1 Der Schatz hinter Mülltonne
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Es war wie im Krimi: Eine Frau ließ ausrichten, eine andere Frau möchte mir einige Zettel zeigen, auf ihnen stünde mein Name. Und der eines Stasi-Majors. Die Papiere stammten von 1978, ob ich wohl an ihnen Interesse hätte?
Die Frau in einer Kneipe des Leipziger Ostens am Abend darauf entsprach dem Signalement: Kostüm und große unechte Brosche, ein gläserner Wasserfall. Bei ihr im Hof hinter der Mülltonne, die Frau kramte eine Heftmappe aus ihrem Beutel, hätte das da gelegen. Und ich las, daß die Stasi-Bezirksverwaltung Potsdam die DEFA konspirativ angewiesen hatte, aus dem Plan des Regisseurs Graf, meinen Roman Es geht seinen Gang zu verfilmen, hätte gefälligst nichts zu werden.
Ein lieber Nachbar aus der Schönbachstraße von schräg gegenüber hatte gemeldet, vor meinem Haus stünde ein Auto mit West-Berliner Nummer. Der reaktionäre Journalist J. B. Bilke aus Bonn hätte mir Zeitschriften geschickt. Der negativ-feindliche Schriftsteller Loest (»Autor II«) hätte mit dem negativen Schriftsteller Heiduczek (»Schreiber«) telefonisch über dessen Kontakte zum Hamburger Verlag Hoffmann und Campe gesprochen. Der IM »Bernd« hätte...
Ich fragte: »Was ist IM?«
»Inoffizieller Mitarbeiter.«
Die Frau erschrak ob ihres Wissens.Das geschah im März 1990. Die Bestimmung der Modrow-Regierung galt: Staatsanwälte, Volkspolizisten und Angehörige von Bürgerkomitees bewachten, was die Reißwölfe im November und Dezember 1989 an Stasi-Unterlagen verschont hatten. Diese Konsortien arbeiteten die Akten auf, hieß es. Dann klang es bescheidener: Sie beschützten sie vor gierigen Blicken westlicher Geheimdienste. Und da wäre noch der Datenschutz. Schon erwuchs der Eindruck, sie täten gar nichts. Oder durfte die Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte des Schriftstellerverbands den Nachlaß der Hauptabteilung XX einsehen? (Ich hätte eine Frage: Wer war IM »Dozent«, der mich im Präsidium des Verbandes bespitzelte?)
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»Ich kenne jemanden«, sagte die Frau, »der hat noch mehr.«
Dann redeten wir über Geld. Dann trafen wir uns wieder, woanders. Dann wollte sie lieber mit meiner Schwiegertochter reden. Frauen unter sich. Einmal sagte sie: »Wenn Sie mich hochgehen lassen wollen: Mir kann nämlich gar nischt passieren, ich hatte nämlich mal 'nen Unfall. Schädelbruch. Seitdem kann ich mir nämlich so gut wie gar nischt mehr merken.«
Nicht nur Reißwölfe haben zur Wendezeit gearbeitet, sondern auch Kopierer. Oder gab es manches doppelt? Später erwarb ich Dokumente aus einer anderen Quelle, und siehe da, allerhand deckte sich.
»Guggen Sie mal, Ihr Freund hier, der hat Sie ooch verpfiffen«, sagte die Frau mit der Wasserfallbrosche.
Als ich ein gewichtiges Bündel zusammen hatte, schrieb ich einen Brief, es war am 13. Juni 1990.
»An den Arbeitsstab zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit,
Bürgerkomitee Leipzig, Dittrichring
Sehr geehrte Damen und Herren.In den letzten Monaten sind mir verschiedentlich Kopien von Schriftstücken übergeben worden, die sich mit meiner Person befassen. Sie stammen meist aus den Jahren 1975 bis 1982 und tragen den Kopf <Bezirksverwaltung Leipzig, Abteilung XX>. Einige stammen aus dem Ministerium für Staatssicherheit in Berlin, es sind auch Telegramme und Informationsberichte einer Abteilung 26 dabei. Natürlich wüßte ich gern, ob diese Kopien echt sind, vorher möchte ich mich zu ihnen nicht äußern. Vielleicht können Sie mir durch eine Prüfung weiterhelfen.«
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Antwort kam, und ich legte meine klebrige Beute an der »Runden Ecke«, dem ehemaligen Stasi-Hauptquartier in Leipzig, auf den Tisch. Davor hatten Sprechchöre gegellt: »Stasi in den Tagebau!« Dort war gewiß kaum einer angekommen.
Ich fragte: Ist das Zeug da etwa gefälscht? Ich fragte weiter, ob herauszufinden sei, was 1957/58 nach meiner Verurteilung zu Zuchthaus und Vermögensentzug beschlagnahmt worden war. Am stärksten gräme ich mich um fast vollständige Jahrgänge der »Weltbühne« um 1930. Die sind nie wieder zu beschaffen. Wo sind sie geblieben?
Die Damen und Herren des Bürgerkomitees mußten Staatsanwälte fragen. Dann durften sie kramen. Sie stießen auf Unmassen von Beschlüssen, Berichten und Abhörprotokollen, die über den negativ-feindlichen »Autor II« angefertigt waren, und siehe da, jeder meiner Wische war echt. Nichts entdeckten sie über die Staatsbeute von 1957/58. Das wisse man, wenn überhaupt noch, vermutlich in Berlin. Dort hat sich das Oberste Gericht unterdessen aufgelöst, ein Wiedergutmachungssenat existiert nicht mehr. Im April 1990 war ich freigesprochen, eine siebeneinhalbjährige Zuchthausstrafe verbunden mit Vermögensentzug war kassiert worden. Materielle Entschädigung wurde mir zugesichert, aber die Damen und Herren Richter waren einen Sommer lang unwillig, unfähig oder einfach faul gewesen. Jetzt wird sich die Länderjustiz damit befassen — wo und wann? Und überhaupt?
»Ahnen Sie, wieviel über Sie auf unseren Böden und in unseren Kellern liegt?« wurde ich beim Bürgerkomitee gefragt. »Einunddreißig Aktenordner von je etwa 300 Blatt, darunter acht Ordner mit Kopien Ihrer Briefe. Und ein paar geklaute Briefe sind auch dabei.«
Das war so gewesen: Im Sommer 1976 hatte ich mir ein Herz gefaßt und beschlossen, jede Unterdrückung meiner Texte durch die Zensur der DDR mit einer Veröffentlichung in der Bundesrepublik zu beantworten. Mein Romanvorhaben »Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene« stockte beim Mitteldeutschen Verlag in Halle, da nutzte ich meinen ersten Besuch in der Bundesrepublik seit dem Mauerbau — ich durfte mit dem Hessischen Rundfunk über ein Hörspiel verhandeln — zu Kontakten mit der Autorenedition des Bertelsmann-Verlags und mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dies teilte ich dem Mitteldeutschen Verlag mit, aus ihm heraus wurde sofort das Ministerium für Staatssicherheit informiert.
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Das erarbeitete am 5. September 1976 einen achtseitigen Maßnahmeplan für den Einsatz durch Spitzel im Schriftstellerverband, im Verlag, in meinem persönlichen Umfeld und beschloß einen Lauschangriff:
»Zur Konkretisierung und weiteren Aufklärung des L. ist der wiederholte Einsatz eines Informellen Mitarbeiters der Abteilung 26 A zu gewährleisten.
Verantwortlich: Hauptmann Rapitza.«Natürlich überlegten wir damals, ob unser Telefon abgehört würde. Na schön, sagten wir, sollen sie doch, wir können sie nicht hindern. Manchmal waren wir vorsichtig, meist nicht. Unser Freund Gustav Just, ein alter Bautzenkumpel, riet, wir sollten uns »von denen da« nicht zwingen lassen, unsere eigene Galle zu fressen. Wir waren froh, daß wir überhaupt ein Telefon hatten.
Im Einsatz waren Postangestellte, die sich zur Mitarbeit verpflichtet hatten, keine Stasi-Hauptamtlichen mit Dienstgrad, Uniform und Pistole. Zu diesem Zeitpunkt wurde ein anderer Leipziger Schriftsteller, Werner Heiduczek, bereits durch die Abteilung 26 B betreut, das heißt, er hatte eine Wanze in der Wohnung.
Die Stasi beschloß:
»Entsprechend der Aufgabenstellung aus dem Operativ-Plan der Hauptabteilung XX vom 10. August 78 wird durch unsere Diensteinheit der Loest, Erich, bearbeitet, da er entsprechend seiner feindlichen Grundeinstellung durch literarische Veröffentlichungen in der DDR und der BRD wesentliche gesellschaftliche Bereiche unserer sozialistischen Entwicklung angreift.
Es sind folgende Maßnahmen zu realisieren. Punkt 3,4:
Ständige Analysierung des erarbeiteten Materials im Rahmen der Bearbeitung des Heiduczek zur Erarbeitung von Ansatzpunkten der Zersetzung des Kontaktes zu Loest.
Die bereits vorliegenden Informationen aus dem Einsatz des Informellen Mitarbeiters der Abteilung 26 B bei Heiduczek sind dahingehend zu überprüfen, inwieweit unter Wahrung der Konspiration durch den Einsatz zuverlässiger Informeller Mitarbeiter gezielte Indiskretionen verbreitet werden können, die darauf schließen lassen, daß Heiduczek die Partei und die staatlichen Organe in der Auseinandersetzung mit Loest durch entsprechende Hinweise unterstützt.Verantwortlich: Hauptmann Baumheier.«
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Allmählich las ich mich ein. BV-Bezirksverwaltung. OV-Operativer Vorgang. IM bedeutete Inoffizieller Mitarbeiter, das war eine Privatperson. Ein GMS war ein Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit, er arbeitete in einer Behörde oder Institution. PID — politisch-ideologische Diversion. DE — Diensteinheit. Ich fand diese Wanzenmeldung:
»Werner Heiduczek äußert gegenüber seiner Ehefrau seine Abscheu gegenüber dem im <Neuen Deutschland> erschienenen Artikel von Dieter Noll. Aus Protest gegen die Aussage des Artikels will Heiduczek eine Sympathiebekundung an Seyppel schicken.«
Der Artikel im SED-Zentralblatt war ein Brief, den der Schriftsteller Dieter Noll untertänigst seinem feudalen Parteioberen geschrieben hatte. Angesichts des kurzen Gedächtnisses vieler Zeitgenossen will ich den Text vom Mai 1979 in seiner ganzen widerwärtigen Schönheit dem Vergessen entreißen:
Sehr verehrter Genosse Erich Honecker!
Angesichts der Hetzkampagne, die von den Feinden unserer sozialistischen Gesellschaft gegenwärtig mit ungewöhnlicher Intensität geführt und auch in unser Land hineingestrahlt wird, ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen ein paar impulsive Zeilen zu schreiben. Denn der Gegner gibt ja mit unverschämter Anmaßung vor, im Namen vieler oder gar aller Schriftsteller unseres Landes zu sprechen. Davon, lieber Genosse Honecker, kann überhaupt keine Rede sein!
Die gesetzlichen Verordnungen, die sich gegen die subversive Tätigkeit der feindlichen Massenmedien richten, und die notwendige Konsequenz, die diesen Maßnahmen Respekt verschafft, wurden von mir und meinen Freunden mit Genugtuung zur Kenntnis genommen.
Und ich möchte Ihnen versichern, daß die übergroße Mehrheit meiner Berufskollegen dies ebenso sieht wie ich. Einige wenige kaputte Typen wie die Heym, Seyppel oder Schneider, die da so emsig mit dem Klassenfeind kooperieren, um sich eine billige Geltung zu verschaffen, weil sie offenbar unfähig sind, auf konstruktive Weise Resonanz und Echo bei unseren arbeitenden Menschen zu finden, repräsentieren gewiß nicht die Schriftsteller unserer Republik.
Die Partei kann auch überzeugt sein, daß die überall in den Betrieben arbeitenden Menschen unseres Landes die Maßnahmen unserer Regierung billigen und kein Verständnis dafür aufbringen, wie da ein kleiner Klüngel von sogenannten Literaten verzweifelt von sich reden machen will, indem ersieh vor den Karren des Westfernsehens spannen läßt oder die Partei mit unverschämten offenen Briefen traktiert: Davon habe ich mich im Gespräch mit meinen Lesern während der letzten Wochen allerorts, zwischen Prora und Meiningen, überzeugen können.
Die Mehrheit der Schriftsteller denkt hingegen wie ich: Wir sollten uns nicht durch dreiste Einmischung der bürgerlichen Journaille in unserer Kulturpolitik stören lassen. Und die Kulturpolitik des VIII. und IX. Parteitages ist uns kostbar und teuer, denn sie hat uns eine neue Dimension künstlerischer Schaffensfreiheit erschlossen. Wir — meine Kollegen und ich — werden bemüht sein, eine dieser Kulturpolitik adäquate neue Qualität tieferer künstlerischer Eigenverantwortung künftig immer besser zu zeigen und entschlossener zu verwirklichen, zum Wohl der kulturellen Weiterentwicklung dieses unseres Staates, dessen wachsende sozialistische Wirklichkeit unserem Willen und Wollen entspricht.
Sehr verehrter Genosse Erich Honecker, es ist viel Zeit vergangen, seit Sie mir einmal anerkennende Worte über meinen <Werner Holt> gesagt haben. Ich habe versucht, diese Zeit optimal zu nutzen, auch wenn es zeitweilig still um mich geworden war. Heute nun, da mein neuer Roman den Bürgern unseres Landes vorliegt und einiges Interesse erweckt hat, gebe ich der impulsiven Regung nach, Ihnen diese Zeilen zu schreiben, damit Sie noch fester überzeugt sein können: Meine Schriftstellerkollegen und ich sind und bleiben der Partei für immer in Treue verbunden.
Ich schließe mit den besten Wünschen für Ihr persönliches Wohlergehen
und bin aufrichtig
Ihr Dieter Noll#
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Mit sieben anderen Schriftstellern, die alle in Berlin wohnten, hatte ich kurz vorher gegen eine Strafverfolgung Stefan Heyms bei Honecker protestiert. Nach einer infamen Rede Hermann Kants waren die Berliner aus dem Verband geworfen worden, mir war noch eine Frist vergönnt.
So las ich und las, stieß auf Vergessenes und Verschollenes, Unbekanntes und falsch Eingeschätztes. Zwei langjährige Freunde waren Stasi-Spitzel gewesen, »Hans Heiner« und »Lehrer«. Den einen enttarnten die Zusammenhänge sofort, beim anderen mußte ich angestrengt kombinieren, bis ich ihn in der Klemme hatte. Auch dann log er noch, probierte schlau, wieviel ich wohl wüßte, und berief sich auf sein schwaches Gedächtnis — es war ja alles mindestens zehn Jahre her.
Wer war IMS »Grit«?
Im Schriftstellerverband in Leipzig wurden IMV »Frank« und GMS »Brauer« tätig. Das V bedeutet meines Wissens soviel wie Vorläufig oder Vorgesehen, ein Anfänger in der hohen Kunst des Spitzelns also.
GMS »Burkhard« (Schlüsselposition) sollte Informationen für das Ministerium für Kultur erarbeiten — zu wem gelangten sie? Weiß es Klaus Höpcke, der dort Stellvertreter des Ministers war?
Ein Stück Lebensbericht war nahezu fertig, »Der Zorn des Schafes« sollte er heißen. Für den Herbst 1990 war das Erscheinen vorgesehen — also schnitt ich an die sechzig Seiten Stasi-Material kommentierend und flankierend ein; es war die widerwärtige Arbeit von drei Wochen.
Für ein Dokumentarstück, das der Deutschlandfunk mit dem SFB produzierte, wählte ich als Titel die alte Biermannzeile: »Die Stasi ist mein Eckermann« und transponierte sie in die Vergangenheit. Ein Feature von 115 Minuten entstand und wurde am 29. September 1990 urgesendet. Allein und still saß ich an diesem Abend vor dem Radio, das Lautwerden dieser Phase griff mir schmerzhaft ans Herz.
Ich wußte: Manche wollten gar nicht wissen, wie sie gelebt worden waren. Ich mußte da durch.
Da hieß es:
»AIM <Grit>.
Die Kontaktaufnahme zum AIM erfolgt mit dem Ziel der Erarbeitung von Informationen über literarische Vorhaben, Veröffentlichungen und Verlagsverbindungen zur Person des L.«
Was bedeutet das A?
Verantwortlich für diese »Maßnahme« war Oberleutnant Claus. Vielleicht finde ich ihn im Leipzig unserer Tage?
Der letzte DDR-Innenminister, Diestel, hat Aufklärung behindert. Jetzt heißt der oberste Hüter aller Stasi-Akten Joachim Gauck. Ich setze auf ihn.
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