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3. Die Kompensationsbemühungen gegen das Mangelsyndrom

 

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Die allgemeine Lebensweise als Kompensation 

Ich habe als wesentliche Folge staatlicher und familiärer Repression das Mangelsyndrom mit dem Gefühlsstau beschrieben. Der unbefriedigte und defizitäre Zustand des Mangels verursacht und hinterläßt einen chronischen Spannungs­zustand, einen Zustand von Frust und Streß, der in der ganzheitlichen Betrachtung natürlich körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Ausdruck findet und irgendwie ersatzweise abgeführt und gedämpft werden muß, ansonsten wird der Mensch psychotisch, körperlich schwer­krank oder kriminell, oder er trägt zu schweren gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bei.

Ich beschreibe im folgenden die Kompensations­bemühungen gegen das Mangelsyndrom, wie sie in unserer Analyse erkennbar wurden. Dabei gehen Mechanismen allgemeinerer Natur mit den spezifischeren Verhaltensweisen der DDR-Situation zusammen und bringen uns sowohl Erkenntnisse der psycho­thera­peutischen Krankheitslehre wie auch der speziellen und typischen Entwicklungen unter den psychosozialen Bedingungen des »real existierenden Sozialismus« in der DDR. 

Zu den wesentlichsten Kompensations­versuchen zähle ich körperliche, seelische und soziale Symptome und Erkrankungen, Körperdeformierungen und Charakter­störungen, den Einsatz von Dämpfungsmitteln, typische soziale Rollen und Merkmale einer Lebensweise, die ich verall­gemeinernd darstellen werde, wohl wissend und achtend, daß jeder einzelne Lebensweg als ganz individuelles Schicksal und in seiner Verantwortung und Würde durch eine solche Darstellung nicht gerecht wiedergegeben werden kann.

Ich will in diesem Buch auch mehr die wesentlichen psychosozialen Mechanismen beschreiben und als Vorgänge und Kräfte entlarven, die eine ganze Gesellschaft erheblich beeinflussen können. Wenn individuelle Fehlentwicklung massenweise auftritt, muß es auch zu einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung komme, die wiederum die einzelnen Menschen massenweise verformt.

 

Ich versuche also im folgenden, die Alltagskultur und Merkmale einer für die DDR typischen Lebensweise zu beschreiben. Dazu will ich Hypothesen äußern, wie sie sich aus der psychotherapeutischen Erkenntnis ergeben, und ich will dabei den Kompensations­charakter für das bestehende Mangelsyndrom aufweisen.


Die auffälligsten Merkmale waren die Wirkungen und Folgen des autoritär-totalitären Staatssystems: Ein allgegenwärtiger Anpassungs­druck hat den Menschen praktisch nur den einen Weg offengelassen, die vom System geforderten Verhaltensweisen zu erfüllen und schließlich auch zu verinnerlichen. Der Weg hieß: Disziplin, Ordnung, Kontrolle, Unterordnung und Anstrengung. Diese Prinzipien beherrschten die Sexualität, die Geburt, die familiäre Erziehung, die Krippen, Kindergärten und Schulen, die Ausbildung, die Armee, den Beruf und die Freizeit. Es war ein einziger Weg der Disziplinierung, wobei der moralische Druck und die Erzeugung von Angst und Schuldgefühlen stärker eingesetzt wurden als direkte Gewalt. Die Erziehung ruhte nicht eher, bis ein »ordentlicher« Weg eingeschlagen war, und die Außenseiter wurden, wie gesagt, von der Justiz, der Medizin oder der Kirche »versorgt«.

Das Bild eines riesigen Käfigs bietet sich als traurige Metapher an: eine stabile und absolut gesicherte Umzäunung, darin die perfekte Dressur mit Zuckerbrot (das mehr versprochen als eingelöst wurde) und Peitsche (die mehr geschwungen als geschlagen wurde), die auf Leistung und Gehorsam orientierte. Die durchschnittliche Idealentwicklung war: gute bis sehr gute Zensuren in der Schule, tadelloses Betragen, reibungslose Ausbildung, frühe Heirat und – damit die repressive Erziehung gesichert blieb – Elternschaft noch bevor sexuelle Lustfähigkeit erreicht war.

Um den kleinen erreichbaren Wohlstand mußte man in der Regel ringen und kämpfen, sich demütigen und korrumpieren lassen, bis man schließlich eine eigene kleine Wohnung, eine Schrankwand, eine Waschmaschine, einen Fernseher und einen Trabi besaß. Die noch stärker Leistungsorientierten strebten dann nach einem Eigenheim oder einer Datsche. Nicht selten kam es nach Fertigstellung des Eigenheimes zu psychosomatischen und psychischen Störungen oder zu einer Ehekrise. Der Bau hatte viele Jahre alle Kräfte gebunden und Spannungen weggeschoben, nun saß man in der guten Stube und wußte mit sich nichts mehr anzufangen. Der innere Mangel trat wieder hervor, von dem man sich durch die Anstrengungen des Hausbaues so geschickt hatte ablenken können: Das Heim mußte ja zumeist eigenhändig errichtet werden, Baumaterial und sonstige Arbeitskräfte waren im äußeren Mangel zu »organisieren«, weshalb »Beziehungen«, Bestechung, Schwarzarbeit und Diebstahl fast selbstverständlich dazu­gehörten.

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Die Krise war aber zumeist weniger die Folge der chronischen Überlastung – die hatte man ja gerade gesucht –, sondern wurde ausgelöst wegen der nun fehlenden Kompensations­möglichkeit nach Fertigstellung des Hauses.

Der »real existierende Sozialismus« hat an keiner Stelle glaubhafte und überzeugende Werte schaffen können, die über das profane Leistungs- und Wohlstandsdenken hinaus reichten. Im ewig kränkenden Vergleich zu den überlegeneren und reicheren Westdeutschen waren die DDR-Bürger eher noch verrückter nach äußeren Werten. Die chronische Frustration und der Neid haben da sicher eine entscheidende Rolle gespielt. So hat sich eine Steigerungskultur entwickelt, die die sogenannte klassenlose Gesellschaft in neue »Klassen« einteilte: Wer es sich leisten konnte, in den Luxusläden »Delikat« und »Exquisit« einzukaufen, wer D-Mark besaß und sich aus dem Intershop versorgen konnte oder wer als höchsten Rang den Reisekaderstatus oder die Reise­erlaubnis mit Westverwandtschaft für sich in Anspruch nehmen konnte. 

Der Fetischcharakter westlicher Waren war nicht mehr zu überbieten: Leere Bier- oder Coladosen wurden als Schmuckstücke auf die Schrankwand gestellt, Plastetüten mit Reklame­aufschrift besaßen Handelswert, Westkleider machten Leute. Realer Mangel und qualitätsmindere Ware bei uns, der Warenüberfluß und der Qualitätsluxus im Westen waren der affektive Hintergrund für eine nie endende und nie befriedigende Konsumspirale. So war auch bei uns »Familie Neureich« ein beliebtes Spiel mit der Variation des Kinderspiels »Meins ist besser als deins!«, wobei der Westartikel den absoluten Maßstab setzte.

Eine wichtige Besonderheit des Lebens in der DDR war die ausgesprochene Infantilität: Ein ganzes Volk wurde in ewiger »Kindheit« gehalten, so wie man Kinder mit der »schwarzen Pädagogik« quält, verdummt und kleinhält. Der Staat war der große, allwissende, immer recht behaltende, autoritäre, alles bestimmende »Vater«. Gegen den Staat und seine Entscheidungen gab es praktisch keine Rechtsmittel. Verwaltungs- und Verfassungsgerichte waren abgeschafft. Es war klar, daß der Staatsapparat immer nur die Anweisungen der Partei umzusetzen hatte Die Volkskammer war zu einer jämmerlichen Rolle degradiert (stets einstimmige Zustimmung und Claqueur-Übungen – was für Menschen mußten das sein, die dazu in der Lage waren?).

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Dieses Verhältnis zwischen Staat und Partei nahm Formen an, wie sie häufig Ehebeziehungen in der DDR kennzeichneten: Die Mutter (Partei) dominiert und beherrscht den Vater (Staat), der seine Depotenzierung dann mit besonderer Strenge an den Kindern (Volk) ausläßt. In der Tat war uns ja das Eingaberecht »gewährt«, und wenn wirklich mal zugunsten eines Bürgers entschieden wurde, war es in der Regel die Partei, die staatliche Entscheidungen korrigierte. Im Vergleich mit ehelichen Verhältnissen nahm dann auch die Kirche eine mütterliche Rolle an, die ihr ungeklärtes Verhältnis zum »Vater« darin agierte, daß sie die »Kinder« in Schutz nahm, häufig auch hinter dem Rücken des »Vaters«, statt sich direkt und offen mit der zu strengen Autorität auseinander­zusetzen. In beiden Varianten müssen wir wohl unglückliche »Partnerschaften« erkennen.

Besonders auffällig war, daß die unbezweifelbare repressive Macht des Staates als vormundschaftlich-fürsorg­lich ausgeübt wurde, was die Entmündigung des Volkes nur verschleierte und die berühmte »Versorgungs­mentalität« des DDR-Bürgers kultivierte.

Die Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Bevölkerung wurde als »soziale Sicherheit« glorifiziert. Für den DDR-Bürger wurde praktisch alles festgelegt, ohne daß er mitentscheiden konnte. Die Gesundheits­fürsorge, die Ausbildung, die Wohnungsfrage wurden administrativ geregelt. Der Entscheidungs­freiraum war minimal, die Freizeitgestaltung, die Beweglichkeit, die Gesinnung waren eingeengt und kontrolliert.

Nicht selten wurde versucht, die langweilige Lebensart durch Alkohol aufzuheitern. Weder im familiären noch im gesellschaft­lichen Bereich, bei keiner Kollektiv- und Brigadefeier konnte auf Alkohol verzichtet werden. Die steife Zurück­haltung, die vorsichtige Wortkargheit, die mißtrauische Distanz wurden mit ihm aufgeweicht, und die gestaute Emotionalität machte sich dann in Witzen, Anspielungen, Zweideutigkeiten, Gegröl, Gekreisch und manchmal auch im Gezänk Luft.

In der Sprache der analytischen Psychotherapie war die Entwicklung in der DDR auf einer oralen und analen Stufe stehen­geblieben. Nach analytischer Theorie vollzieht sich die Entwicklung eines Menschen in Phasen mit jeweils bevorzugter Bedeutung bestimmter Tätigkeiten und Fähigkeiten, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Körperregion stehen.

Am Anfang steht z.B. die Nahrungsaufnahme ganz im Vordergrund und der Mund wird das zentrale Organ, das Kontakt, Aufnahme, Befriedigung und Sättigung ermöglicht und vermittelt.

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Später richtet sich das besondere Interesse auf die Ausscheidungs­funktionen und die stolze Erfahrung, daß man zurückhalten und hergeben selbst bestimmen kann. Dann rücken die Genitalien in den Mittelpunkt des Interesses, also die Organe, die in der Lage sind, bei entsprechendem Gebrauch Lust, Entspannung und die innigste zwischenmenschliche Beziehung zu ermöglichen. Zur gesunden Entwicklung gehört das konfliktarme Durchleben dieser das ganze Leben prägenden Erfahrungen. So werden in der oralen Phase die Erfahrung für Bekommen, Gesättigtwerden, aber auch für Sich-Nehmen, für Zupacken und Kleinkriegen gewonnen.

In der analen Phase werden die Urerfahrungen von Hergeben und Schenken, von Verweigern und Behalten, von Ja- und Nein-Sagen, von Sich-Gehenlassen und Sich-Beherrschen, von Ordnung und Disziplin, von Zwang­haftigkeit und Spontaneität gemacht und der Stolz des Machenkönnens und Aus-sich-heraus-Produz­ierens begründet. Und in der genitalen Phase schließlich wird die Geschlechts­identität mit Eigen­ständigkeit, Selbst­bewußtsein, kreativer und produktiver Potenz und sexueller Lustfähigkeit erworben.

Werden in einer Entwicklungsphase die bestimmenden Wünsche und Bedürfnisse nicht hinreichend befriedigt und werden belastende und verletzende Erfahrungen gemacht, so bleibt der Mensch auf diese Entwick­lungs­stufe fixiert.

Die »orale Fixation« der DDR-Bürger zeigte sich in der weitverbreiteten Tendenz, Saufen, Rauchen und Fressen zu den großen Seelen­tröstern zu machen. Die Ernährungs­weise war ausgesprochen ungesund: zu viel Fettes und Süßes auf der einen Seite und eklatanter Mangel an Frischobst und Gemüse auf der anderen Seite. Vollwertkost war fast unbekannt und vegetarische Ernährung nicht nur weitgehend verpönt, sondern auch kaum möglich. Nach dem statistischen Jahrbuch der DDR wurden 1987 18,6 kg Butter, 54 kg Zucker, 99,4 kg Fleisch und Fleischerzeugnisse pro Kopf der Bevölkerung und Jahr verbraucht. Vor allem durch die Überernährung waren die Männer bis 35 Prozent und die Frauen bis 45 Prozent deutlich übergewichtig. Die Krank­heiten, die mit einer falschen Ernährung zusammenhingen, hatten nach vorsichtigen Schätzungen auf mehr als die Hälfte der Todesfälle wesentlichen Einfluß.

Unter Fachleuten wird mit ca. 650.000 Alkoholikern gerechnet und daß etwa 15 Prozent der Bevölkerung Alk­o­hol­mißbrauch betreiben, so daß immerhin 2,5 Millionen Bürger der DDR als »starke Trinker« einzu­schätzen sind.

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Besonders Anfang der 70er Jahre kam es zu einem deutlichen Anstieg des Alkoholverbrauchs von 6 auf 10 Liter reinem Alkohol pro Kopf und Jahr. Den Gesundheitszustand schätzen nur 33 Prozent der Bevölkerung als »gesund und leistungsfähig« ein, wobei sich die Frauen deutlich schlechter fühlen. Der Krankenstand lag im Durchschnitt bei sechs Prozent. (Sozialreport '90)

Schlafmittel, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel wurden in großen Mengen »geschluckt« und sehr bereitwillig verordnet. Harte Drogen gab es nur deshalb nicht, weil kein hartes Geld dafür vorhanden war; dies wird sich jetzt mit der D-Mark schnell ändern. Weihnachten war das Superfest der Oralität: die Jagd nach Geschenken und Delikatessen, die nur noch materialisierte »Liebe« und die ewig-gleiche verlogene Familienharmonie dominierten das Bild. Die Heilig-Abend-Gottesdienst-Rührseligkeit wurde selbst von vielen Pastoren, die sonst in ihren leeren Kirchen chronisch frustriert waren, als verdächtig und unangenehm empfunden.

Nach der Wahl am 18. März wurde zur Erklärung des überraschenden und wohl auch peinlichen Wahlergebnisses die Brechtsche Aussage zur Entschuldigung gebraucht, erst komme halt das Fressen und dann die Moral. Dies stimmt nur, wenn man zum »Fressen« einen VW-Golf GTI, ein Video und Marlboro dazuzählt, denn in der DDR hat niemand gehungert – jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne; daß wir aber auf eine andere Art und Weise ausgehungert waren, ist eine andere Sache. Nein, das Wahlergebnis bestätigte vor allem auch das Vorherrschen der oralen Fixation als einen Kompensations­mechanismus für die massenhaft verfehlte Lebensart. Es war vor allem die Hoffnung auf die D-Mark und den besseren Konsum, mit der das Mangel­syndrom gelindert werden wollte und wodurch vor allem die inneren Defizite verdeckt bleiben sollten. Der dadurch hervorgerufene häufige chronisch-hungrige Zustand hatte Neid und Raffgier erzeugt, was sich zuletzt kollektiv im Sturm auf die westdeutschen Kaufhäuser und Supermärkte entlarvte – wobei das Begrüßungsgeld als demütigender Köder ausgelegt war.

Die »anale Fixation« zeigte sich vor allem im vorwiegend gebremsten, gehemmten und kontrollierten Verhalten. Die repressiven Verhältnisse im System haben die allgemeine Retention verfestigt, die in der meist zu frühen und zu strengen Sauberkeitsdressur als Störung des Hergebens und Loslassens angelegt worden war. Ja nichts Unbedachtes tun oder sagen, ja nicht auffallen, sich immer schön unterordnen und zurückhalten einerseits und andererseits ehrgeizige Anstrengungen im Sport, für die Datsche und den Warenerwerb – dies alles deutete auf »anale Symptome«.

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Bis zu einer »genitalen Entwicklungsphase« war es in der DDR nie gekommen: Autonomie, Selbstbewußtsein, Verantwortlichkeit, Offenheit und Direktheit waren sehr seltene Eigenschaften, sie wurden nicht gefördert, statt dessen war die ganze DDR stets von einem Minder­wertig­keitsgefühl mit Anerkennungs­sucht geprägt. Die psychosoziale Potenz war ebenso eingeschränkt wie die orgastische. In der Erziehung dominierten Onanieverbot, »Aufklärung« (wenn überhaupt) statt zwanglosem Vorbild und Lustabwehr mit Körper­feindlichkeit (der Körper mußte beherrscht und abgehärtet werden); Jugendliche fanden weder Raum noch Verständnis für ihre partnerschaftlichen sexuellen Bedürfnisse. Homosexuelle waren sozial diskriminiert, sogenannte »Perversionen« tabuisiert.

Prostitution und Pornographie waren per Gesetz verboten, für D-Mark aber immer zu haben gewesen und dann auch kaum strafrechtlich verfolgt, aber eifrig zur Erpressung vom Staatssicherheitsdienst ausgenutzt worden. Promiskuität und Ehebruch waren nicht selten, die Scheidungsrate war eine der höchsten in der Welt, etwa jede dritte Ehe wurde geschieden. Sexuelle Anzüglichkeiten und einschlägige Witze waren überall anzutreffen, die Frauen blieben überwiegend Lustobjekte und waren oft mit deutlicher Angst besetzt. Die DDR war ein Land mit einer weit verbreiteten sexuellen Frustration, vor allem wenn man liebende Beziehungen und »orgastische Potenz« zur Beurteilung mit heranzog.

Wir waren ein fehlgeleitetes und kleingemachtes Volk. Es gab praktisch nur einen einzigen Bereich, in dem »Größe« erreicht wurde: den Sport. Mancher ließ sich von den Erfolgen blenden, besonders wenn sie in so schöner »Verpackung« wie bei der »Eisprinzessin« Katarina Witt über die Fernsehschirme in die Wohnzimmer serviert wurden. Und gerade der Eisstar zeigte nach der »Wende« mit der sichtbaren Irritation und dem trotzigen Festhalten an dem »Dank gegenüber Staat und Partei« die psychische Einengung und Indoktrination, der besonders die Leistungssportler ausgesetzt waren. Allein die Beflissenheit, mit der allerorts dem »Fürst« Danke gesagt werden mußte, machte die Entmündigung selbst der Prominenz peinlich deutlich.

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Die chronische Demütigung des Volkes mag auch eine Rolle gespielt haben, wenn man sich am Glanz des Spitzensports erfreute, doch manchen war auch der durchsichtige Mißbrauch des Sports für politische Propaganda zutiefst zuwider und die heroisierenden Kommentare unserer Reporter wurden nicht selten angewidert abgeschaltet. Aber es blieb eine Ambivalenz zwischen Stolz (»unsere« Sportler!) und Ekel. Vor allem, daß das innerlich doch häufig abgelehnte und verhaßte System äußerlich so auftrumpfen konnte, war für viele schwer zu ertragen. Die gnadenlose Ausbeutung der inneren Not der Leistungsträger, die schamlose Förderung ihrer Fehlentwicklung, die vielen, vielen fallengelassenen Mittelmäßigen, das kriminelle Doping — alles galt nur dem Erfolg, den Medaillen; drastischer konnte sich das menschen­verachtende System nicht entlarven, und doch galt der Sport vielen DDR-Bürgern als lobenswert.

Daß sich aber gerade darin die Abnormität des Systems deutlich ausdrückte, daß dieses kleine Land eine so große Sportnation sein wollte, war nur wenigen verdächtig. Der Sport war eine hervorragende Kompensations­möglichkeit für den inneren Mangel: militärische Disziplin, Leistungsdruck, Trainingszwang haben die für das natürliche Leben nicht zugelassene Energie ersatzweise verzehrt und die zur Sucht treibende Ersatzschiene von Erfolg, Ruhm und Privilegien dafür eröffnet. Und Millionen konnten sich daran ergötzen und ihre eigene narzißtische Kränkung etwas mildern.

Manchmal wirkte das Land wie im »Ödipuskomplex« befangen: Einerseits der Haß und der kleinliche Kampf gegen den »Vater« Staat, und andererseits wurde der »Mutter« Kirche gern unter den »Rock« gekrochen wurde – die ihn auch oft bereitwillig anhob und dann aufschrie, wenn ordentlich hingelangt wurde. Zwischen Kirchenobrigkeit und Basisgruppen (z. B. »Kirche von unten«. Homosexuelle, Punks) kam es zunehmend zu Spannungen und Konflikten. Der reglementierende und mahnende Schutz der Kirche war zu eng geworden. Für die ödipale Problematik sprach auch die überall anzutreffende unterschwellige Angst vor Frauen, die als Abwehr der unerfüllten Sehnsucht nach der Mutter interpretiert werden kann. Die sogenannte Gleich­berechtigung der Frau war höchstes Politikum und wurde stets als Errungenschaft gefeiert, erwies sich aber in der Realität als ein durchaus feindseliger Akt gegen die Frauen, denen unter dem Emanzipations­geschwätz doppelte bis dreifache Belastungen aufgebürdet waren.

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Am »Internationalen Frauentag«, der den »Muttertag« abgelöst hatte, wurden die Frauen regelrecht von den Männern mit Blumen und Pralinen verhöhnt, ein billiges Feigenblatt bei der sonst unverändert diskriminier­enden Einstellung gemäß den patriarchalischen Herrschaftsstrukturen. Allerdings haben auch manche Frauen mit einer sexuellen Verweigerungs­haltung als Druckmittel und kämpferische Frauen­bewegungen diese Verhält­nisse noch ihrerseits verschärft. So sind eben auch viele Frauen in der kulturellen Opferrolle stecken­geblieben und haben ihre selbstschädigende Rache in depressiver Verweigerung und Erschöpfung oder hysterischer Herrsch­sucht ausgeübt.

Die therapeutische Sprechstunde machte deutlich, daß das verdrängte und ungelöste Mutterproblem (mangel­hafte Annahme und Befriedigung) dominierenden Einfluß auf die Lebensart beider Geschlechter in der DDR hatte: Die Partnerschaften waren im allgemeinsten Sinne beziehungs­verneinend und beziehungs­feindlich. Wirkliche Gleichberechtigung in Autonomie, Selbstwert und Verantwortlichkeit waren extrem selten. Statt echter Beziehungen, getragen von wirklicher Nähe und Aufrichtigkeit, beherrschten Pseudobeziehungen die Alltagskultur. Es waren die »Beziehungen« der oralen und analen Stufe: Wofür kann der andere mir nützlich sein, was kann er mir bringen, wofür soll er mich entschädigen? So hat das Mangelsyndrom die Beziehungen deformiert.

Die »Kultur« der kleinen Korruptionen, der Schiebereien und gegenseitigen Abhängigkeiten hat das Leben geprägt. Es war die Verschwörung einer Notgemeinschaft, die zur kollektiven Abwehr des inneren und äußeren Elends sich gegenseitig half und stützte, was zwar auch Beziehungen stiftete, die aber emotional nicht gereift waren und sich nur gegen den äußeren Mangel richteten. Sie standen nicht für wirkliche Annäherung. Auch die oft gepriesenen privaten Gruppierungen und Freundeskreise verharrten in der Regel in Pseudobeziehungen. Meist war der verbindende Nenner ein gemeinsamer Außenfeind (das System), es dominierte die orale Versorgung (Alkohol, Nikotin, Essen) und das Reden über jemanden oder über etwas, statt von sich zu sprechen. Ein solcher Freundeskreis war in der Regel auch kein Hinderungsgrund, sich durch West-Flucht zu entziehen, was auf die erschreckende Beziehungslosigkeit hinweist.

Manche Westdeutsche schwärmten von der Herzlichkeit, mit der sie bei uns empfangen wurden. Dies spricht offensichtlich für noch schwierigere oder oberflächlichere Beziehungen im Westen und kann auch der Tatsache »geschuldet« werden, daß die Gastfreundschaft meist durch materielle Begehrlichkeit getragen wurde. Die Westler selbst konnten sich großartig fühlen, weil sie mit allem, was sie brachten, willkommen waren, sie konnten praktisch kaum Fehler bei Geschenken machen.

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Der chronische Mangel hatte uns ausgehöhlt. Standen sich Ost- und Westdeutsche ohne die D-Mark praktisch menschlich nackt gegenüber, erwiesen sich die »Wessis« häufig noch externaler orientiert – mit erheblicher Angst vor innerer und emotionaler Öffnung. Ich habe mehrfach davon erfahren, daß die Ost-West-Beziehungen in schwere Krisen gerieten, wenn der DDR-Bürger sich nicht mehr geil auf Westware zeigte, sondern echte Beziehungen wünschte, die aber nicht mehr mit DM-Stärke zu gestalten waren.

Der permanente Betrug hatte sich auch im gesellschaftlichen Leben überall breitgemacht: Schönfärberei, gefälschte Statistiken, Konflikt­verdrängung, Harmonisierung, Verleugnung alles Negativen, Tabuisierung wesentlicher menschlicher Themen gehörten unvermeidbar zur Lebensweise. Die öffentlichen Verlaut­barungen und Darstellungen im Fernsehen, im Rundfunk und in den Zeitungen waren so lächerlich phrasen­haft und nichtssagend, so offensichtlich verzerrt und verlogen, so plump und primitiv mit den klassischen Abwehrvorgängen von Verdrängung, Verleugnung, Projektion, Ungeschehenmachen und Verkehrung ins Gegenteil behaftet, daß das Land täglich von einem einzigen Lachkrampf oder Ekelanfall hätte erschüttert sein müssen. Aber nichts dergleichen geschah, man gewöhnte sich einfach an das Böse und Schlechte. Auch dies sei als ein Indiz für den weitverbreiteten Kompensations­vorgang erwähnt: Man nahm die dumme Dreistigkeit und die kümmerlichen Einseitigkeiten gereizt oder mehr noch gelangweilt hin. Dies funktionierte ebenso gut wie die innere Abwehr, und für die Unterdrückung der zwangsläufigen Empörung mußte ständig wertvolle Lebensenergie verschwendet werden.

Vergessen sollte auch nicht werden, worüber in der Öffentlichkeit gar nicht oder nicht ehrlich berichtet und diskutiert wurde: über Kriminalität, Kindesmißhandlung, sexuelle Nöte, Homosexualität, psychische Leiden, Gewalt im eigenen Land, in der Familie, in der Schule, über Scheidung und Tod, über Mißerfolge, Schäden, ökologische Probleme, politische Gegner, Macht­mißbrauch, Korruption, Verfall, Mangel, Konflikte, Trauer, Schmerz, Wut. Nicht mal Selbsthilfgruppen durfte es geben, weil bereits die Notwendigkeit für eigene Hilfe das perfekte Bild des Systems hätte beschmutzen können und die totale »Fürsorge« des Staates unterlaufen hätte. Selbst »Behinderte« sollten »Geschädigte« heißen, weil sie trotz des Schadens im »besten aller Systeme« nicht behindert sein konnten.

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Diese Verleugnung, gemeinsam mit der permanenten Projektion auf den »Klassenfeind« wird sich vermutlich verheerend auswirken, wenn das Verfemte mit voller Wucht und Klarheit in das Bewußtsein der Massen zurück­schlagen wird. Nicht nur, daß in der DDR alles Schlechte nie wirklich und voll wahr­genommen wurde, auch das persönliche Böse wurde mit dieser Haltung erfolgreich versteckt. Das Unterdrückte und Verdrängte, praktisch die Sünden von Jahrzehnten, die jetzt wieder an die Oberfläche kommen müssen, werden den gesellschaftlichen Veränderungprozeß noch lange Zeit erheblich belasten und den Wunsch nach neuer Verdrängung stark anwachsen lassen. Wie in der Therapie kann eben das unterdrückte Böse nur brockenweise verdaut werden, sonst drohen psychotische Verwirrung oder »Krieg«, d.h. Haßprojektionen auf Feindbilder und Jagd auf Sündenböcke.

 

Will man die Lebensweise als Kompensation verstehen, dann muß sie Gelegenheit lassen, gestaute Lebensenergie ersatzweise zu verbrauchen. Dies geschah in der DDR vor allem als Verweigerung oder als Anstrengung. Die Verweigerung muß als aktiver Vorgang verstanden werden: Gehemmtheit, Zurückhaltung, Passivität, Bequemlichkeit und Versorgungsmentalität verbrauchten Energie, um das Leben ständig zu zügeln, zu behindern und zu bremsen, und zugleich wurden wir damit etwas von der zurück­gehaltenen Aggressivität los. Anpassung als energieverbrauchende Kompensation und sozialer »passiver« Widerstand als indirekte Aggression!

Wir rächten uns wegen der ewigen Bevormundung: Wenn wir schon in unseren Freiheiten eingeschränkt wurden, dann konnten wir wenigstens durch trotzige Interessenlosigkeit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit dafür sorgen, daß die Entwicklung stoppte und nichts mehr richtig funktionierte. Es ist so, als wenn ein Kind mit erfrorenen Fingern zu seiner Mutter sagen würde: Das hast du nun davon, warum ziehst du mir keine Handschuhe an! Durch diese weitverbreitete Verweigerungs­haltung wurde das ganze System allmählich ausgemergelt. Man sagt auch, daß mindestens ein Drittel der Arbeitszeit auf diese Weise verschlampt oder auch zur Pflege privater Angelegenheiten benutzt wurde. Während der Arbeitszeit einkaufen zu gehen, war nicht nur wegen des äußeren Mangels häufig notwendig – sonst hätte man bestimmte Waren einfach nicht mehr bekommen –, sondern darin drückte sich auch genau die eben beschriebene aggressive Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des eigenen Staates aus.

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Daß Anstrengung Energie verbraucht, leuchtet ein. Das Besondere an den DDR-Verhältnissen war die sinnlose, wenig effektive und auch zwanghafte Verschwendung von Lebensenergie, die eben nicht für natürliche, produktive, kreative und emotionale Prozesse vorrangig verbraucht werden konnte, sondern die meiste Anstrengung ging in Putzen, Fummeln, in Bürokratie und Planung, in Statistik und unüberschaubare Berichte, ins Anstehen, Suchen, Beschaffen, in »Beziehungen« und »Nischen« pflegen und ins Ärgern: Was es alles wieder nicht gab, welchen idiotischen Einfall das System schon wieder hatte, welche Verlogenheit gerade wieder aufgetischt wurde, welche neue Kampagne und Einengung wieder ins Haus stand usw ... Die Hypothese, daß das System besonders plump und primitiv regierte und formulierte, um das Volk richtig zu ärgern und damit ablenkende Ventile zu schaffen, konnte durch die Analyse der Psychodynamik bei vielen Menschen immer wieder bestätigt werden. Die Heirat von Lüge und Macht war um so beständiger, je dümmer sie sich zeigte, und das löste so viel Empörung aus, die wieder in Schach gehalten werden mußte, daß zum gezielten Widerstand weder Kraft noch Mut blieben.

Die Lebensweise war sowohl Folge des Mangelsyndroms als auch wiederum Verursacher weiterer Deformierung. Daß Einengung, Bevormundung, kompromißloser Anpassungsdruck, Kontrolle, Zensur und Strafen die Lebensweise lahmten, Entwicklung und Entfaltung verhinderten, wird niemand bezweifeln. Daß viele Menschen dadurch infantilisiert, abhängig, spießig und borniert wurden, ist wohl auch kaum zu leugnen, wird aber nicht gern gehört werden. Daß solcherart seelisch deformierte Menschen wenig Interesse haben, das System zu ändern, sondern im Gegenteil alles daran setzen, die Strukturen zu erhalten, ist in der Psychotherapie kein Geheimnis, löst in der Öffentlichkeit aber vermutlich empörte Ablehnung und haßvolle Feindseligkeit aus. Denn mit dieser Erkenntnis wird jeder auf seine eigene Schuld geworfen und kann sich nicht mehr mit den »Verhältnissen« herausreden. Es gab einen weit verbreiteten Mythos in der DDR: Man könne doch nichts ändern, es habe alles keinen Zweck, man müsse eben mitmachen und das Beste daraus zu machen versuchen! Dies ist schlichtweg falsch und eine neurotische Rationalisierung.

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Ohne Märtyrer zu werden oder Held sein zu müssen, hatte jeder die Möglichkeit, für sich selbst Offenheit und Ehrlichkeit, Emotionalität und Beziehungsfähigkeit zu fördern und herzustellen und damit wesentliche Grundlagen zu schaffen, sich der allgemeinen Pathologie und Kompensation zu entziehen und zu verweigern. Daß dies aber so selten geschah, geht auf die frühen Erfahrungen in den Lebensgeschichten zurück, vor allem auf die ursprünglichen Beziehungserfahrungen mit den Eltern, die die spätere Lebensweise nicht nur möglich, sondern sogar nötig werden ließen. Die Menschen schaffen sich die einengende Lebensart immer wieder, die sie früh vorfanden und akzeptieren mußten.

Dieser »Wieder­holungs­zwang« birgt bei aller Tragik den großen Vorteil, daß man von besseren und freieren Verhältnissen verschont bleibt und damit nicht an die defizitären und frustrierenden Erfahrungen in der Kindheit erinnert werden kann. Damals mußte man sich in einem langen schmerzlichen Ringen schließlich damit abfinden, ungeliebt und unfrei leben zu müssen, in der Verdrängung und Anpassung fand man schließlich die Gnade der Erleichterung, um den Preis, daß man unbedingt weiterhin ungeliebt und unfrei leben mußte, andernfalls wären alle alten Wunden wieder aufgebrochen und das mühevoll Verdrängte hätte nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden können. So erzogene Menschen brauchen einen Staat, in dem sie abhängig, unmündig, unfrei, verlogen mit Ersatzwerten (Konsum, Leistung, Erfolg) und Pseudo­beziehungen leben können: Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient!

Ich traue keiner »Wende«, solange nicht glaubhafte Zeugnisse des Versagens, der personalen Verantwortung und persönlichen Schuld zur Alltagskultur zählen. Ohne diese »Trauerarbeit« werden unweigerlich alte psych­ische Strukturen ins neue Gewand gekleidet, die die Restauration der Verhältnisse erzwingen. Man bedenke nur, mit welcher Leichtigkeit, trotz der abgrundtiefen Schuld des deutschen Volkes, die faschistische Lebensweise in die sozialistische übergegangen war: der Führerkult, die Massenaufmärsche, die religions­artigen Rituale und Fetische, der Fremdenhaß und die Feindbild­mechanismen (die DDR hatte sich u.a. gerade Israel zum verhaßten Feind gemacht, ist dieser Zynismus noch zu übertreffen?), der psychische Terror durch Bespitzelung, Ängstigung und Überwachung, das dummdreiste Spießertum und die Arroganz der Macht, die Verherrlichung von Stärke, Beherrschung, Disziplin und Ordnung, das verlogene Frauenbild, die falsche Mutterverehrung, die sexuelle Prüderie, die repressive Erziehung, die Gehirnwäsche — alles Charakteristika, die sowohl für die »faschistische« wie auch für die »stalinistische« Gesellschaftsstruktur typisch waren.

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Die faschistische Lebensweise ist praktisch ohne Bruch übernommen und fortgeführt worden. Wenn Gregor Gysi sich ereiferte, man dürfe die Verhältnisse des »real existierenden Sozialismus« keinesfalls mit den faschistischen vergleichen, weil man damit den Faschismus verharmlosen würde, dann verkennt er das Böse, das nicht nur Millionen stalinistischer Opfer zählte, sondern ganze Völker psychisch deformierte und Folgen verursachte, deren Ausmaß noch gar nicht abzusehen ist. Die »Entnazifizierung« war eine der großen, gefährlichen Illusionen dieses Jahrhunderts, die Wende darf das nicht wiederholen: »Denn fruchtbar ist er noch — der Schoß, aus dem dies kroch!«

 

Die Charakterdeformierungen

 

Die Lebensweise formt den Menschen und »geformte« Menschen bestimmen die Lebensweise. Repressive Gesellschafts­strukturen verformen die Lebensweise und erzwingen Verhaltensweisen, die schließlich im menschlichen Charakter ihren deformierenden Niederschlag finden. So ist die Charakterbildung stets eine Anpassungs­leistung und zugleich das Zerrbild der abnormen Verhältnisse.

Der Psychotherapeut versteht unter »Charakterverformung« eine gestörte Organisation der ganzen Persön­lich­keit, was sich vor allem mehr in typischen Verhaltensweisen ausdrückt als in umschriebenen Symptomen. Das deformierte Verhalten provoziert entweder ständige Schwierigkeiten in der Beziehung zur gesunden Umgebung oder bleibt »unauffällig«, wenn sich darin Anpassung an abnorme Umweltverhältnisse ausdrückt. Deshalb können solche Störungen auch als »symptomlose Neurose« bezeichnet werden, und es wundert nicht, daß viele Menschen das Gestörte daran nicht mehr erkennen können oder wollen. Erst in der Krise, bei äußeren oder inneren Veränderungen, kann die Verformung gespürt werden, wenn Anpassung an neue Umstände gefordert ist, die aber der eingeengte Charakter nicht ohne weiteres vollziehen kann.

Bei gesellschaftlichen Veränderungen führt das zu umfassenden Verunsicherungen und Labilisierungen vieler Menschen oder zur alsbaldigen Restaurierung der alten Verhältnisse im neuen Gewand. Die unbewußte Absicht solcher Charakterverfestigungen liegt darin, den Menschen davor zu schützen, an seinen inneren Notstand erinnert zu werden (bestimmte Menschen, Situationen und Verhaltensweisen werden gemieden), aber auch darin, die gestaute Energie der unerlaubten Verhaltensweisen und Gefühle ersatzweise zu verbrauchen (z.B. Leistungsverhalten, Putzsucht).

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Der Charakter zwingt also zu bestimmtem Verhalten, auch wenn dies unnötig, überflüssig oder sogar schädlich sein sollte. Der Mensch handelt zwanghaft, getrieben von seiner inneren Spannung, immer in den Bahnen, die ihm gestattet oder abverlangt wurden. Der Mensch lebt dann wie auf Schienen gesetzt und kann nicht mehr nach links oder rechts ausweichen, er kann nicht mehr variieren und modifizieren, und so bekommt sein Verhalten eine gefährliche und selbst­zerstörerische Wucht.

Die häufigsten Charakterverformungen in der DDR als Folge der repressiven Erziehung und als Kompensationsversuche für den erlebten Mangel sind der gehemmte und der zwanghafte Charakter. In beiden Varianten war die »Charakterfestigkeit« die Garantie dafür, spontanes Leben zu verhindern. Nicht umsonst wurde auf »Charakterstärke« in der »sozialistischen Erziehung« höchsten Wert gelegt. Die eigentlich gesunde »charakterlose« Struktur der Persönlichkeit, die flexibel auf das Leben reagiert, sich in einem dynamischen Bezug zur Welt und Umwelt befindet, authentische Antworten gibt und in der Lage ist, zwischen Anpassen und Durchsetzen, zwischen Ja und Nein, zwischen Angriff und Rückzug, frei und verantwortlich zu unterscheiden und auch danach zu handeln, eine solche »fließende« Persönlichkeit war verpönt.

Als Gorbatschow seinen berühmten Satz sprach »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!«, sprach er dies in den charakterlichen Starrsinn hinein, der längst den Kontakt zum Leben verloren hatte. Auch viele andere Menschen konnten bei uns nicht mehr im Strom des Lebens fließen und auf Anforderungen angemessen reagieren, sondern sie blieben berechenbar festgelegt, wurden zu Marionetten und Bausteinen in einem rigiden Gesellschaftssystem, das durch Macht und Angst jede freie Entwicklung erstickte und das quirlende Leben in Eintönigkeit, Farblosigkeit und öder Langeweile erstarren ließ.

 

Der gehemmte Charakter 

 

Dies war der Soldat der Repressionsmaschinerie, der Befehlsempfänger und Untertan, der unmündige Bürger, der die Abhängigkeit brauchte und zur Autoritätshörigkeit bis -gläubigkeit verurteilt war. Er war unfähig geworden, eine eigene Meinung zu vertreten, ja zumeist hatte er gar kein eigenständiges Votum mehr, sondern hörte und lernte schnell, welche Meinung gefragt war, und die machte er schließlich auch zur eigenen; er wäre beleidigt und verwirrt gewesen, hätte man ihn des Plagiats bezichtigt.

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Der Mut, sich eigenständig zu behaupten oder sich abzugrenzen, war ihm nachhaltig ausgetrieben und verdorben worden. Es mangelte ihm an Selbstbestimmung und an Selbstwert, er wurde von Minder­wertigkeits­gefühlen, Ängsten, Hemmungen und Unsicherheiten geplagt. Seine Einstellung zum Leben war: Vorsicht! Ich könnte etwas falsch machen! Mir könnte etwas zustoßen! Ich muß auf der Hut sein! Es ist alles zwecklos! Ich kann nichts machen! Ich bin zu schwach, um etwas zu ändern! Ich bin ein Versager und Verlierer!

Die Lebensgeschichten waren von Passivität, Rückzug, Resignation und Unterwerfung geprägt. In der Depressivität, Bequemlich­keit, Hilflosigkeit, im passiven Widerstand, im Leiden, Jammern und Klagen wurde unbewußt Rache geübt an den lebensverneinenden Erfahrungen, die gemacht und verinnerlicht werden mußten. Sollten die Eltern, der Partner, die Kinder, die Vorgesetzten und Kollegen, der Staat und der Westen doch sehen, wie sie mit mir zurechtkommen und wie sie mich »beatmen« und »ernähren«! Gerade die Versorgungshaltung wies auf die infantile Fixation, auf die orale Entwicklungsphase hin, die für die DDR-Mentalität von großer Bedeutung war.

Im Kontakt mit solchen Menschen erstarb in der Regel der »Energieaustausch«, das Gespräch stockte, wurde zähflüssig und belastend, wie von einer schwermütigen Dunstglocke wurde das Leben erdrückt, als Beziehungspartner fühlte man sich bald ausgelaugt und erschöpft. Emotionale Zufuhr fiel wie in ein »Faß ohne Boden«, sie bewirkte keine »Ansteckung« oder prallte ab wie an einer Mauer von Apathie, Zweifel und Mißtrauen. Vor allem Mißtrauen (Das Leben ist gefährlich, keiner liebt mich wirklich und versteht mich!) und Zweifel (Es hat doch alles keinen Zweck, ich schaffe es nie!) dominierten das Denken und Handeln, ausgedrückt in Grübeleien, im Zögern und in mangelnder Fähigkeit zur Entscheidung (Was ich auch mache, es ist falsch!).

Es waren die Menschen mit dem »gebrochenen Rückgrat«, die in ihren Bedürfnissen ungestillt geblieben und deren Protest dagegen nachhaltig und tiefgreifend durch die repressive Erziehung lahmgelegt worden war. Ihre Lebendigkeit war im Druck der Gebote und Verbote, der Forderungen und Beschämungen erstorben. Der nie erfahrene und nicht bestätigte Selbst- und Eigenwert machte sie abhängig von Außenbestätigung und damit zu willig Verführbaren jedweder Autorität.

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Die massiv gestaute Lebensenergie und reaktive Aggressivität schufen die Voraus­setzung für Selbst­zerstörung (Depression, Suizid) und die Gefahr, zum Werkzeug böser Absichten zu werden. Sie eigneten sich gut zum Handlanger des repressiven Systems: Die Spitzel und Denunzianten der Staatssicherheit waren wohl häufig dieser Charakter­verformung zuzurechnen. Die fehlende innere Sicherheit, die Unfähigkeit, nein zu sagen, der Wunsch nach straffer Führung und äußerer Bestätigung und die perfide Schmutzigkeit der Spitzeldienste als Ventil zur Aggressionsabfuhr schufen die Voraussetzungen, um in entsprechender Weise ausgenutzt zu werden.

Im gehemmten Charakter hatte das autoritäre System den geeigneten Untertan geschaffen, der das System erhielt und zugleich jede Entwicklung bremste, der als willfähriges Opfer zum »Dienen« bereit war und zugleich mit der bequemen Versorgungs­mentalität als Täter am System schmarotzte. Die Charakter Verformung selbst diente dem einzelnen zur Kompensation des nicht zugelassenen Lebens, in dem die Energie nach innen, zur Hemmung und Behinderung, praktisch als Bremse verbraucht wurde.

Auf die Dauer werden die Untertanen das System, von dem sie unterworfen wurden, aufzehren, ihrer oralen Fixierung und der Illusion der Entschädigung folgend. Und sie sind infolge ihrer trägen, abhängigen Masse stets ein mächtiges Potential für die Etablierung neuer autoritärer Strukturen. Sie können nur als Untertanen leben, sonst müßten sie ihre charakterliche Einengung mit der belastenden Lebensgeschichte wieder erfahren und erleiden. Das ist für die meisten wesentlich ängstigender und schlimmer als am blutigsten Tyrannen zu leiden.

 

Der zwanghafte Charakter:

 

Die autoritäre Erziehung deutscher Prägung zeigte in der DDR unter der über alles geliebten Norm: Disziplin, Ordnung und Sicherheit eine massenhafte und intensive Ausprägung. Die Erziehungsideale von Sauberkeit, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Fleiß und Tüchtigkeit, der Hang zur Perfektion gestalteten das individuelle, familiäre und gesellschaftliche Leben. Hier wurde die anale Fixierung deutlich, die in der frühen ehrgeizigen Sauberkeitserziehung ihre Wurzeln hat.

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Die Freude am Hergeben, Loslassen, Strömenlassen wurde häufig gründlich verdorben durch die Tortur regelmäßigen »Töpfens«, auch wenn gar kein »Bedürfnis« vorhanden war.

Die anal-sadistische Reaktion lebte sich dann in der Bürokratie mit unvorstellbarer Formular-, Melde- und Statistiklust oder -qual, sowie in der Kontroll- und Schnüffelsucht des allgegenwärtigen Sicherheits­apparates aus. Obwohl in weiten Bereichen, vor allem bei der Staatssicherheit die Menschen­rechte permanent gebeugt wurden, mußte für den Apparat stets ein ganz korrekter Ablauf innerhalb der eigenen Gesetzlichkeit gewährleistet bleiben. Recht und Ordnung blieben oberstes Gebot, innerhalb eines allerdings durchaus abnormen Rechtsbewußtseins und Rechtsverständnisses.

Für einen erweiterten Blickwinkel wäre freilich ein Schritt nach außen notwendig gewesen, den aber wagt ein zwanghafter Mensch nicht, sondern er lebt freiwillig in dem ihm auferlegten Ghetto. Aus solch einem eingeengten Denken und einer solchen beschnittenen Erfahrung heraus wird verständlich, weshalb sich derartige Menschen immer wieder auf einen Befehlsstand oder auf Pflichterfüllung berufen und in einem Zirkel von Rechtfertigungen gefangen bleiben, wenn man sie später zur Rechenschaft zieht. Ihr Erfahrungs­horizont ist einfach eng und starr.

Der zwanghafte Charakter kann nicht losgelöst von der Leistungshaltung gesehen werden, die er zur Kompensation seiner Einengung häufig entwickelt. Darin liegt die illusionäre Hoffnung, wenn man schon nicht geliebt und freigelassen, sondern einem Unterwerfungsakt ausgesetzt war, wenigstens bei angemessener Leistung Anerkennung zu bekommen. Die Qual der Beherrschung, Kontrolle und Disziplin wurde im Leistungssport auf die Spitze getrieben. Kein anderes Land auf der Welt konnte da noch mithalten. Gerade der zum höchsten Triumph hochstilisierte Spitzensport war das Spiegelbild der zwanghaften Gesellschafts­deformierung.

Durch Leistung »Liebe« verdienen zu wollen, war die überwiegende Art von »Liebe«, die wir in der DDR kannten. Dies war auch eine der Triebkräfte, die das in allen Fugen knirschende und nur mit Gewalt zusammengefügte System in Gang halten konnte. Der zwanghaft Arbeitssüchtige und der Karrierebesessene haben ihre Störung auch ohne unmittelbare Belohnung – der Lohn des Systems, einige Prämien, Orden und bescheidene Privilegien waren lächerlich angesichts des Verlustes an Lebendigkeit und an Lebensfreude – dem Staat zur Verfügung gestellt.

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Sie waren die Rädchen des Systems: die Aktivisten, die Meister und Bestarbeiter, die Leiter, die Apparatschiks, die Funktionäre und die lokale Prominenz in Kultur, Kunst, und Wissenschaft.

Die Zwänge und die aktive Zurückhaltung verbrauchten viel Lebensenergie und ermöglichten so die notwendige Kompensation für den einzelnen. Dem System stellten sie ihre gestaute und nur abgelenkte Energie zur Verfügung und hielten es damit am Überleben. Sie reproduzierten die Einengung immer wieder aufs neue, so vor allem das Leistungsprinzip, und sie huldigten der Verheißung von Wohlstand, Fortschritt und Wachstum. Es waren die Technokraten, die kühlen Rechner und kopflastigen Rationalisten, die Ingenieure des Lebens mit ihrer Wissenschaftsgläubigkeit.

Der Verlust an Leben, an Gefühl, an hinströmender Lust sollte durch wissenschaftlich-technische Triumphe, durch Beherrschung der Natur und äußere Erfolge wettgemacht werden. Die innere Ohnmacht, die erfahrene Verletzung des Selbstwertgefühles, die gestörte Autonomie infolge des repressiven Anpassungszwanges, letztlich die Unterwerfung unter die Autorität und die Übernahme der strengen Forderung in das innere Leitbild gestalteten den zwanghaften Charakter, den die totalitäre Herrschaft einerseits erzeugte und der ihre Ideologie andererseits übernahm, weitertrug und damit das System perpetuierte.

Der gehemmte und der zwanghafte Charakter traten in der DDR massenweise in Erscheinung und häufig auch in der Mischform gehemmt-zwanghaft. Natürlich gab es auch andere charakterliche Ausprägungen. Doch war z.B. der hysterische Charakter relativ selten, noch am ehesten im Kunst- und Kulturbetrieb angesiedelt. In der Durchschnitts­bevölkerung dürfte, wenn das Hysterische auftrat, die depressiv-hysterische Mischform am wahrscheinlichsten gewesen sein.

Die DDR-Gesellschaft hatte weder Humor noch den Freiraum für das hysterische Leben, und derart strukturierte Menschen mußten stets damit rechnen, gemaßregelt zu werden. Sie wurden gedämpft und gestutzt, und wenn alles nichts half, wurden sie abgeschoben und ausgewiesen. Die depressive Beiordnung wurde fast systematisch erzwungen. Das übertriebene, laute, freche, bunte und exaltierte des hysterischen Charakters war bereits eine Bedrohung für die graue Tristesse und zwanghafte Einengung in diesem Lande.

Im gehemmten und zwanghaften Menschen erkenne ich die beiden Varianten des autoritären Charakters – seine mehr passive und mehr aktive Ausgestaltung.

Der gehemmte Untertan führt die Befehle widerwillig aus, die der zwanghafte Despot sich mühsam abringt. Daß Gehorchen und Befehlen von manchem auch als »lustvoll« erlebt werden kann, spricht für die seelische Einengung, die zur natürlichen Lusterfahrung nicht mehr in der Lage ist. Das autoritäre Zusammenspiel in den beiden Varianten haben wir in Familien, in Partnerschaften, aber vor allem in den hierarchisch geführten Institutionen, im bürokratischen Apparat und als grundlegende Beziehung zwischen Staat/Partei und Volk erkennen können. So waren auch die Charakter­verformungen für bestimmte soziale Rollen in der Gesellschaft die beste Referenz.

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