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5.

Wärmetod des Gefühls

 

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Bei allen Lebewesen, die zur Ausbildung bedingter Reaktionen vom klassischen Pawlowschen Typus fähig sind, kann dieser Vorgang durch zwei in ihrer Wirkung entgegengesetzte Arten von Reizen bewirkt werden, erstens durch andressierende Reize (reinforcement), die das vorangehende Verhalten bekräftigen, zweitens aber durch abdressierende (deconditioning, extinguishing), die es abschwächen oder ganz hemmen. 

Beim Menschen ist die Einwirkung der ersten Reizart mit Lustgefühlen, die der zweiten mit Unlustgefühlen verbunden, und man begeht wohl keine allzu krasse Anthropomorphisierung, wenn man sie auch bei höheren Tieren kurz als Lohn und Strafe bezeichnet.

Es erhebt sich die Frage, weshalb wohl das phylogenetisch evolvierte Programm des Apparates, der diese Form des Lernens bewirkt, mit zwei und nicht einfachheitshalber mit nur einer Art von Reizeinwirkungen arbeitet. 

Darauf wurden schon verschiedene Antworten gegeben. Die nächstliegende ist die, daß die Wirksamkeit des Lernvorganges verdoppelt wird, wenn der Organismus nicht nur aus Erfolg oder Mißerfolg, sondern aus beiden sinnvolle Konsequenzen zu ziehen imstande ist. 

Eine andere hypothetische Antwort ist die folgende: 

Wenn es gilt, den Organismus von bestimmten schäd­lichen Umwelteinflüssen fernzuhalten und ihn in seinem Optimum von Wärme, Licht, Feuchtigkeit usw. zu bewahren, so reicht die Wirkung von Strafreizen sehr wohl aus, und wir sehen tatsächlich, daß die Appetenzen nach einem Optimum und damit nach Reiz-Freiheit, die Wallace Craig eben deshalb als »Aversionen« bezeichnet, meist in dieser Weise bewirkt werden.

Gilt es dagegen, dem Tier eine sehr spezifische Verhaltensweise anzudressieren, und sei es nur das Aufsuchen einer ganz bestimmten, eng umschriebenen Örtlichkeit, so wird man es schwer finden, es ausschließlich durch negativ beantwortete Reize dahin zu treiben. Es wird leichter sein, es durch belohnende Reizwirkungen an den gewünschten Ort zu locken. 

Schon Wallace Craig hat darauf hingewiesen, daß die Evolution diesen Weg der Problemlösung überall dort beschritten hat, wo es galt, dem Tier das Aufsuchen sehr spezifischer Reizsituationen anzudressieren, wie etwa der, die Begattung oder Nahrungsaufnahme auslösen.

Diese Erklärungen für das Doppelprinzip von Lohn und Strafe sind, soweit sie reichen, sicher stichhaltig. Eine weitere Funktion des Lust-Unlust-Prinzips, und zwar ganz sicher seine wichtigste, wird erst dadurch erkennbar, daß eine pathologische Störung die Folgen ihres Ausfallens sichtbar macht. In der Geschichte der Medizin wie der Physiologie ist es ja sehr oft vorgekommen, daß ein gut umschriebener physiologischer Mechanismus sein Vorhandensein erst durch die Konsequenzen seiner Erkrankung kundgetan hat.

Jede Andressur einer Verhaltensweise durch eine sie bekräftigende Belohnung veranlaßt den Organismus, um eines zukünftigen Lustgewinnes willen gegenwärtige Unlust in Kauf zu nehmen oder – objektivierend ausgedrückt – Reizsituationen von solcher Art reaktionslos hinzunehmen, die ohne Vorangehen des Lernvorganges abstoßend und abdressierend wirken würden. 

Um eine lockende Beute zu erwerben, tut ein Hund oder ein Wolf sehr vieles, was er sonst nur sehr ungern täte, er rennt durch Dornen, springt ins kalte Wasser und setzt sich Gefahren aus, die er nachweislich fürchtet. 

Die arterhaltende Leistung all dieser abdressierenden Mechanismen liegt nun offenbar darin, daß sie ein Gegengewicht gegen die Wirkung der andressierenden bilden und verhindern, daß der Organismus im Zuge seines Strebens nach der belohnenden Reizsituation Opfer bringt und Gefahren auf sich nimmt, die in keinem Verhältnis zu dem erwarteten Gewinn stehen.

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Der Organismus kann es sich nicht leisten, einen Preis zu zahlen, der »sich nicht lohnt«. Ein Wolf darf nicht ohne Rücksicht auf Witterungseinflüsse in der kältesten Sturmnacht des polaren Winters auf die Jagd gehen und riskieren, daß er mit einer erfrorenen Zehe für eine Mahlzeit zahlen muß. Es können allerdings Umstände eintreten, unter denen es ratsam ist, ein solches Risiko einzugehen, etwa dann, wenn das Raubtier hart am Verhungern ist und alles auf die letzte Karte setzen muß, um zu überleben.

Daß die einander entgegenwirkenden Prinzipien von Lohn und Strafe, Lust und Unlust tatsächlich dazu da sind, den zu bezahlenden Preis gegen den zu erwerbenden Gewinn abzuwägen, geht eindeutig daraus hervor, daß die Intensität beider mit der ökonomischen Situation des Organismus schwankt. 

Wenn etwa Nahrung im Überfluß vorhanden ist, so sinkt ihre lockende Wirkung so stark, daß ein Tier kaum ein paar Schritte der Mühe wert findet, um sie zu erwerben, die geringste unlustbetonte Reizsituation genügt, um die Appetenz nach Pressen zu blockieren. Umgekehrt gibt die Anpassungsfähigkeit des Lust-Unlust-Mechanismus dem Organismus die Möglichkeit, im Notfall einen exorbitanten Preis für die Erreichung eines lebens­notwendigen Zieles zu zahlen.

Dem Apparat, der bei allen höheren Lebewesen diese lebenswichtige Anpassung des Verhaltens an die wechselnde »Marktlage« vollbringt, haften gewisse fundamentale physiologische Eigenschaften an, die er mit fast allen neuro-sensorischen Organisationen gleicher Komplikationsstufe gemeinsam hat. 

Er ist erstens dem weitverbreiteten Vorgang der Gewöhnung oder Sinnes-Adaptation unterworfen. Das heißt, jede Reizkombination, die viele Male hintereinander einwirkt, verliert allmählich von ihrer Wirksamkeit, ohne daß sich dabei – und dies ist wesentlich – der Schwellenwert der Reaktion auf andere, selbst auf sehr ähnliche Reizsituationen verändert.

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Zweitens aber besitzt der in Rede stehende Mechanismus die ebenfalls weitverbreitete Eigenschaft der Reaktions-Trägheit. Wird er zum Beispiel durch Eintreffen stark Unlust auslösender Reize nach dieser Seite hin aus dem Gleichgewicht gedrängt und hören dann diese Reize plötzlich auf, so kehrt das System nicht in einer gedämpften Kurve in den Zustand der Indifferenz zurück, sondern es schießt zunächst über diesen Ruhezustand hinaus und registriert das einfache Aufhören der Unlust als erhebliche Lust. Der uralte österreichische Bauernscherz trifft den Nagel auf den Kopf: »Heut mach i mei'n Hund a Freud: Erst hau i eam recht und nacha hör i auf.«

 

Diese beiden physiologischen Eigenschaften der Lust-Unlust-Organisation sind im Konnex dieser Abhandlung deshalb wichtig, weil sie – im Verein mit gewissen anderen dem System eigenen Eigenschaften – unter den Lebensbedingungen moderner Zivilisations­menschen zu gefährlichen Störungen der Lust-Unlust-Ökonomie führen können. Ehe ich auf diese Störungen zu sprechen komme, muß ich daher noch einiges über die zuletzt erwähnten Eigenschaften sagen. Sie leiten sich aus den ökologischen Bedingungen her, die obwalteten, als in der menschlichen Stammesgeschichte der in Rede stehende Mechanismus — neben vielen anderen angeborenen Programmierungen menschlichen Verhaltens — ausgebildet wurde. 

Das Leben des Menschen war damals hart und gefährlich. Als Jäger und Fleischfresser war er stets von den Zufällen seines Beute-Erwerbs abhängig, fast immer hungrig und seiner Nahrung nie sicher, als Tropenwesen, das allmählich in gemäßigte Breiten vordrang, muß er unter dem Klima schwer gelitten haben, und da er mit seinen primitiven Waffen den Großraubtieren seiner Zeit keineswegs überlegen war, muß er in einem Dauerzustand höchster Alarmbereitschaft und Angst gelebt haben.

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Unter diesen Umständen war so manches, was wir heute als »sündhaft« oder zumindest als verächtlich betrachten, durchaus richtige, ja lebensnotwendige Strategie des Überlebens. Fraß und Vollerei waren eine Tugend, denn wenn einmal ein Großtier in die Falle gegangen war, war es das Klügste, was ein Mensch tun konnte, sich so voll zu fressen wie nur irgend möglich. Von der Todsünde der Faulheit gilt Analoges, die Anstrengungen, die nötig waren, ein Stück Beute zu erjagen, waren so gewaltig, daß man gut daran tat, nicht mehr Energie zu verausgaben als unbedingt erforderlich.

Die Gefahren, die den Menschen auf Schritt und Tritt umlauerten, waren so drohend, daß das Eingehen jedes unnötigen Risikos unverantwortlicher Unsinn und äußerste, an Feigheit grenzende Vorsicht die einzig richtige Maxime allen Handelns war. Kurzum, zu der Zeit, als der Großteil der Instinkte programmiert wurde, die wir heute noch in uns tragen, brauchten unsere Vorfahren die Härten des Daseins nicht in »mannhafter« oder »ritterlicher« Weise zu suchen, denn diese drängten sich ihnen von selbst in gerade eben noch erträglicher Weise auf. Das dem Menschen von seinem phylogenetisch entstandenen Lust-Unlust-Mechanismus aufgezwungene Prinzip, allen vermeidbaren Gefahren und Energie-Ausgaben tunlichst aus dem Wege zu gehen, war damals durchaus richtig.

Die vernichtenden Fehlleistungen, die derselbe Mechanismus unter den Lebensbedingungen heutiger Zivil­isation hervorbringt, erklären sich aus seiner phylogenetischen Konstruktion und aus den beiden fundamentalen physiologischen Eigenschaften der Gewöhnbarkeit und der Trägheit. 

Schon in grauer Vorzeit haben die Weisen der Menschheit ganz richtig erkannt, daß es für den Menschen keineswegs gut ist, wenn er in seinem instinktiven Streben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung allzu erfolgreich ist.

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Schon in alten Zeiten haben es die Menschen hochentwickelter Kulturen verstanden, alle unlustbringenden Reizsituationen zu vermeiden, was zu einer gefährlichen, wahrscheinlich sogar oft zum Untergang einer Kultur führenden Verweichlichung führen kann. Seit altersher haben die Menschen herausgefunden, daß man die Wirkung lust­bringender Situationen durch besonders schlaue Zusammen­stellung der Reize steigern und durch deren ständigen Wechsel vor der Abstumpfung durch Gewöhnung bewahren kann, und diese Erfindung, die in jeder höheren Kultur gemacht wurde, führt zum Laster, das indessen kaum jemals ebenso kulturvernichtend wirkt wie die Verweichlichung. 

Gegen beide ist gepredigt worden, solange weise Männer gedacht und geschrieben haben, und zwar stets mit der größeren Emphase gegen das Laster.

Die Entwicklung der modernen Technologie und vor allem der Pharmakologie leistet nun dem allgemein-menschlichen Streben nach Unlust­vermeidung in nie vorher dagewesenem Maße Vorschub. Wir sind uns kaum mehr bewußt, wie sehr wir von dem modernen »Komfort« abhängig geworden sind, so selbstverständlich ist er uns geworden. Die bescheidenste Hausgehilfin würde sofort empört revoltieren, böte man ihr ein Zimmer mit der Heizung, der Beleuchtung sowie der Schlaf- und Waschgelegenheit an, die dem Geheimrat von Goethe oder selbst der Herzogin Anna Amalie von Weimar durchaus ausreichend erschienen. 

Als vor einigen Jahren in New York durch eine größere Reglerkatastrophe für einige Stunden der elektrische Strom ausfiel, glaubten viele ganz ernstlich, der Weltuntergang sei gekommen. Auch diejenigen unter uns, die von den Vorzügen der guten alten Zeit und vom erziehlichen Werte eines spartanischen Lebens am festesten überzeugt sind, würden ihre Ansichten revidieren, wenn sie gezwungen würden, die vor 2000 Jahren übliche chirurgische Behandlung über sich ergehen zu lassen.

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Durch die fortschreitende Beherrschung seiner Umwelt hat der moderne Mensch ganz zwangsläufig die »Marktlage« seiner Lust-Unlust-Ökonomie in der Richtung einer ständig zunehmenden Sensitivierung gegenüber allen Unlust auslösenden Reizsituationen und einer ebensolchen Abstumpfung gegen alle Lust auslösenden verschoben. Aus einer Reihe von Gründen führt dies zu deletären Folgen.

Die wachsende Intoleranz gegen Unlust – im Verein mit der verringerten Anziehungskraft der Lust – führt dazu, daß die Menschen die Fähigkeit verlieren, saure Arbeit in solche Unternehmen zu investieren, die erst in der späteren Folge einen Lustgewinn versprechen. Daraus resultiert ein ungeduldiges Verlangen nach sofortiger Befriedigung aller aufkeimenden Wünsche. Dem Bedürfnis nach Sofortbefriedigung (instant gratification) leisten nun leider die Produzenten und kommerziellen Unternehmen in jeder Weise Vorschub, und merkwürdigerweise durchschauen die Konsumenten nicht, wie sehr sie durch die »entgegenkommenden« Ratengeschäfte in Sklaverei geraten.

Aus leicht einzusehenden Gründen zeitigt das zwanghafte Bedürfnis nach sofortiger Befriedigung auf dem Gebiete des sexuellen Verhaltens besonders böse Folgen. Mit dem Verlust der Fähigkeit, ein weitgestecktes Ziel zu verfolgen, schwinden alle feiner differenzierten Verhaltensweisen der Werbung und der Paarbildung, sowohl die instinktmäßigen wie die kulturell programmierten, also nicht nur jene, die im Verlaufe der Stammesgeschichte zum Zwecke des Paarzusammenhaltes entstanden sind, sondern auch die spezifisch menschlichen Normen des Verhaltens, die im Rahmen des Kulturlebens analogen Funktionen dienen.

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Das resultierende Verhalten, nämlich die in so vielen heutigen Filmen verherrlichte und zur Norm erhobene Sofort-Begattung als »tierisch« zu bezeichnen, wäre irreführend, da ihresgleichen bei höheren Tieren nur ganz ausnahmsweise vorkommt, »viehisch« wäre etwas besser, wenn man unter »Vieh« Haustiere versteht, denen der Mensch im Interesse leichterer Züchtbarkeit alle höher differenzierten Verhaltens­weisen der Paarbildung »weggezüchtet« hat.

Weil dem Mechanismus der Lust-Unlust-Ökonomie, wie erwähnt, die Eigenschaft der Trägheit und damit der Kontrastbildung zu eigen ist, hat das übertriebene Bestreben, die geringste Unlust um jeden Preis zu vermeiden, zur unausbleibenden Folge, daß bestimmte Formen des Lustgewinnes, die eben auf Kontrast­wirkung beruhen, unmöglich gemacht werden. Die alte Weisheit aus Goethes Schatzgräber »Saure Wochen, frohe Feste« droht in Vergessenheit zu geraten

Vor allem ist es die Freude, die durch wehleidige Unlust­vermeidung unerreichbar gemacht wird. 

Helmut Schulze hat auf die merkwürdige Tatsache hingewiesen, daß das Wort wie der Begriff »Freude« bei Freud nicht vorkommt. Er kennt den Genuß, aber nicht die Freude. Wenn man, so sagt Schulze etwa, verschwitzt und müde, mit durchgekletterten Fingern und schmerzenden Muskeln auf dem Gipfel eines schwer besteigbaren Berges ankommt, mit der Aussicht, alsbald die noch größeren Mühen und Gefahren des Abstieges bestehen zu müssen, so ist dies alles wahrscheinlich kein Genuß, aber die größte Freude, die man sich denken kann.

Genuß kann allenfalls noch gewonnen werden, ohne den Preis von Unlust in Gestalt saurer Arbeit dafür zu bezahlen, nicht aber der Freude schöner Götterfunke. Die heutzutage in ständigem Wachsen begriffene Unlust-Intoleranz verwandelt die naturgewollten Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens in eine künstlich planierte Ebene, aus den großartigen Wellenbergen und -tälern macht sie eine kaum merkbare Vibration, aus Licht und Schatten ein einförmiges Grau. Kurz, sie erzeugt tödliche Langeweile.

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Dieser »emotionelle Wärmetod« scheint nun in ganz besonderer Weise jene Freuden und Leiden zu bedrohen, die sich notwendigerweise aus unseren sozialen Beziehungen, aus unseren Bindungen an Gatten und Kinder, an Eltern, Verwandte und Freunde ergeben. Die von Oskar Heinroth 1910 geäußerte Vermutung, »daß es sich bei unserem Benehmen gegen Familie und Fremde, beim Liebes- und Freundschaftswerben um rein angeborene und viel urtümlichere Vorgänge handelt, als wir gemeinhin glauben«, erweist sich durch moderne human-ethologische Ergebnisse als durchaus richtig. Die erbliche Programmierung aller dieser höchst komplexen Verhaltensweisen hat zur Folge, daß sie samt und sonders nicht nur Freude, sondern auch viel Leid mit sich bringen. 

»Ein Irrtum, welcher sehr verbreitet 
und manchen Jüngling irreleitet, 
ist der, daß Liebe eine Sache, 
die immer nur Vergnügen mache«

sagt Wilhelm Busch. Dem Leide aus dem Wege gehen zu wollen heißt, sich einem wesentlichen Teil des menschlichen Lebens zu entziehen. Diese deutliche Tendenz summiert sich in gefährlicher Weise mit derjenigen der schon S. 21 besprochenen Übervölkerungsfolgen (not to get involved).

Bizarre, ja unheimliche Auswirkungen hat bei manchen Kulturgruppen das Bestreben, alles Trauern um jeden Preis zu vermeiden, für die Einstellung zum Tode geliebter Menschen. Dieser wird bei großen Anteilen der nordamerikanischen Bevölkerung im Freudschen Sinne verdrängt, der Verstorbene ist plötzlich verschwunden, man spricht nicht von ihm, ja es ist taktlos, dies zu tun, man benimmt sich so, als wäre er nie gewesen. Noch schauerlicher ist die von Evelyn Waugh, dem grausamsten aller Satiriker, in seinem Buche <The Loved One> gegeißelte Verniedlichung des Todes. Man schminkt die Leiche kunstvoll, und es gehört zum guten Ton, Entzücken über ihr hübsches Aussehen zu äußern.

Im Vergleich zu den vernichtenden Wirkungen, welche die weitgehende Unlustvermeidung auf wahres Menschen­tum ausübt, wirken diejenigen eines ebenso schrankenlosen Strebens nach Lustgewinn geradezu harmlos.

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Man ist versucht zu sagen, der moderne Zivilisationsmensch sei zu blutlos und blasiert, um ein markantes Laster zu entwickeln. Da sich das fortschreitende Schwinden der Fähigkeit zu Lusterlebnissen großenteils aus der Gewöhnung an starke und immer stärkere Reizsituationen ergibt, ist es nicht verwunderlich, daß blasierte Menschen nach immer neuen Reizsituationen fahnden.

Diese »Neophilie« betrifft so ziemlich sämtliche Beziehungen zu Umweltobjekten, deren Menschen überhaupt fähig sind. Für den von der in Rede stehenden Kulturkrankheit Befallenen verliert ein Paar Schuhe, ein Anzug oder ein Automobil nach einiger Zeit des Besitzes in völlig analoger Weise seine Anziehungskraft wie die Geliebte, der Freund oder selbst die Heimat. In merkwürdig unbeschwerter Weise verkaufen zum Beispiel viele Amerikaner bei einem Umzug ihren gesamten Hausrat und kaufen sich neue Sachen. Ein ständiges Lockmittel der Annoncen der verschiedensten Reisebüros ist die Aussicht »to make new friends«. 

Es mag auf den ersten Blick paradox, ja fast zynisch erscheinen, wenn ich behaupte, daß das Bedauern, das unsereiner empfindet, wenn er eine treue alte Hose oder Tabakpfeife in den Abfall wirft, mit der sozialen Bindung an menschliche Freunde gewisse Quellen gemeinsam hat. Wenn ich aber an die Gefühle denke, mit denen ich endlich unseren alten Wagen verkaufte, an den sich unzählige schöne Reise-Erinnerungen knüpften, muß ich eindeutig feststellen, daß sie qualitativ denen beim Abschied von einem Freunde glichen. 

Diese einem seelenlosen Gegenstand gegenüber natürlich völlig abwegige Reaktion ist gegenüber einem höheren Tiere, z.B. einem Hunde, nicht nur berechtigt, sondern geradezu ein Test für Gemütsreichtum oder -armut eines Menschen. Ich habe mich von vielen Leuten innerlich abgewendet, die von ihrem Hunde erzählten: »... und dann zogen wir in die Stadt und mußten ihn weggeben.«

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Die Neophilie ist eine Erscheinung, die den Großproduzenten hochwillkommen ist und die, dank der im 7. Kapitel zu besprechenden Indoktrinierbarkeit der Massen, zu merkantilem Gewinn größten Stiles ausge­schrotet werden kann. »Built-in obsoletion«, d.h. »eingebaute Veraltung«, ist ein Prinzip, das in der Kleider- wie in der Automobilmode eine sehr große Rolle spielt.

Zum Abschluß dieses Kapitels seien noch die Möglichkeiten erwogen, der Verweichlichung und dem Wärme­tod des Gefühls therapeutisch entgegenzutreten. So leicht verständlich die Ursachen sind, so schwer sind sie abzustellen. Was fehlt, ist offensichtlich das naturgegebene Hindernis, dessen Bewältigung den Menschen stählt, indem sie ihm Unlust-Toleranz aufzwingt, und ihm, wenn sie gelingt, die Freude der Bewährung, des Erfolges zuteil werden läßt. Die große Schwierigkeit liegt darin, daß dieses Hindernis, wie gesagt, natur­gegeben sein muß. Die Bewältigung absichtlich herbeigeführter Erschwerungen des Lebens gewährt keine Befriedigung.

Kurt Hahn hat große therapeutische Erfolge dadurch erzielt, daß er blasiert-gelangweilte Jugendliche an der Meeresküste zur Rettung Ertrinkender einsetzte: An diesen den tiefen Schichten der Persönlichkeit unmittelbar zugänglichen Bewährungs-Situationen fanden viele der Behandelten wirkliche Heilung. 

Analoge Wege beschritt Helmut Schulze, indem er seine Patienten in eindringlich gefährliche Situationen brachte, in »Grenz­situationen«, wie er das nennt, in denen, um es einmal ganz vulgär auszudrücken, der wirkliche Ernst des Lebens so hart an die Verweichlichten herantritt, daß ihnen ihre Verrücktheit vergeht. 

So erfolgreich diese von Hahn und Schulze unabhängig entwickelten Methoden der Therapie sind, schaffen sie keine allgemeine Lösung des Problems, denn man kann nicht künstlich Schiffbrüche in genügender Zahl arrangieren, um allen danach Bedürftigen das heilende Erlebnis der Bewährung zu verschaffen, noch kann man sie alle in Segelflugzeuge setzen und so schrecken, daß ihnen zum Bewußtsein kommt, wie schön das Leben eben doch ist.

 

Ein Modell der möglichen Dauerheilung ist merkwürdigerweise in den gar nicht so seltenen Fällen gegeben, in denen die Langeweile des emotionellen Wärmetodes zum Selbstmordversuch führt, der eine mehr oder weniger schwere Dauerbeschädigung hinterläßt. 

Ein erfahrener Blindenlehrer aus Wien erzählte mir vor vielen Jahren, daß junge Menschen, die sich in selbst­mörderischer Absicht durch einen Schuß in die Schläfe ums Augenlicht gebracht hatten, niemals einen zweiten Suizidversuch anstellten. Sie lebten nicht nur weiter, sondern reiften erstaunlicher­weise zu ausgeglichenen, ja glücklichen Menschen heran. 

Ein ähnlicher Fall betrifft eine Dame, die als junges Mädchen in Selbst­mord­absicht aus dem Fenster sprang, sich das Rückgrat brach und anschließend mit ihrer Querschnitts­läsion ein glückliches und menschenwürdiges Dasein führte. 

Ohne allen Zweifel war es die Schaffung eines schwer über­windbaren Hindernisses, das allen diesen aus Langeweile verzweifelnden jungen Menschen das Leben wieder lebenswert machte.

Wir ermangeln nicht der Hindernisse, die wir überwinden müssen, soll die Menschheit nicht zugrunde gehen, und der Sieg über sie ist fürwahr schwer genug, um befriedigende Bewährungssituationen für jeden einzelnen von uns zu liefern. Es müßte eine durchaus erfüllbare Aufgabe der Erziehung sein, die Existenz dieser Hindernisse allgemein bekannt zu machen.

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