. Der Prozeß hat lange gedauert. Die Zerstörungen erst der Dorfgemeinde, dann der bürgerlichen Großfamilie, inzwischen selbst der intimen Kleinfamilie sind jetzt unübersehbar, besonders sofern wir ihrer als Momenten eines öffentlichen Lebens bedürfen.

Sie waren aber vor zwei Jahrhunderten noch in der Ungleichzeitigkeit von neuen Strategien und vorhandenen Strukturen verborgen. Der ethnologische Blick der Anderen, etwa der erwähnten Afrikaner, auf die westlichen Gesellschaften bringt selbst heute noch ein wesentlich tiefenschärferes Bild unseres Mangels zustande als unser eigenes Bewußtsein. Selbstverständlich hängt dies damit zusammen, daß wir wiederum problematische Bedingungen für Individualität bei primären Kulturen sehen und über diesem Fokus den Horizont versäumen. Über der notwendigen Abwehr und dem heroischen Durchbrechen beengender und erdrückender Verhältnisse wurde nicht bedacht, wie sehr zu schützen die Beziehungen sind, die uns tragen und beleben.

19


Das englische Wort frontier heißt Grenze. Der amerikanische Begriff frontier meint, daß Hindernisse zum Einreißen und Grenzen zum Überschreiten da sind. Das korrespondiert auf schwierige Weise mit dem Kantschen Wort, Grenzen lerne man durch Überschreiten kennen. Der Erkenntnistheoretiker scheint uneingeschränkt recht zu haben, denn diese Erkenntnisfreiheit braucht solche Erfahrung. Ihr Unrecht ist nur schwer durch Argumente zu zeigen, wenn man nicht in Dogmatismus zurückfallen will.

Sobald wir allerdings uns darauf besinnen, daß solche Grenzüberschreitungen, und sei es nur zum Zweck ihrer Erkenntnis, Zerstörungen sind, können wir uns das Problematische an vielen Beispielen vergegen­wärtigen. Es beginnt bei dem Kind, das ein Tier kaputtmachen will, um zu wissen, wie es funktioniert, offenbar in der Vorstellung, wenn man die Außenansicht durchbricht, werde man schon eine erklärungsträchtige Innenansicht erhalten. Dieselbe Einstellung ermöglicht es, daß ganze Stämme aus ihrem Lebensgebiet herausgerissen werden mit der Behauptung, eine Deportation tue ihnen in nichts Wesentlichem Gewalt an.

Dabei wird die andere Seite der tragenden und belebenden Beziehungen deutlich. Nicht nur die zwischen den Menschen sind zu achten, sondern ebenso die der Menschen als Menschheit, Volk, Stamm und als Einzelne mit der Welt, die von ihren Zerstörern wie ihren Schützern meist noch gleichermaßen verächtlich Umwelt genannt wird.

Nun haben es die kommunistischen Regime dahin gebracht, daß wir im Westen mit allen diesen Neigungen zur Verachtung noch als die besten Bewahrer sowohl gegenüber den Menschen wie auch gegenüber der Natur dastehen. Daß die Regime zusammen­gebrochen sind, gibt den Völkern der Welt ungeahnte Aussichten zurück. Daß die besseren Gesellschaftsordnungen dabei als alleinige Sieger gefeiert werden oder werden könnten, bedeutet eine ebenso große Gefahr, und zwar für diese Aussichten. Dabei ist diese Gefahr eine doppelte.

20


Der Westen nimmt eine Siegerposition ein; gekämpft haben aber andere, nämlich jene Menschen und Vereinigungen in den östlichen Ländern, die längst in den Hintergrund zurückgetreten und zurückgedrängt worden sind. Der Westen bezieht seinen Sieg, freilich einen Sieg bestenfalls nach Punkten, auf alles, was im Osten getan und unterlassen worden ist. Dabei entwickelt diese Seite der Geschichte einen unwidersteh­lichen Sog, den Sog des Erfolgreichen. 

 

Nicht nur sehr große Teile der Bevölkerung des einstigen «anderen deutschen Staates» laufen gegenwärtig einfach zu den Siegern über. Die Devise des Westens, «die freie Marktwirtschaft», wird allgemein wie ein Rezept, ja wie ein Zaubertrank übernommen. Bei Tagungen mit Politikwissenschaftlern und Ökonomen im Dezember 1989 habe ich in Polen erlebt, daß die früheren Oppositionellen nun wissen, wie die Dinge anders gehen werden:

Marktwirtschaft. Und die fortgesetzten Anhänger kommunistischer Alternativen wissen: Jetzt können wir uns auch Kommunismus leisten; Marktwirtschaft macht es möglich. In der Tschechoslowakei verfechten Minister eine Wirtschaftstheorie von einem schlichten Optimismus, wie man ihn schon seit hundertfünfzig Jahren nicht mehr erlebt hat. Jede Rückfrage oder Nuancierung wird als Kommunismus zurückgewiesen.

Was Marktwirtschaft nach ihrer Theorie und praktischen Geschichte sei, was sie leisten könne und nicht könne, wie das Geheimnis ihrer Vermischung mit dem Sozialen bewältigt werden könne, danach wird dort noch weniger gefragt als im Westen selbst. Um so tiefer und weiter reicht nun unsere Verantwortung für genau diese Fragen. Wenn wir es vermögen, ihnen uns zu stellen und selbst in kritisch-vorantreibende Bewegung zu gelangen, könnten wir die andere Seite der Gefahr zugleich in wesentlichem Umfange mindern: die Einsamkeit unseres Rechthabens.

21


Die westliche Freiheit ist erkämpft worden seit Jahrhunderten. Ihr Geist ist der des Wettkampfs. Zwar stammt das Wort vom «Wettkampf der Systeme» aus dem Osten. Es war die Formel, unter der der «real existierende Sozialismus» seinen Anspruch, besser zu sein, scheinbar pazifistisch moderierte, in Wirklichkeit aber bereits aufgab. Gegen die unrationalen Ordnungen spätfeudaler und absolutistischer Prägung waren die Freiheiten gerichtet gewesen, um vernünftigere Ordnungen gegen Willkür, Undurchsichtigkeit, Privilegien, Traditionsverhaftung und Ungerechtigkeit, gegen Unmenschlich­keit durchsetzen zu können. Dies war das Pathos der Freiheit. Anders als in kosmologisch eingebetteten Lebensordnungen ist die existentielle Herausforderung durch die Geschichte konstitutiv für diese Freiheit.

Wohl wurde im Kalten Kriege und danach die Konfrontation mit den östlichen Regimén zu einer solchen Herausforderung stilisiert; vor allem von nordamerikanischen Politikern. Aber auch ihnen konnte das nicht überzeugend gelingen, weil es bereits um das Rechthaben über die anderen ging statt um das eigene Bessermachen. Die Nachkriegslage wurde, wie damals etwa auch Karl Jaspers kritisierte, mit ökonomischer und militärischer Machtentwicklung beantwortet. «Der Mut zu einer beschwingenden Neuschöpfung aus der sogleich in alle Kreise zu tragenden und durch sich selbst zu bewährenden demokratischen Idee war noch nicht da.»2 

Dafür waren die Interessen an der Macht um so entschiedener auf dem Plan. «Die Freiheit des Abendlandes» wurde immer weniger von innen und immer mehr durch den Kampf gegen den Totalitarismus im Osten bestimmt. Mit dem Zusammenbruch dieser Regime bleibt nun eine Ordnung auf sich gestellt und zurückverwiesen, die ihrer Geschichte nach und im Gestus ihrer Grundwerte dynamisch angelegt ist. Dieser dynamische Gestus, in durchaus bedenklicher Nähe zu dem Prinzip des Willens, ja der Willkür, droht zum Ersatz zu werden für die tiefere Bedeutung und die Erfüllung der Freiheit. Beschleunigte Expansion in die Leere hinein, die das zerstörerische Werk des Machtbetriebes ist, tritt an deren Stelle.

22


Nicht länger sorgen unsere Gesellschaften dafür, daß die vordergründige Ordnung des menschlichen Zusammenlebens sich mit den tieferen Ordnungen durchdringt, die in den traditionellen Kulturen, so oder so, die Gesellschaft auf die kosmischen Beziehungen transparent machte.

 Das Problem mit den Menschenrechten ist dieses: Sie wurden konzipiert und vertreten als Angriff auf die Verwehrung eines neuen Verständnisses von Selbst, Gemeinschaft und Welt. Welche Konzeption verteidigt nun, was damals als unveränderlich angenommen und nicht eigens bedacht wurde? Dies sind nämlich die existentiellen Beziehungen der Menschen zur Welt mit allen ihren Reichen und Wirklichkeiten.

Die politische Wirklichkeit von Menschenrechten läßt sich, weil sie durch Ausschließung bestimmbarer Eingriffe deformiert wird, weitgehend diskursiv darstellen. Nicht so das Existentielle. Es ereignet sich in Beziehungen und als Geschichten. Dies läßt sich nicht durch Ausschließung seiner Verhinderungen definieren. Es geht um Wirklichkeiten verschiedener Art.

Der Sozialismus hatte die gattungsgeschichtliche Aufgabe übernommen, eine solche Durchdringung im Diesseits zu bewerk­stelligen, ohne daß die Individualitäten von traditionellen Hierarchien vereinnahmt würden. «Freie Assoziation der Individuen» und «Stoffwechsel der Menschen mit der Natur» hießen die Stichworte dafür.

Es ist gut, daß viele in der Vergangenheit unnachgiebig gegen das Unrecht der östlichen Regime aufgetreten sind, auch wo andere in dem Bewußtsein, daß das große Experiment Sozialismus bisher unersetzliche Hoffnungen zu tragen hatte, mit sich haben handeln lassen. Diese hätten der eigenen Sache mit der strengsten Kritik ihre Treue halten müssen; wie einige das tatsächlich getan haben. Doch wenn die Anklage des Unrechts im Osten richtig war, so hat darum der Westen noch lange nicht recht. Wenn Autos, Öfen und Fabriken der staatskapitalistischen Planwirtschaft die Luft, das Wasser und die Erde sichtbar ruiniert haben, so sind darum die Bedrohungen durch die westlichen Industrien und ihre Produkte nicht weniger lebensgefährlich.

23


Wenn die Aussichts­losigkeit des sozialistischen Alltags die Menschen in tiefste graue Resignation geführt hat, so sind deswegen Hoffnungslosigkeit, Ängste, Sinnverlust der Menschen im Westen keineswegs weniger ernst zu nehmen. Wenn politische Justiz und Repression der Gewaltregime sich spektakulär an den Menschen vergangen haben, so sind doch die schleichenden Entwürdigungen im verwalteten Leben darum nicht annehmbarer. Die Fürsorgepflicht eines jeden für sich selbst lastet seiner persönlichen Verantwortung ein strukturelles Problem an. Im Schatten der sozial gewordenen Marktwirtschaft gibt es sehr wohl noch Elend. Unsere Fundamente reichen in Wahrheit schon für die Gegenwart nicht aus, erst recht nicht für die Zukunft.

Die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft fällt aber nun auf die Schultern der westlichen Freiheit allein. Überall in den östlichen Ländern sind die Forderungen der alten Dissidenten wie heute auch der Massen um den Ruf nach Verwirklichung der Menschenrechte geschart, wie sie der Westen vertritt. Wir können darauf antworten, indem wir die Verhinderung der Freiheit in unseren Tendenzen zu Expansion und Isolation erkennen. Die geschichtliche Gewohnheit, äußere Hindernisse zu überschreiten, können wir so in eine große Bewegung der Selbstreflexion umwenden. Dies ist, wie wir seit dem «Erkenne dich selbst» der Griechen wissen, die größte Herausforderung. Nur wenige Reaktionen im westlichen Europa, im westlichen Deutschland wiesen während der letzten Jahre auf eine solche Bereitschaft hin, Glasnost im eigenen Lande zu üben. Vorerst herrscht ein Übernahmeeifer, der die schlimmsten Formen von frontier befürchten läßt. Tatkraft aus bescheidenerer Selbstbesinnung wäre der angemessene Gestus.

24


In diesem Augenblick muß ich von der eigensten Problematik der deutschen Entwicklung sprechen. Ich erinnere mich deutlich der Stimmung des Zusammenbruchs vom Ende des Krieges. Nur wenige Tagebücher und Dokumente der Nachkriegsgeschichte halten sie fest gegen die allgemeine Verdrängung. Damals wuchs im Erleben vieler ein Bewußtsein, das auf grundlegende Veränderung drängte. In ihren Begegnungen der letzten Bomben- und Fluchtjahre wie dann der Trümmer- und Hungerjahre bereitete sich eine innere Wandlung vor, die dem Wieder­aufbau geistige Wege und neue Mittel hätte weisen sollen. 

In Schriften und Reden der Zeit, sogar in Parteiprogrammen drang diese Einsicht bis zur Formulierung durch. Nicht zufällig wurde 1990 seit langem wieder öfter das Ahlener Programm zitiert. Aber das Tempo der materiellen Rekonstruktion hat all das überrollt. Sehr selten in der Geschichte kommt eine Chance noch einmal. Sie schien mir mit dem 9. November 1989 wiedergekommen zu sein.

Sind wir nicht dabei, sie das zweite Mal auszuschlagen? Eine neue Beschleunigung hat eingesetzt. Totalitäre Systeme hinterlassen ein Vakuum; in dessen Sog wird die Expansion des bisher Verbotenen sinnlos beschleunigt. Was eine Besinnung zwischen West und Ost in Europa auf neue Weise fordert, droht zugleich, sie in einen Wirbel zu ziehen, in dem nichts Vernünftiges Boden gewinnen kann.

Gleichzeitig gefährdet eine entgegengesetzte Entwicklung in den islamischen Völkern eine Besinnung zwischen Norden und Süden der Welt. Die Domination der westlichen Macht wird dort jetzt mit einem ebenso wütenden wie in sich verunsicherten Versuch der Selbstbehauptung erwidert. Der sich ausbreitende Fundamentalismus hat viel mehr mit den Strategien westlicher Unter­drückung und Mißachtung gemeinsam, die ihn provoziert haben, als mit dem muselmanischen Geist, auf den er sich fanatisch beruft. Diese Konfrontation wird dadurch um so schlimmer, daß der Westen im Golfkrieg seinerseits ein Wildwest­vokabular von Gerechtigkeit aufbietet, das genausowenig erlaubt, die gemeinsamen Aufgaben der Weltgegenwart bewußt werden zu lassen.

25


Eben erst wurde vom Ende der Ideologien gesprochen. Daß nun ideologische Parolen erbitterter denn je hervorgeholt werden, beweist nicht das Gegenteil. Die Ideologien sind an ihrem Ende angekommen. Deshalb werden sie da, wo sie weiterhin benutzt werden, zu einem Fundamentalismus, dem, so unreflektiert und aller Selbstkritik bar, auch die Parolen der Freiheit nicht entgehen können.

Unsere Antwort kann um so weniger die einer resignativ realistischen Politik sein. Wir müssen vielmehr unsere Augen öffnen für eine übergreifende Ordnung, in der die Widersprüche, denen wir zu verfallen Gefahr laufen, sich unterordnen und aufheben lassen. Kant hat in seiner Schrift «zum ewigen Frieden» Schritte dahin entworfen. Wir sollten allen Menschen ein Weltbürger­recht garantieren, und wir sollten, um dem Recht eine freundliche Gesinnung zuzugesellen, alle Menschen überall als Gäste willkommen heißen. Diese beiden Schritte sind keineswegs vollzogen. Vielleicht bedürfen sie aber auch eines Dritten, um selber ihren Sinn einnehmen zu können. Die Dimension, in die er uns führen muß, zeichnet sich aus den beiden Entwürfen des Abendlandes für eine Wendung der Geschichte zum Besseren ab, gerade weil diese jeder für sich oder gegeneinander gesetzt gescheitert sein dürften.

 

Die Religion habe, so wird gesagt, die Menschen zur Selbstwandlung aufgefordert, ohne die historischen Verhältnisse in Frage zu stellen. Im Projekt der Moderne sei das Prinzip der Optimierung aus den Dogmen der Kirche übernommen, aber ausschließlich auf die historischen Verhältnisse angewandt worden. Wenn einmal das Ziel allen Wandels ins Jenseits verlegt wurde, so begriff die weltliche Ideologie zu einseitig Wandel als Schaffung der besten materialen Voraussetzungen. Wie immer Marx sich den Wandel der Menschen mittels einer Verbesserung der Voraussetzungen versprochen haben mag, die sozialistische Revolution hat die Ansätze dazu revidiert. Lenin, Stalin und Trotzki waren darin sich einig, daß erst neue ökonomische Verhältnisse geschaffen werden müßten; um neue Lebensformen, also um die Kultur, könnte man sich später kümmern.

Wir wissen gegenwärtig sicherer denn je, daß dies falsch war. Aber sind wir nicht im Begriff, im Namen der westlichen Freiheit denselben Fehler zu begehen? Daß wir dabei mehr Erfolge im ökonomischen Sektor erzielen, darf die Frage nicht zum Schweigen bringen.

Weltverbesserungsprogramme dürfen nicht durch noch weitere Expansionen unserer Machbarkeits­phantasien immer mehr Schaden anrichten. Uns selbst zu wandeln ist vielmehr die Antwort, aber in dem Sinne, daß wir auf die Welt zu horchen und zu antworten lernen.

Freiheit, sagte Karl Jaspers zur Erneuerung Europas nach dem Weltkrieg, ist nur möglich mit der Freiheit aller Anderen. Nur unsere Selbstwandlung gibt den anderen Völkern die Bewegungsfreiheit, sich eigene Wege zu suchen. Unsere Aufmerksamkeit auf die Versuche der Anderen kann uns in Bewegungen ziehen, die unsere Freiheit neu begründen und erweitern helfen. Dieses Miteinander unterschiedlicher Wege kann eine geschwisterliche Menschheit heraufführen, der die Unterschiede der Versuche und die Ungleichzeitigkeiten der Geschichtswege den Reichtum der Vergleiche und die Weisheit des Abwägens dialogisch sich erschließen. Weltbürgerrechte und Gastfreundschaft können dafür geeignete Werkzeuge sein, wenn wir wissen, daß sie notwendige Mittel auf den Wegen wechselseitigen Lernens sind. In ihm sollten die Nächstenliebe und die Fernstenliebe ihre gemeinsame Bestimmung finden.

So einander Mittler zu werden, können wir uns nur vorstellen auf einem gemeinsamen Grund: Die geschwisterlichen Beziehungen der einen Menschen wie der anderen zu den übrigen Wesen, Vorgängen, Dingen der Welt sind ebenso neu zu entfalten. Nur in der Fülle möglicher Beziehungen kann Freiheit sich erfüllen, nicht in der Willkür von Macht und Rechthaberei.

27

#

 

^^^^

www.detopia.de