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detopia-2019: Ich gehe von Gemeingut aus. Weil das eine Textfassung öffentlich-rechtlicher Rundfunkvorträge von 1970 ist.

 

 1. Struktureigenschaften und Funktionsstörungen lebender Systeme 

 

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Ethologie kann als derjenige Wissenszweig definiert werden, der entstand, indem man die in allen anderen biologischen Disziplinen seit Charles Darwin selbst­verständlichen und obligatorischen Fragestellungen und Methoden auch in der Erforschung des tierischen und menschlichen Verhaltens anwandte.

Daß dies erst so merkwürdig spät geschah, hat seine Gründe in der Geschichte der Verhaltensforschung, die wir im Abschnitt über Indoktrinierung noch streifen werden. 

Die Ethologie behandelt also das tierische wie das menschliche Verhalten als die Funktion eines Systems, das seine Existenz wie seine besondere Form einem historischen Werdegang verdankt, der sich in der Stammesgeschichte, in der Entwicklung des Individuums und, beim Menschen, in der Kulturgeschichte abgespielt hat. Die echt kausale Frage, warum ein bestimmtes System so und nicht anders beschaffen sei, kann seine legitime Antwort nur in der natürlichen Erklärung dieses Werdegangs finden. 

Unter den Ursachen allen organischen Werdens spielt, neben den Vorgängen der Mutation und der Neukombination von Genen, die natürliche Zuchtwahl, die Selektion die wichtigste Rolle. Sie bewirkt das, was wir Anpassung nennen, einen echt kognitiven Prozeß, durch den sich der Organismus Information einverleibt, die in der Umwelt vorhanden und für sein Überleben von Bedeutung ist, m.a.W.* durch den er Wissen über die Umwelt erwirbt.

Das Vorhandensein durch Anpassung entstandener Strukturen und Funktionen ist für Lebewesen charakter­istisch, in der anorganischen Welt gibt es nichts dergleichen. Es zwingt damit dem Forscher eine Frage auf, die der Physiker und der Chemiker nicht kennen, die Frage »wozu?«.

* (d-2013:)   m.a.W.: mit anderen Worten

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Wenn der Biologe so fragt, sucht er nicht nach teleologischer Sinndeutung, sondern, bescheidener, nur nach der arterhaltenden Leistung eines Merkmals. Wenn wir fragen, wozu die Katze krumme Krallen habe, und antworten; »zum Mäusefangen«, so ist dies nur eine Kurzfassung der Frage, welche arterhaltende Leistung der Katze diese Form von Krallen angezüchtet habe.

Wenn man ein langes Forscherleben damit verbracht hat, diese Frage wieder und immer wieder und in bezug auf die merk­würdigsten Strukturen und Verhaltens­weisen zu stellen, und wenn man wieder und immer wieder eine überzeugende Antwort auf sie bekommen hat, neigt man zu der Meinung, daß komplexe und generell unwahrscheinliche Bildungen von Körperbau und Verhalten überhaupt nie anders als durch Selektion und Anpassung zustande kommen. 

An dieser Meinung könnte man nun irre werden, wenn man mit der Frage »wozu?« an bestimmte, regel­mäßig zu beobachtende Verhaltensweisen zivilisierter Menschen herantritt. 

Wozu dient der Menschheit ihre maßlose Vermehrung, ihre sich bis zum Wahnsinn steigernde Hast des Wett­bewerbs, die zunehmende, immer schrecklicher werdende Bewaffnung, die fortschreitende Verweichlichung des verstädterten Menschen usw. usf. 

Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich, daß so gut wie alle diese Fehlleistungen Störungen ganz bestimmter, ursprünglich sehr wohl einen Arterhaltungswert entwickelnder Verhaltens-Mechanismen sind. Mit anderen Worten, sie sind als pathologisch aufzufassen.

 

Die Analyse des organischen Systems, das dem sozialen Verhalten des Menschen zugrunde liegt, ist die schwierigste und ehrgeizigste Aufgabe, die sich die Naturwissenschaft stellen kann, denn dieses System ist bei weitem das komplexeste auf Erden. Man könnte meinen, daß dieses ohnehin so schwierige Unterfangen dadurch vollends zur Unmöglichkeit werde, daß das Verhalten des Menschen in vielfacher und unvoraussag­barer Weise durch pathologische Erscheinungen überlagert und verändert wird.

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Glücklicherweise ist dem nicht so. Weit davon entfernt, ein unüberwindliches Hindernis für die Analyse eines organischen Systems zu sein, ist seine pathologische Störung sehr oft der Schlüssel zu seinem Verständnis. Aus der Geschichte der Physiologie kennen wir viele Fälle, in denen der Forscher auf die Existenz eines wichtigen organischen Systems überhaupt erst dadurch aufmerksam gemacht wurde, daß eine pathologische Störung Krankheit hervorrief.

Als  E.T. Kocher den Versuch machte, die sogenannte Basedowsche Krankheit durch Entfernen der Schild­drüse zu heilen, erzeugte er zunächst Tetanie, Krämpfe, weil er die Nebenschilddrüsen, die den Kalkstoffwechsel regulieren, mitgenommen hatte. Als er diesen Fehler korrigiert hatte, erzeugte er durch die immer noch zu radikale Maßnahme der Schilddrüsen-Exstirpation einen Symptomen­komplex, den er Kachexia thyreopriva nannte und der gewisse Ähnlichkeiten mit einer in Alpentälern mit jodarmen Quellen häufigen Form der Idiotie, dem Myxödem, aufwies. 

Aus diesen und ähnlichen Befunden ergab sich, daß die Drüsen mit innerer Sekretion ein System bilden, in dem buchstäblich alles mit allem in ursächlicher Wechselwirkung steht. Jede der ins Blut entleerten Ausscheidungen der endokrinen Drüsen übt eine ganz bestimmte Wirkung auf den Gesamt­organismus aus, die Stoff­wechsel, Wachstumsvorgänge, Verhalten und anderes betreffen kann. Sie werden deshalb Hormone (von griechisch hormao = ich treibe) genannt. Die Wirkungen zweier Hormone können einander genau entgegengesetzt sein, sie sind »anta­gonistisch«, genau wie die Wirkungen zweier Muskeln es sein können, deren Zusammenspiel die erwünschte Stellung eines Gelenkes bewirkt und aufrechterhält.

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Solange das hormonale Gleichgewicht aufrechterhalten bleibt, merkt man nichts davon, daß das System der endokrinen Drüsen aus Teilfunktionen aufgebaut ist. Wird aber die Harmonie der Wirkungen und Gegen­wirkungen auch nur um ein weniges gestört, so weicht der Gesamtzustand des Organismus vom erwünschten »Sollwert« ab, das heißt, er wird krank. Ein Zuviel an Schilddrüsenhormon erzeugt die Basedowsche Krankheit, ein Zuwenig das Myxödem.

 

Das System der endokrinen Drüsen und die Geschichte seiner Erforschung liefert uns wertvolle Hinweise, wie wir bei unserem Versuch, das Gesamt-System der menschlichen Antriebe zu verstehen, am besten vorgehen sollten. Selbstverständlich ist dieses System um sehr viel komplexer gebaut, muß es schon deshalb sein, weil es das der endokrinen Drüsen als Unter-System mit in sich schließt. Der Mensch besitzt ganz offensichtlich eine ungeheuer große Zahl unabhängiger Quellen des Antriebes, von denen sich sehr viele auf phylogenetisch entstandene Verhaltensprogramme, auf »Instinkte«, zurückführen lassen. Es ist irreführend, den Menschen als das »Instinkt-Reduktionswesen« zu bezeichnen, wie ich das früher getan habe. Es ist zwar richtig, daß lange, in sich geschlossene Ketten angeborener Verhaltensweisen im Laufe einer stammes­geschichtlichen Höherentwicklung von Lern­fähigkeit und Einsicht sich in dem Sinne »auflösen« können, daß die obligate Koppelung zwischen ihren Teilen verlorengeht, so daß diese Stücke dem handelnden Subjekt unabhängig zur Verfügung stehen, wie P. Leyhausen an katzenartigen Raubtieren überzeugend dargetan hat. 

Gleichzeitig damit aber wird jedes dieser verfügbar gemachten Stücke, wie ebenfalls Leyhausen zeigte, zum autonomen Antrieb, indem es ein eigenes, nach seiner Ausführung strebendes Appetenz­verhalten entwickelt. Zweifellos fehlen dem Menschen lange Ketten obligatorisch aneinander­gekoppelter Instinkt­bewegungen, aber soweit man aus den an hoch­entwickelten Säugetieren gewonnenen Ergebnissen extrapolieren darf, kann man vermuten, daß er nicht über weniger, sondern über mehr echt instinktive Antriebe verfügt als irgendein Tier. Auf alle Fälle müssen wir bei dem Versuch der Systemanalyse mit dieser Möglichkeit rechnen.

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Besonders wichtig ist dies bei der Beurteilung von offensichtlich pathologisch gestörtem Verhalten. Der allzufrüh verstorbene Psychiater Ronald Hargreaves schrieb mir in einem seiner letzten Briefe, er habe es sich zur methodischen Gewohnheit gemacht, bei jedem Versuch, eine geistige Störung zu verstehen, zwei Fragen gleichzeitig zu stellen. Erstens die, welches wohl die normale, arterhaltende Leistung des im vorliegenden Falle gestörten Systems sei, und zweitens die, welcher Art die Störung sei, insbesondere ob sie durch Über- oder durch Unterfunktion eines Teilsystems verursacht werde.

Die Teilsysteme einer komplexen organischen Ganzheit stehen in so inniger Wechselwirkung, daß es oft schwer ist, ihre Funktionen gegeneinander abzugrenzen, von denen keine in ihrer normalen Form ohne sämtliche anderen denkbar ist. Ja, nicht einmal die Strukturen von Teilsystemen sind immer klar definierbar. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Paul Weiss in seiner geistvollen Schrift <Determinism Stratified> von untergeordneten Systemen sagt: »Ein System ist alles, was einheitlich genug ist, um einen Namen zu verdienen.«

Der menschlichen Antriebe, die einheitlich genug sind, daß sich in der Umgangssprache ein Name für sie findet, gibt es sehr viele. Worte wie Haß, Liebe, Freundschaft, Zorn, Treue, Anhänglichkeit, Mißtrauen, Vertrauen usw. usf. bezeichnen sämtlich Zustände, die den Bereitschaften zu ganz bestimmten Verhaltensweisen entsprechen, nicht anders als dies die von der wissen­schaftlichen Verhaltensforschung geprägten Ausdrücke ebenfalls tun, wie Aggressivität, Rangordnungsstreben, Territori­alität usw. sowie alle mit Stimmung zusammengesetzten Termini, Brut-, Balz- oder Flugstimmung usw.

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Wir dürfen der Feinfühligkeit, die unsere natürlich gewordene Sprache für tiefe, psychologische Zusammen­hänge hat, ein ähnliches Vertrauen entgegenbringen wie der Intuition wissenschaftlicher Tierbeobachter und – zunächst nur als Arbeitshypothese – annehmen, daß jeder dieser Bezeichnungen für menschliche Seelenzustände und Handlungs­bereitschaften ein reales Antriebs-System entspricht, wobei es vorläufig unwesentlich ist, zu welchen Anteilen der betreffende Antrieb seine Kraft aus phylogenetischen oder aus kulturellen Quellen schöpft.

Wir dürfen annehmen, daß jeder dieser Antriebe ein Glied eines wohlgeordneten, harmonisch arbeitenden Systems und als solches unentbehrlich sei. Die Frage, ob Haß, Liebe, Treue, Mißtrauen usw. »gut« oder »schlecht« seien, ist ohne jedes Verständnis für die Systemfunktion dieses Ganzen gestellt und genauso dumm, als trüge einer, ob die Schilddrüse nun gut oder schlecht sei. Die landläufige Vorstellung, daß man derartige Leistungen in gute und schlechte einteilen könne, daß Liebe, Treue und Vertrauen an sich gut, Haß, Untreue und Mißtrauen an sich böse seien, stammt nur daher, daß in unserer Gesellschaft im allgemeinen an den ersten Mangel, an den zweiten Überschuß herrscht. Zu große Liebe verdirbt unzählige hoffnungsvolle Kinder, zum verabsolutierten Selbstwert erhobene »Nibelungentreue« hat infernalische Wirkungen gezeitigt, und Erik Erikson hat jüngst in zwingender Argumentation die Unentbehrlichkeit des Mißtrauens demonstriert.

Eine Struktureigenschaft aller höher integrierten organischen Systeme ist die der Regelung durch sogenannte Regelkreise oder Homöostasen. Um sich ihre Wirkung klarzumachen, stelle man sich zunächst ein Wirkungsgefüge vor, das aus einer Anzahl von Systemen besteht, die einander in ihrer Funktion verstärken, und zwar so, daß das System a die Wirkung von b, b die von c usw. unterstützt, bis zuletzt z seinerseits eine verstärkende Wirkung auf die Leistung von a ausübt.

Ein solcher Kreis »positiver Rückkoppelung« kann sich bestenfalls im labilen Gleichgewicht befinden, die kleinste Verstärkung einer einzigen Wirkung muß zum lawinenhaften Anschwellen sämtlicher Systemfunktionen führen und umgekehrt die kleinste Verminderung zum Verebben sämtlicher Aktivität. Man kann, wie die Technik längst herausgefunden hat, ein solches labiles System dadurch in ein stabiles verwandeln, daß man in den Kreisprozeß ein einziges Glied einführt, dessen Einwirkung auf das in der Wirkungskette folgende um so schwächer wird, je stärker es seitens des vor ihm eingeschalteten beeinflußt wird. So entsteht ein Regelkreis, eine Homöostase oder »negatives Feedback«, wie man es auf schlecht deutsch zu nennen pflegt. Er ist einer der wenigen Vorgänge, die von den Technikern erfunden wurden, ehe sie von der Naturforschung im Bereich des Organischen entdeckt worden waren.

In der lebenden Natur gibt es unzählige Regelkreise. Sie sind für die Erhaltung des Lebens so unentbehr­lich, daß man sich seine Entstehung kaum ohne die gleichzeitige »Erfindung« des Regelkreises vorstellen kann. Kreise positiver Rückkoppelung findet man in der Natur so gut wie nicht oder höchstens in einem rasch anwachsenden und ebenso rasch sich erschöpfenden Ereignis, wie in einer Lawine oder einem Steppenbrand. An diese erinnern auch manche pathologischen Störungen menschlichen Gesell­schafts­lebens, bei denen einem in den Sinn kommt, was Friedrich Schiller in der »Glocke« von des Feuers Macht sagt: »Doch wehe, wenn sie losgelassen!«

Die negative Rückkoppelung des Regelkreises macht es unnötig, daß die Wirkung jedes einzelnen der an ihm beteiligten Unter­systeme genau auf ein bestimmtes Maß festgelegt ist. Eine geringe Über- oder Unterfunktion wird leicht wieder ausgeglichen.

Zur gefährlichen Störung der Systemganzheit kommt es nur dann, wenn eine Teilfunktion bis zu einem Maße gesteigert oder vermindert ist, das die Homöostase nicht mehr auszugleichen vermag, oder aber, wenn am Regelmechanismus selbst etwas nicht in Ordnung ist. Für beides werden wir im Folgenden Beispiele kennenlernen.

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