Vorwort
Ossi: Wir sind ein Volk!
Wessi: Wir auch!
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Ein Jahr Deutsche Einheit. Ich lebe in Freiheit. Sehnlichste Wünsche – jedenfalls solche, die ich dafür hielt – haben sich erfüllt: Ich reise frei herum, ich sage unzensiert meine Meinung, ich finde Zugang zu allen Informationen, die ich brauche, ich darf Menschen treffen und sprechen, wie ich will, ich verdiene mehr Geld, ich renoviere ein altes Haus, um endlich (48jährig!) aus einer 30-qm-Neubauwohnung zu entkommen, und ich habe einen wunderbaren neuen Gebrauchtwagen aus dem Westen. Endlich ein richtiges Auto! Jetzt merke ich erst mal, was ich mir mit Trabi und Wartburg angetan habe. Doch halt, meinen alten Wartburg habe ich noch nicht verschrottet, obwohl der den nächsten TÜV nicht mehr überstehen wird, weil er zu viel Rost angesetzt hat.
An ihm klebt auch noch, ziemlich einsam, das alte DDR-Schild, das ich, als es einem müden Abkratzversuch nicht weichen wollte, einfach beließ. Inzwischen mache ich mir ernsthaft Gedanken, was das wohl bedeuten könnte, weil ich mich damit immer mehr allein sehe, fast alle haben inzwischen ihre »Nationalität« gewechselt. Eine Weile war ich noch motiviert durchzuhalten, nämlich als ich gehört hatte, daß es sogar Strafzettel dafür geben könnte – ich weiß nicht, ob es ein Gerücht ist oder Tatsache –, jedenfalls der Gedanke daran, ließ es mich nun trotzig spazierenfahren, in der Hoffnung, bei dieser Groteske Mitspieler sein zu können.
Obwohl ich also mit dem Heck meines alten Freundes still meine Trauer klagte, fand ich dennoch keinen Richter. Die bundesdeutschen »Volkspolizisten« sind halt nicht mehr so empfindlich. Und überhaupt – die Freundlichkeit jetzt überall auf den Behörden, trotz der unvorstellbaren Bürokratie, wie einfach und klar war da doch das alte Leben. Aber Nostalgie hilft nicht – dafür ist es auch zu ernst!
Übrigens mein japanisches Auto – ein französisches hätte ich auch genommen, aber ein deutsches? – hat natürlich ein D am Hintern. Was für ein deutsches Auto hätte ich auch nehmen können? Den Golf fuhren schon die Neureichen der DDR, bei Opel assoziiere ich Manta, Mercedes und BMW sind die Prestigekutschen, die man fahren muß, wenn man's nötig hat. Also, das richtige Auto benutze ich auch auf meinen »Geschäftsreisen« in den »alten Bundesländern« und die »Rostlaube« nehme ich für meine Privatfahrten in den »neuen Bundesländern«. Neues Auto — alte Länder, altes Auto — neue Länder. Dies ist ein Abbild meiner verwirrten Identität, aber durchaus treffend!
Der Identitätsbruch ist auch der Grund, weshalb keine rechte Freude aufkommen will. So viel gewonnen und doch nicht zufrieden? Ich lebe in zwei Welten und bin in keiner wirklich zu Hause. Daheim bin ich nur bei mir, doch da ist etwas passiert: Ich bin aufgescheucht, irritiert, gereizt und irgendwie tief beunruhigt, häufig auch einfach überfordert. Das Letztere habe ich mir selbst eingebrockt mit dem »Gefühlsstau«, den ich mir vor einem Jahr von der Seele schrieb. Aber das hat nicht lange geholfen, inzwischen beginne ich tiefer zu begreifen, was mir geschieht und wie ich mich dagegen zu wehren versuche.
Ich stecke mitten in einem Verlust-Syndrom, das ich nicht annehmen wollte, solange ich es als DDR-Verlust-Syndrom diagnostizierte. Da hatte ich meinen Stolz: Das konnte doch nicht wahr sein, daß der Untergang dieses verachteten Systems, wenn ich es auch längst als ambivalent besetztes, gehaßt-geliebtes Objekt angenommen hatte, mich so zu irritieren vermochte. Erst die persönlichere Perspektive, der ich bei meiner Arbeit als Psychotherapeut nicht entgehen konnte, konfrontierte mich mit den Begriffen »Trennung« und »Orientierungsverlust«. Da liegen sehr viele Affekte drin, die ich erst allmählich zulassen und integrieren kann, und längst bin ich damit noch nicht fertig.
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Ein Kritiker, der mich offensichtlich besonders verletzen wollte (er wird schon seine Gründe dafür haben!), hat nichtsahnend mir dabei ein wenig geholfen, als er schrieb:
»Tatsächlich sind alle Vorwürfe, die Maaz dem Staat macht, in dem er aufgewachsen ist, bei Licht besehen damit begründet, daß er ihn fälschlicherweise zum Mutterersatz gemacht hatte. Nun kann man, wenn man will, gewiß im einstigen SED-Staat einige mütterlich-fürsorgliche Züge entdecken; daß man seine Abhängigkeit von diesem Staat aber nach dessen Sturz mystifiziert, indem man ihn zur bösen Stiefmutter erklärt, die einem sogar das Fühlen verboten habe, zeugt von einem Defizit, an dem dieser Staat sicher unschuldig ist.«
Wie recht hat dieser feindselige Mann, schönen Dank! Nur mit »fälschlicherweise« komme ich nicht ganz klar — so war es wirklich! Oder meinte die Kritik, ich hätte es nicht tun dürfen?
Mir war schon längere Zeit bewußt, daß das, was wir Therapeuten vornehm bagatellisierend unsere »Restneurose« nennen, bei mir zur »Vollneurose« aktiviert war. Mit der »Wende« war mein mühsam erworbenes DDR-Gleichgewicht so sehr labilisiert, daß ich praktisch einen akuten Rückfall in alte, überwunden geglaubte Störungen und Behinderungen erlebte. Mein eigenes innerseelisches Abbild der Spaltung Deutschlands wird mir erst jetzt allmählich zugänglich. Ich muß mich erneut mit inneren Abspaltungen auseinandersetzen und um Integration bemühen. Mein bisheriger Therapieerfolg galt für DDR-Bedingungen, nicht für das ganze Deutschland. (Und was habe ich noch zu gewinnen, um mich als »Weltbürger« erleben zu können?)
Was ich längst wußte, hatte ich für mich nicht gelten lassen wollen, wie sehr die äußeren Grenzen auch die inneren Grenzen bestimmen. Wie absurd also Vorstellungen von Gesundheit in nur organmedizinischem oder von Freiheit in bloß nationalem, demokratischem und kulturell-abendländischem Denken sind.
Was sich in der Therapie von Patienten immer wieder vorsichtig andeutete, wurde mir erst in einer Ausbildungsgruppe von Ärzten und Psychologen, die ich seit Jahren leite, richtig bewußt.
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Unsere Vertrautheit miteinander und der uns gewohnte körpertherapeutische Zugang halfen, lebensgeschichtlich sehr frühes seelisches »Material« zu aktivieren. Wir waren als Selbsterfahrungsgruppe zusammengekommen und stellten sehr bald fest, daß eine tiefe Lethargie alle Arbeit lähmte und wie eine Dunstglocke atmosphärisch die Gruppe belastete. Es waren Ratlosigkeit und eine bedrohliche Verzweiflung spürbar. Nach und nach eröffneten sich in der regressiven Arbeit existenzielle Ängste von Einsamkeit, Verlassenheit und Verlorensein. Es kamen erschütternde Erinnerungen und Erfahrungen von frühen Trennungen, Heimaufenthalten, Tod der Mutter, ein nichterwünschtes Kind, niemals wirklich angenommen und bestätigt worden zu sein, in unser Bewußtsein.
Die lebensbedrohliche Qualität dieser Gefühlszustände und ihre massive Präsenz waren mir in diesem Umfang neu und erklärten die massiven Widerstände in der Gruppe. Mit der Annahme dieser emotionalen Erinnerungen brachen sich auch die aktuellen Erschütterungen der persönlichen und beruflichen Existenzen schmerzhaft und zornig ihren Weg. Alle waren zutiefst verunsichert durch die neuen Verhältnisse, die durch die »Wende« und die deutsche Vereinigung verursacht sind. Da waren ganz offensichtlich auch sehr frühe Bedrohungen wieder wund gerissen worden, die mühevoll abzuwehren die belastende Apathie in der Gruppe bewirkt hatte. Jetzt begriff ich auch die tiefe Traurigkeit, die in den wenigen stillen Stunden, die ich mir seit der »Wende« ließ, immer wieder in mir hochkroch, die ich aber noch nicht wirklich zulassen mochte oder jedenfalls nur sehr gebremst.
Uns wurde verständlich, daß wir zu DDR-Zeiten diese tiefen Erfahrungen von Verlorensein therapeutisch weder bei uns noch bei unseren Patienten wirklich durchgearbeitet hatten, weil damit unser Leben in dem Käfig vermutlich unerträglich geworden wäre. Die Kluft zwischen befreitem Lebenswillen, nicht mehr zu hemmen durch die verdrängte Drohung der Ablehnung und Trennung, und der realen Lebensmöglichkeit in der Enge der DDR wäre zur schweren Krise herangewachsen.
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Davor hatten wir uns zu schützen gewußt. Das gehörte zu unserer DDR-Identität. Und ich war vor einer notwendigen existentiellen Erschütterung, die ich schon längst in mir trug, in eine hypomanische Vielgeschäftigkeit geflohen. Von der bösen Stiefmutter in die Arme der verführerischen Hexe!
Ich hatte mich mit einer persönlichen Meinung in die Öffentlichkeit gewagt und geriet – mehr als mir recht war oder genauer gesagt, mehr als gesund für mich war – in die Schlagzeilen. Das Ungesunde für mich, für einen »gelernten DDR-Bürger«, waren die vielfältigsten Angebote, Aufforderungen und Nachfragen der Medien und die sehr verlockenden Einladungen zu Vorträgen, Seminaren und Diskussionen, denen ich mich nicht zu entziehen vermochte. Aus einem Leben der düsteren Enge und Eintönigkeit, des verordneten Schweigens stürzte ich mich in die Weite und Vielfalt und in das Rauschen der Stimmen. Ich kann mich inzwischen wie einen bunten Falter vor einer Lichtquelle sehen, zwar unermüdlich, emsig und geschäftig, doch das erhoffte Ziel nie erreichend. Ich fühle mich manchmal wie in Trance, d.h. ich funktioniere und erfülle meine vereinbarten Aufgaben, doch ich bin nicht immer wirklich da, dort wo ich bin. Die Seele läßt sich nicht so schnell von einem Ort zum anderen transportieren.
Manche Termine waren nur noch mit Hilfe von Flugzeugen einzuhalten: Frühstück zu Hause, mittags in Köln, abends in Hamburg und am nächsten Morgen schon wieder in Berlin. Die Orte waren dadurch entseelt, funktional austauschbar, und nicht immer wußte ich sofort, wo ich mich befand, wenn ich aus dem Schlaf erwachte. Es war eine Wirklichkeit, die ich nicht wirklich fassen konnte. Ich hatte mich zugemacht, meine Seele schützend, und funktionierte einfach. Noch nie war mir die wachsende Kluft zwischen der äußeren Ordnung und dem inneren Chaos spürbarer, doch ich fand noch keine Brücke zwischen den beiden Zuständen.
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Wenn ich gefragt wurde, ob ich lieber in einem Hotel oder privat bei dem jeweiligen Gastgeber nächtigen wollte, zog ich in der Regel das Hotel vor, um einen halbwegs sicheren Ort des Rückzugs zu haben, denn für Smalltalk stand mir nach einem anstrengenden Tag nicht mehr der Sinn, und in einer persönlicheren Beziehung hätten mich meine Gefühle eingeholt.
Als ich an einer Psychotherapietagung teilnahm und dort einen Vortrag zur deutsch-deutschen Situation nach der Vereinigung hielt, waren in mir offenbar eine Menge Gefühle aktiviert, aber nicht wirklich zugelassen. Zum geselligen Abend gab es dann ein Angebot zum gemeinsamen Tanz nach einem Trommelrhythmus im romantischen Schloßhof des Veranstaltungsortes. Eine verlockende Kulisse. Ich wollte mich nicht heraushalten, ich kenne meine befreiende Lust an ausgelassener Geselligkeit — doch ich empfand auch Widerwillen, den ich aber unterdrückte, als ich mir sagen lassen mußte, daß wir im Osten doch wohl nicht derart interessante und exotische Tagungserlebnisse kennen würden. Sollte ich jetzt etwas davon sagen, wieviel Workshops ich mitgemacht hatte — die meisten zugegebenermaßen illegal, aber dadurch immerhin so satt von der aufgesetzten Selbsterfahrungsmasche bin, wie sie sehr häufig im Westen verkauft wird.
Auch das gehört eben zum westlichen Lebensstil, daß sich psychische Zustände und Erfahrungen zu Übungen und Spielen vermarkten lassen. Und viele Leute sind offenbar bereit, dafür viel Geld auszugeben. Ich habe dies auch als Ablenkung und Abreaktion kennengelernt und häufig als bloß interessante Übungen, die ansonsten weder in das eigene noch in das gesellschaftliche Leben integriert wurden. Von dieser Vermarktung der menschlichen Unzufriedenheit hatte ich mich gerade emanzipiert, da wird sie mir erneut feilgeboten. Ich wurde starr und steifer und war froh, daß es genug Westler mit dem Bedürfnis zur Selbstdarstellung gab, so daß ich mich unauffällig herausnehmen konnte, jetzt fand ich Gelegenheit und Kontakt, mir meine Traurigkeit, meine Einsamkeit und Verlorenheit bewußt zu machen, die ich in meinem Vortrag provoziert, aber nicht zu fühlen gewagt hatte.
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Der DDR-Verlust hat mich stärker aus der Bahn geworfen als ich je gedacht hätte. Doch es geht auch nicht um die DDR dabei, sondern um einen inneren Prozeß, dem ich nicht mehr ausweichen kann, der durch die »Wende« unvermeidbar geworden ist.
Ich war in ein neues Leben gestoßen, das ich zunächst mehr geschehen ließ, als daß ich es wirklich gestaltet hätte. Ich genoß das Neue, Abenteuerliche: die Verlockungen eines bunten, abwechslungsreichen und spannenden Lebens – eines nach außen expandierenden Lebens –, das auch meinem Geltungsbedürfnis Pfauenfedern aufsteckte. Meine DDR-Rolle war zwar auch nicht unbedeutend, doch mußte ich häufig genug mit ansehen, wie ganz einfach Dummköpfe und Gesinnungslumpen das große Sagen hatten, meinem Leben bornierte Grenzen setzten und meinem Verhalten tatsächlich kleinkarierte und alberne Züge verleihen konnten, für die ich mich heute einfach schäme.
Ich brauche nur einen Aufsatz aus meiner Schulzeit herauszunehmen, an die verlogenen Diskussionen mit den Funktionären des Systems zu denken, dazu die Beteuerungen erinnern, mit denen ich meine Loyalität dem System gegenüber faselte, wollte ich eine bestimmte Ausbildung, einen Beruf, eine Leitungsfunktion bekommen. Von den kleinbürgerlichen Normen ganz zu schweigen, die mich immer brav und tüchtig sehen wollten.
Mit dem »Gefühlsstau« hatte ich zum ersten Mal meine Meinung fast ohne Rücksicht auf das, was ich darf und muß, herausgelassen, und ich empfinde die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wird, schon aus diesem Zusammenhang als berechtigt. Die eben gemachte Einschränkung des »fast ohne Rücksicht« zielt auf meinen Lektor, der mich davon zu überzeugen wußte, daß manche Formulierungen einfach zu affektgeladen waren, praktisch einem Pamphlet glichen, und wenn ich gelesen werden wolle, solle ich doch lieber manches erträglicher formulieren. Das war die erste Anpassung an das neue System — nicht mehr Zensur, sondern Verkaufszahlen geben jetzt den Ton an.
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Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Ich werde tatsächlich viel gelesen, es ist ein Bestseller, und damit habe ich auch alle Folgen der Vermarktung provoziert. Ich ringe seitdem mühsam zwischen Marktwert und Seins-Wert.
Obwohl ich die Vergangenheitsbewältigung und Trauerarbeit mit dem Zusammenbruch der DDR so entschieden eingeklagt hatte, tat ich dies selbst nur halbherzig und sehe mich auf einer Flucht nach vorn, von einem Orientierungs-Verlust-Syndrom befallen, das ich in der hektisch-aufgescheuchten Form austrage. Ich bereite mir Streß und bringe mich unter Termindruck.
Aber nicht der Termindruck war das eigentliche Problem, auch nicht die Aufdringlichkeit mancher Journalisten, die den Markt mit Nachrichten bedienen wollen und auch nicht jene Rezensenten, die herummäkeln, um sich selber zur Geltung zu bringen oder sonst einen Affekt an mir abreagieren wollen — nein, vielmehr bin ich mit sehr freundlichen, liebenswerten, interessanten und interessierten Menschen in Kontakt gekommen, ohne daß aber eine Chance blieb (ich nahm sie mir jedenfalls nicht!), die Beziehung wirklich zu vertiefen. Es ist noch nicht so lange her, da hätte ich mir alle zehn Finger fein säuberlich abgeschleckt, um nur zu einem der vielen wertvollen Menschen Kontakt zu halten, die ich jetzt kennenlernen durfte. Im Käfig DDR war im verordneten Kontaktmangel (mitunter sogar Kontaktverbot) jeder Besuch, jedes Gespräch mit einem Fremden (Nicht-DDR-Bürger) wie ein Geschenk und hat eine belebende Brise von Weltoffenheit in den Mief des verrammelten Stalls gebracht.
Doch mit diesem »amerikanischen« Stil zu reisen und »Auftritte« zu absolvieren, war's leider noch nicht genug. Bei diesem Lebensstil mußte ich ganz zwangsläufig meine sehr persönlichen Dinge vernachlässigen: die Partnerschaft, die Kinder, die Freundschaften, die Arbeit und das Engagement für die Patienten und die Mitarbeiter und vor allem auch die Sorge um mein eigenes Wohlbefinden. Ich aß und trank mehr als mir gut tat, ließ die eigene therapeutische Arbeit schleifen, achtete wenig auf meine Gefühle und überließ meine Bewegung den Verkehrsmitteln.
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In Hotels, deren Preiskategorie ich mir privat nicht leisten möchte, schlief ich mitunter nur ganz wenige Stunden und wenn ich tatsächlich mal ausschlafen konnte, wurde ich zumeist Opfer der ungewöhnlich reichhaltigen Frühstücksbuffets. Da diese Fülle kostenlos für mich zur Verfügung stand, schlug praktisch der ungestillte Mangel durch, und ich überfraß mich regelmäßig. Ich konnte schlecht verzichten und auswählen, ich wollte mich nicht bescheiden und möglichst von allem probieren. Am liebsten steckte ich mir noch heimlich etwas von den portionierten Leckereien ein — das Hamstern, das ich bereits als kleines Kind kennengelernt und in der DDR nie verloren hatte, brach sich wieder Bahn. Ich war voll in das betriebsame Leben des Westens eingetaucht, doch bekömmlich war es für mich nicht: Ich nahm an Gewicht zu, der Blutdruck stieg, und das Herz signalisierte mir, wie sehr ich aus meinem Rhythmus geraten war.
Hatte ich eine Entschuldigung dafür? Natürlich! Das wesentliche Motiv für den »Gefühlsstau« war, neben dem Bedürfnis zur Mitteilung nach dem langen aufgenötigten Schweigen oder der Phrasendrescherei, meine Enttäuschung über den Verlauf der »Wende« auszudrücken. Wir waren für kurze Zeit das »freieste Volk der Welt«, und als diese einmalige Aufbruchstimmung in der Realität des politisch-ökonomischen Alltags zerrann, wollte ich wenigstens meinen Beitrag zu unserer »Rettung« abgegeben haben. Es war auch der verzweifelt-zornige Aufschrei gegen das Verleugnen und Vertuschen und der ohnmächtige Entwurf einer Utopie gegen die Kraft realpolitischer Zwänge und gegen die Lawine irrationalen Ausagierens der Millionen, in deren Reihen ich mich schließlich selber wiederfand.
Das ist natürlich eine gute Erklärung, doch stimmt sie auch nur halb: Der »Gefühlsstau« hat mir eine Aufmerksamkeit geschenkt, die mich einige Zeit hoffen ließ, nun doch noch die Bestätigung und Zuwendung zu erfahren, die ich ehemals so gebraucht hatte.
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Die manipulativen Möglichkeiten des Westens hatten zugeschlagen und mich in Besitz genommen, ich bin diesen Verlockungen erlegen. Die alten Wunden bluteten wieder und wollten geleckt sein. Das versteht der Westen hervorragend — Schlecker-Lecker! Meine Neurose war zu DDR-Zeiten gut kompensiert, jetzt bin ich dekompensiert und werde »belohnt« dafür. Ich hatte mir hinter der Mauer eine innere Freiheit mühevoll und schmerzvoll erarbeitet, die ist jetzt zunächst mit der äußeren Freiheit hinweggespült. Ich bin expandiert und habe mich dann mitreißen und schließlich verführen lassen. Ich befinde mich manchmal wie in einem Rausch, der von den Drogen Medienrummel, Abwechslung, Zerstreuung, unterhalten wird. Ich bin in der Freiheit und habe meine Mitte verloren – zugegebenermaßen einen DDR-Verschnitt medialer Zentriertheit –, und ich lasse mich eher treiben und benutzen, als daß ich mich selbst bestimmen würde.
Der aktivierte innere Mangel und die äußeren verlockend-aufdringlichen Versuchungen geben das gefährliche Gemisch für eine Lebensweise, an der ich mehr leide als an den schlimmen Verhältnissen in der DDR, und ich vermag jetzt noch nicht zu sagen, wo und wie ich mich wiederfinden werde. Ich habe eben erst angefangen, mich durch den Verlust der DDR zu ganz frühen Verletzungen führen zu lassen und suche erneut nach den Möglichkeiten, die mich wirklich freier machen, und das sind meine Gefühle, meine Beziehungen und Authentizität.
Mit den Mechanismen, mit denen ich bevorzugt meine Defizite an primärer Annahme und Bestätigung zu kompensieren versuche, durch orale Befriedigung, durch Geltungsstreben und Arbeit, durch Vergnügungen und Zerstreuung, hatte ich in der eingemauerten DDR, die auch allen diesen Kompensationen »natürliche« Grenzen setzte, meinen Frieden gemacht. In den unbegrenzten Möglichkeiten des Westens wird mir dies erneut zum Problem. Die alte Ost-Identität stimmt nicht mehr, die neue Stabilität habe ich noch nicht gefunden, der westliche Einfluß hat jedenfalls viel Bedrohliches für mich, so daß mir noch eine Menge seelischer Arbeit bevorsteht.
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Ein Kollege in der Ausbildungsgruppe sagte so: Ich habe noch keine Antikörper gegen den Westen ausgebildet. Meine bisherige Anpassung ergibt keinen Sinn mehr, darin liegt eine große Chance für weitere Entwicklungen, und zugleich werde ich intensiv in Versuchung geführt, darin liegt die Gefahr bloß umzusteigen in eine neue Anpassung.
Meiner gewohnten Wachheit und Suchhaltung aus der DDR, immer bereit, die Öde und das Graue mit etwas Abenteuer und Farbe aufzufrischen, dem Mangel eine kleine Trophäe abzuluchsen und der Überwachung kein unbedachtes Wort zu liefern, muß ich jetzt mühsam Scheuklappen aufsetzen, um die ständig-aufdringliche Anmache des Westens abzumildern. Jetzt muß ich mich abschotten und habe doch mein bisheriges Leben lang, um weitere Öffnung gerungen. Ich wollte immer hinausströmen und durfte nicht, jetzt werde ich zur Expansion verführt und verliere mich dabei. Aus der ewigen Kontraktion droht eine ewige Expansion zu werden, für das gesunde Wechselspiel gibt es weder hier noch dort gute Voraussetzungen.
Meine Identität ist angefragt. Wer bin ich jetzt noch? Ein Deutscher, ja! Aber was ist das, wenn es an der Oberfläche doch so deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt? Ich spüre auch die ständigen Schwierigkeiten, die passende Bezeichnung für meine staatliche Identität zu finden. Laufend verspreche ich mich noch und sage »DDR« oder »hüben und drüben«. Der schreckliche Begriff: »Die neuen Bundesländer« will mir nicht so recht über die Lippen gehen, und als »Bundesbürger« fühle ich mich nicht. Ich bin ein »Ostdeutscher«, das paßt noch am ehesten. Und dann höre ich immer wieder die Frage, was ist denn nun das Besondere an uns oder auch das Bewahrenswerte an der DDR?
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Der »Gefühlsstau« hatte mir ja auch den bitteren Vorwurf der »Nestbeschmutzung« eingebracht. Dieser Vorwurf traf mich mehr als andere. Bei den meisten Kritiken waren die starken Affekte der Rezensenten auffällig, also ein sicheres Zeichen für die eigene Betroffenheit, und dabei wurde auch schnell deutlich, daß der Kritiker, tendenziös wahrnehmend und verzerrt wiedergebend, mehr von sich selbst mitteilte als über mein Buch. Aber daß ich mit meinen Analysen Anteil daran habe sollte, die DDR zum interessanten Objekt zu machen, sozusagen als Splitter im Auge des anderen, um von den westlichen Problemen abzulenken, das hat mich belastet.
In diesem Zusammenhang wird auch behauptet, nur deshalb sei mein Buch im Westen so interessiert aufgenommen worden, denn über ganz ähnliche Probleme könne man auch dort berichten, dies sei auch schon reichlich geschehen, doch es interessiere nicht mehr sonderlich und würde einfach abgetan. So nahm ich sehr gern das Angebot des Psychoanalytikers Michael Lucas Möller aus Frankfurt/Main an, mit ihm Zwiegespräche über die deutsch-deutsche Thematik zu führen. Es war mir eine bittere Genugtuung, aus dem Munde eines kompetenten Westkollegen über die bundesdeutschen Lebensverhältnisse Erfahrungen vermittelt zu bekommen, die den unsrigen an grundlegenden psychosozialen Problemen und Fehlentwicklungen durchaus vergleichbar sind. Aber auch dies reichte nicht aus, um meine Betroffenheit über die Kritik der »Nestbeschmutzung« zu beruhigen. Das mußte tiefer sitzen.
Bei meinen Bemühungen, mich darin besser zu verstehen, rieb ich mich immer wieder an dem »Besonderen und Bewahrenswerten« der ehemaligen DDR. Alle Antworten, die ich dazu hörte, die ich selber versuchte oder die mir auch entgegengeschleudert wurden als Reaktion auf den »Gefühlsstau«, wie sehr wir Ostdeutschen doch auch menschlich, warmherzig, solidarisch, erfahren in geschickter Anpassung und im Widerstand, mutig und mit unserer »Gewaltlosigkeit« moralisch souverän wären, empfand ich als affektbesetzt-trotzig und konnten mich nicht befriedigen.
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Die positiven Seiten an uns DDR-Menschen zu sehen und zu fördern, gehört so selbstverständlich zu meiner Einstellung und meiner täglichen Arbeit, daß ich mich schon amüsieren konnte, besonders wenn von westdeutscher Seite auf unsere Vorzüge verwiesen wurde. Manche Antworten empfand ich auch ziemlich hilflos wie zum Beispiel: unsere Alleen, die nicht verbauten Landschaften, der grüne Abbiegepfeil ... – und anderes auch ausgesprochen fragwürdig: unsere Gemütlichkeit und Herzlichkeit, den Gemeinschaftssinn, die Not, die erfinderisch macht und Beziehungen stiftet, die Kinderkrippen und die Berufstätigkeit der Frau, der Paragraph 218, die Polikliniken, die größere soziale Gerechtigkeit, das Recht auf Arbeit und Wohnung – weil hinter all diesen möglichen Angaben, nicht nur positive Bewertungen, sondern auch zwiespältige und ungeklärte Probleme, auch Einseitigkeiten, Lügen und beschönigende Illusionen sich verbargen.
Die häufiger zu hörende Beteuerung, daß wir doch »so viel einzubringen hätten«, zielte zumeist auf Äußerlichkeiten und wurde dementsprechend auch lässig von westlicher Seite abgeschmettert. Da begriff ich allmählich den Denkfehler und seine möglichen Hintergründe. Im Vergleich der Äußerlichkeiten hatten wir längst den Kürzeren gezogen, praktisch unsere Niederlage herbeigewählt und alles DDR-Eigene auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Ich sah uns jetzt wie die armseligen Gestalten, die in der Müllkippe noch nach brauchbaren Resten stöberten.
In einem Zustand seelischer Not wollten wir das große Los ziehen und uns retten lassen, aber als wir spürten, daß wir uns wie gewohnt nur angepaßt und überlassen hatten und nun verramscht wurden, wollten wir die längst verblaßten Werte wieder aufpolieren.
Unsere Identität war in Wirklichkeit angefragt, wir aber hatten ein schlechtes Gewissen wegen unserer schuldigen Mittäterschaft und den vielen faulen Kompromissen mit dem »real existierenden Sozialismus«. Wir hatten unsere Würde verkauft, zu der ich alle Fähigkeiten und Erfahrungen, auch die Schuld und Niederlagen zähle.
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Mir war plötzlich klar, wie auch immer, ich habe in diesem Land gelebt und da sind doch meine Liebschaften und meine Feinde, da hat mein Haß seine Ziele und meine Lust kennt den Schoß, da gibt es Orte des Triumphes und Räume erbärmlichen Versagens. Hier sind die Menschen, die ich enttäuscht habe, und auch die vielen, für die ich sehr wichtig bin. Hier blieben meine Sehnsüchte unerhört und Wünsche haben sich erfüllt. Dies ist mein ganzes Leben! Jetzt wird einfach ein neues Bewertungssystem darübergelegt, und dies will alles messen und beurteilen. Wie anmaßend, wie lächerlich, und doch die bittere Realität. Ich empöre mich, und ich weigere mich, dies zu akzeptieren. Kein neuer Bürokrat kann an meiner Würde kratzen.
Wie sehr hatte mich doch das Aufrechnen äußerer Werte verwirrt: Im Beharren auf unseren Erfolgen und Werten war ich das »trotzige Kind«, und im Zugeständnis, daß doch vieles im Westen besser sei, war ich das »bedürftige Kind«. Es geht aber vor allem um mein Innenleben, in dem durch die »Wende« und die Vereinigung Themen und Inhalte aufgewühlt wurden, die bisher im Schlamm des seelischen Urgrundes wohlweislich abgelagert waren, um in der DDR überhaupt zurechtkommen zu können.
Ich hatte mit meiner frühen Lebensgeschichte mit den Verhältnissen in der DDR einen Ausgleich gefunden, das autoritär-repressive Staatssystem war sozusagen die »Gnade« der Kultur, das meinen frühen Verletzungen den Halt und die Kontrolle schenkte, um für die tiefsten inneren Schmerzen eine äußere glaubwürdige Erklärung zu finden. Das Einhämmern von Normen des »richtigen Bewußtseins«, die mit »ewig«, »unverbrüchlich«, »unbezweifelbar-siegreich«, »objektiv-wissenschaftlich« verbunden waren, hat eine Enge im Geist, in der Seele und im Körper hinterlassen, die wohl kaum durch größere Autos, weitere Reisen und den Komfort des westlichen Lebens zu heilen ist.
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Ich muß »mein« Bewußtsein finden, die brüchigen, kurzlebigen, zweifelhaften und subjektiven Umstände und Orientierungen des Lebens hinnehmen und aushalten lernen. Jetzt schützen mich weder die Ersatzmütter, Partei und Kirche, jetzt will es die große spendende Mutter, die DM versuchen. Unser Spiel ist aus: Sich mit dem Vater Staat zu identifizieren und der Partei als Mutters dressierte Lieblinge zu dienen oder gegen den strengen »Vater« zu opponieren, verbündet mit der »Mutter« Kirche, die sich der Opposition als Ersatzobjekte ihrer Zuneigung bediente, um nicht ihre eigene »Frigidität« zu erleiden. Das neue Spiel winkt: Die DM als neue Mutter will ihre »armen Kinder« nun auch zu ihren abhängigen Süchtigen machen. Will ich mitspielen oder endlich zu mir kommen?
Meinen Zustand kann ich jetzt so zusammenfassen:
Das alte Gleichgewicht gilt nicht mehr, der Wandel der Werte wühlt den seelischen Schlamm auf, in der bloßen Anpassung an die neuen Anforderungen finde ich keinen Frieden. Ich bin in Gefahr, die innere Beunruhigung durch Ablenkung nach außen bewältigen zu wollen. Noch gibt es eine Menge dort zu entdecken, doch allmählich spüre ich auch die verbesserte Chance, den inneren Weg weiterzugehen, nachdem ich »über die Mauer« habe schauen können und mich nicht mehr mit Illusionen beschwichtigen und trösten kann. So lange die Mauer bestand, konnte ich das bessere Leben jenseits phantasieren, jetzt, wird es klarer: Es ist in mir – oder gar nicht zu finden!
Ich fürchte, daß die zunehmende soziale Krise uns nicht nur berechtigte Sorgen, sondern auch Vorwände bescheren wird, daß wir nicht zu uns kommen können. Vielleicht soll der unglückliche Sieg des mächtigeren Wirtschaftssystems uns gerade vor der bitteren Erkenntnis unserer »Mutterproblematik« bewahren – entweder als neue Reiche oder alte Arme – in beiden Fällen wären wir gut versorgt, entweder im Sichern und Versichern unseres Wohlstandes oder im Beklagen unseres Elends.
Ich schreibe dieses Buch, um der Tragik eine Stimme zu verleihen, wenn in einem großen historischen Moment mit einer nie für möglich gehaltenen Befreiung, einem großen Erlebnis von Genugtuung und Gerechtigkeit und einem abenteuerlichen Prozeß der Vereinigung erneut viele Menschen mit Bitterkeit und Enttäuschung reagieren, ja sogar neue seelische Beschädigung davontragen.
Ich versuche die Gründe aufzuspüren, weshalb die deutsche Einheit viele Menschen nicht glücklicher macht, ihre Erwartungen enttäuscht und an ihren Wünschen vorbeigeht.
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