3 Die psychologische Mauer
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Die deutsche Vereinigung führt uns wieder auf unserer gemeinsame Vergangenheit zurück: auf das Dritte Reich. Der deutsche Nationalsozialismus war die bisher schwerste abnorme Gesellschaftsentwicklung in Deutschland und nur denkbar, weil sie von Millionen Menschen aktiv mitgestaltet und geduldet wurde. Wie soll diese vielfache Begeisterung, Zustimmung und Bereitschaft zum bösen Tun beurteilt werden?
Ich kann diese »durchschnittliche Normalität« nur als schwerwiegende, kollektive psycho-soziale Fehlentwicklung begreifen, die getragen wird von ganz ernsten, individuellen seelischen Einengungen und Verbiegungen, wobei vor allem emotionale Blockierung eine wichtige Rolle spielt. Nur wer nicht mehr fühlen kann, ist auch zu unvorstellbar brutalem Handeln fähig.
Nur Menschen, die sich gefühlsmäßig abgepanzert haben, weil sie im tiefsten Inneren ebenso unvorstellbare emotionale Verletzungen tragen, ziehen begeistert in den Krieg oder sind zu kühlem, sachlich-organisiertem Massenmord fähig. Die Idee des Tötens und die Bereitschaft dazu drückt etwas von der eigenen inneren Abtötung aus. Für mich ist das alles nur in psychopathologischen Zuständen und schwer gestörten psychodynamischen Vorgängen zu begreifen, wobei die »Normalität zur Krankheit wird, ohne daß dadurch der Mensch aus seiner Verantwortlichkeit entlassen wäre.«
Manche Kollegen wollen den Krankheitsbegriff allein auf eine individuelle Symptomatik und eine persönlichen Leidenszustand beschränken, und sie leugnen die Inszenierung der intrapsychischen Konflikte auf politischer oder gesellschaftlicher Ebene. Dies halte ich für einen verhängnisvollen Mißbrauch der psychotherapeutischen Erkenntnisse.
Nicht das Ausgrenzen der an unerträglichen äußeren Zuständen Leidenden und das »Patientenmachen«, sondern das Aufdecken derjenigen Verhältnisse und Umstände, die unmenschliches oder zerstörerisches (Umwelt!) Verhalten ermöglichen oder erzwingen, halte ich für eine wesentliche Verpflichtung unserer Disziplin. Wir wissen aus unserer Arbeit, wie viele politische, militärische, ökonomische und religiöse Gründe und Erklärungen der Mensch bereit hält, um seelischer Abnormität ein Kostüm von scheinbar plausiblen Sachzwängen und »heiligen« Idealen zu verpassen.
In der Beurteilung unserer jüngsten Vergangenheit sind Verleugnungen bereits wieder weit verbreitet. Dazu zähle ich auch die Heroisierung der 89er-»Revolution«. So schreibt der Leipziger Psychotherapeut Geier (»Psychosozial« 14. Jg. 1991, Heft 1, Nr.45):
»Was macht das für einen Sinn, ein Volk für krank zu erklären, daß sich gerade selbst befreit hat?« Und dem »größeren Teil des Volkes« werden »ungezählte, größere und kleinere Befreiungstaten« bescheinigt. Dies müsse »laut gesagt werden, damit der sado-masochistische Zirkel, in dem einige Psychotherapeuten unseres Landes genauso lustvoll die Peitsche gegen sich wie andere schwingen, aufgebrochen wird.«
Was 1945 mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands, soll heute mit der »Wende« verborgen bleiben: die massenhafte Abnormität. Ganz schnell wird zur Tagesordnung der Realpolitik mit allen notwendigen Zwängen übergegangen. Mit Optimismus der neuen Zukunft entgegen, und alles, was bitterste und unerträglichste Realität noch gestern war, soll damit quasi aufgehoben sein.
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Wer dies glaubt und hofft, weiß nichts von der Zähigkeit und Gefährlichkeit der seelischen Inhalte, die Menschen aus ganz frühen Erfahrungen in sich tragen, aus einer Zeit, wo Trennung, Ablehnung und Nicht-Verstanden-Sein lebensbedrohliche Bedeutung hatten. Nur die Unfähigkeit zur Einfühlung läßt viele Erwachsene nicht begreifen und wahrhaben, was es für ein Kind bedeutet, nicht erwünscht zu sein, allein gelassen oder abgewiesen zu werden.
So bieten die Spaltung Deutschlands wie seine Vereinigung ein fragwürdige »Gnade« der möglichen Verdrängung. Mit der Spaltung Deutschlands trugen die mühsam verbündeten Siegermächte ihre unbewältigten Gegensätze und ihre zurückgehaltene Feindseligkeit über ihre jeweiligen deutschen Mündel aus. Der »kalte Krieg« begann und nötigte die Deutschen zum »eisernen Vorhang«. Auf diese Weise wurde das Böse in den Menschen nicht enttarnt, sondern konnte symbolisch, projektiv und abgespalten, bekämpft werden.
Die jämmerlich verkrüppelten und blutenden Seelen der Massenmörder, die charakterlichen und psychosozialen Wurzeln dieser unvorstellbaren Perversion konnten sich so erneut verbergen. Daran hatten offensichtlich auch die Siegermächte ihr Interesse, denn »Faschismus« ist nicht auf die Deutschen begrenzt, dies ist überhaupt nicht allein das Problem einer Nation oder gar nur einer Partei. Faschismus ist eine individuelle und kollektive Lebensart, zur der es immer wieder kommen wird, so lange autoritär-repressive Verhältnisse eine Kultur bestimmen.
Die Spaltung Deutschlands und damit eines größeren Teils der Welt in zwei feindliche Lager ermöglichte es, daß das individuelle Böse und Abnorme nicht mehr wahrgenommen zu werden brauchte, dafür mußten einerseits die bösen Kapitalisten, Imperialisten und Revanchisten herhalten und andererseits die gefährlichen Kommunisten und Bolschewisten. Diese verordneten politischen Feindbilder fanden sehr bald auch ihre persönlich-psychologischen Entsprechungen, was sich durch die unterschiedliche östliche und westliche Sozialisation schnell herstellen ließ. Beide Systeme behielten im wesentlichen die autoritären Verhältnisse bei.
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Anpassung durch Unterwerfung
Der »real existierende Sozialismus« vollzog die Anpassung an das System durch direkte und nackte Unterwerfung. Dabei waren im wesentlichen drei Prinzipien wirksam:
1.) Das Prinzip Strafe: Jeder in der DDR wußte, daß er real bestraft werden konnte, wenn er den schmalen Grat der vorgegebenen Linie verließ. Er stürzte unweigerlich in Ungnade, wurde beschimpft, bedroht und ausgegrenzt (du bis nicht im rechten Bewußtsein, du dienst dem Klassenfeind, du gehörst nicht zu uns). Da dieses System erneut auf »ewig« angelegt war, und in der Tat keiner eine wirkliche Veränderung für möglich hielt, war bereits das geringste Abweichen vom Willen der Mächtigen eine lebensbestimmende existentielle Bedrohung.
Nur wer sich das wirklich vor Augen hält, kann das erschreckende Ausmaß der Unterwerfung verstehen, die schließlich immer mehr »freiwillig« vollzogen wurde, als daß sie noch durch tatsächliche Strafen durchgesetzt werden mußte. Die Angst und Einschüchterung hatte sich tief in die Seelen der Menschen eingefressen. Unverhältnismäßig hohe und harte Strafen (mehrjährige Haft bei einem politisch gefärbten Witz, lebenslänglich bei staatsfeindlicher Hetze oder geheimdienstlicher Kontaktaufnahme mit dem »Klassenfeind«, wobei die Beurteilung solcher »Straftatbestände« auch der Willkür unterlag, und Ermordung bei »Republikflucht«) hatten das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen unter Kontrolle gebracht, so daß die bestehende Strafandrohung weitestgehend ausreichte, um über das Volk zu herrschen.
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2.) Das Prinzip Trennung: Die regelmäßige gewalttätige Trennung von Mutter und Kind, bereits bei der Geburt, die nach klinischem Regime unter der medizinischen Autorität von Arzt, Hebamme und Apparaten durchgeführt wurde und die Bedürfnisse von Mutter und Kind mißachtete oder nicht verstand, fortgeführt durch immer wiederkehrende Trennungserlebnisse im Wochenbett, Kinderkrippe, Kindergarten und auch durch die psychologische Trennung, die sich durch Nicht-Annehmen, Nicht-Verstehen, Nicht-Einfühlen ergibt, hat so umfassende schwere seelische Verletzungen und Ängstigungen verursacht, die nur durch Verdrängungen und Abspaltungen überlebt werden konnten, so daß strenge autoritäre Verhältnisse als »Gnade« der Kultur erlebt werden müssen.
Um den unerträglichen, lebensbedrohlichen seelischen Schmerz des Verlassenseins, der Einsamkeit und Nicht-Annahme überhaupt zu überleben, ist eine totale Abpanzerung vom seelischen Innenleben die einzige Rettung. Damit ist die entscheidende Grundlage für Selbstvertrauen, Selbstbewußtsein und Eigenständigkeit, die nur aus der Wahrnehmung psychophysischer Entspannung und Befriedigung wachsen kann, genommen und der Mensch zur Abhängigkeit von äußerer Führung und Bestätigung genötigt. So wird Untertanengeist geschaffen.
Nur dies erklärt mir die Leichtigkeit, mit der die SED Mitglieder bekam, und daß die Stasi keinen Mangel an Mitarbeitern kannte. Beide Institutionen arbeiteten folgerichtig mit der Formel der persönlichen Ansprache: Du bist uns wichtig! Wir brauchen dich! Wir fördern dich! Wir schützen dich! Du dienst einer großen Sache!
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Wenn sich selbst entfremdete, schließlich verpanzerte und verunsicherte Menschen derart angesprochen werden, sind sie zu jeder Schandtat bereit. Je größer die innere Verletzung, der innere Mangel, desto größer wird die notwendige Abschottung vor dem Fühlen und Erleben, desto größer wird andererseits auch die Bereitschaft und »Fähigkeit« zum Morden, Foltern, Verfolgen, zur Gewalt, zu starren Dogmen und unlebendigen Phrasen, zu militärischen Strukturen.
3.) Das Prinzip Lob: Wer schließlich den Willen der Mächtigen am besten erfüllte, wurde auch gelobt. Daß Loben ein Prinzip der Gewalt, der Unterwerfung und Manipulation ist, dürfte heute noch die meisten »Erzieher« empört aufschreien lassen, weil sie, wenn sie schon nicht mehr prügeln dürfen oder wollen, als fortschrittlich-aufgeklärte Eltern und Lehrer gar nichts anderes sonst noch kennen. Das Prinzip Lob steckt im anerkennenden Wort, der guten Zensur, der Prämie, der Urkunde, dem Orden und schließlich auch der Karriere und den Privilegien. Durch Lob wird die Unterwerfung vollendet. Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Bestätigung für das unverstellte Dasein und den unverfälschten Ausdruck individuellen Lebens und dem Lob für die Anpassung an die Erwartungen der Mächtigen und die Unterwerfung unter ihren Willen und ihre Vorstellungen vom »richtigen« Leben zu verstehen. Der Wechsel vom Tadel zum Lob, wie er in einer »aufgeklärten« Erziehung üblich ist, ist nur ein eleganteres und wirksameres Prinzip der gleichen dunklen und verwerflichen Motivation, die früher den Prügelstock tanzen ließ.
Die Anpassung durch Unterwerfung mittels Strafe, Trennung und Lob, förderte depressiv-gehemmte und zwanghaft-eingeengte Strukturen. Wir finden in den Menschen dadurch viele latente Ängste, Unsicherheiten, Gehemmtheit und Minderwertigkeitsgefühle, Ohnmacht und Hilflosigkeit, eine Neigung zur Abhängigkeit, Gereiztheit und Gespanntheit. Einen Zustand, der sich in der allgemeinen Tendenz als introvertiert-kontrahiert beschreiben läßt.
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Anpassung durch Manipulation
Schauen wir uns die Verhältnisse in der »real existierenden Marktwirtschaft« an. Auch da sind autoritäre Strukturen bestimmend, doch die Anpassung wird indirekter, kaschierter vollzogen, im wesentlichen durch Manipulation. Natürlich gibt es ähnlich wie bei uns auch Unterwerfung mit Strafe, Trennung und Lob. Doch im gesellschaftlichen Kontext erkenne ich drei andere Prinzipien als weitverbreitet und systemimmanent:
1.) Das Prinzip Leistung: Anstrengung, Fleiß, Tüchtigkeit, Konkurrieren, den anderen übertreffen, etwas Einmaliges tun, stark, clever und souverän sein, sich von anderen abgrenzen, rivalisieren — das alles gehört zu den höchsten Tugenden der westlichen Lebensart, und das bedeutet zugleich, daß man Ängste, Schwächen, Unsicherheiten und Inkompetenz sorgsam verbergen muß. Man muß sich dagegen aufmotzen, etwas hermachen, laut und grell sein, um auf dem Markt eine Chance zu bekommen. Und der Markt ist überall, er bestimmt das Leben.
2.) Das Prinzip Honorierung: Wer viel leistet, der soll auch gut honoriert werden. Der wichtigste Leistungsfetisch ist Geld. Geld regiert die Welt. Geld regelt alle Beziehungen, nicht nur den Warenstrom, sondern vor allem den Umgang der Menschen miteinander. Geld ist Macht. Geld gibt Sicherheit, Geld beruhigt. Jeder und alles hat seinen Preis — das ist die Ideologie des Westens! Was man aber nicht kaufen kann, sind Natürlichkeit und Natur, wirkliche Liebe und ehrliche Beziehung und Gesundheit im ganzheitlichen Sinne. Deshalb haben diese Dinge auch keinen besonderen Wert.
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3.) Das Prinzip Zerstreuung: Wer viel leistet, wird auch gut honoriert, damit er sich vielfältig zerstreuen kann — das ist die komplette Ideologie und der Mechanismus, der das westliche Ersatzleben auf Trab hält. Das Angebot an Waren, Vergnügungen, Ablenkungen, an immer neuen Moden und Trends ist so umfassend und perfekt, daß dieser süchtige Zirkel grandios funktioniert und zugleich die Risiken und globalen Gefahren ins Unsteuerbare treibt.
Je größer die innere Entfremdung, um so umfassender muß die Ablenkung nach außen geschehen. Dadurch werden narzißtisch-Ich-bezogene und hysterische Strukturen und Entwicklungen gefördert, mit übermäßig betonter Individualität, verstärkter Selbstdarstellung, mit gnadenlosem Dominanz- und Geltungsstreben. Insgesamt also eine Tendenz zum extrovertiert-expansiven Leben.
So stehen sich in den deutschen Teilnationen zwei polar entgegengesetzte Sozialisationen gegenüber, die mit der Vereinigung aufeinander prallen. Es ist endgültig vorbei mit der für beide Seiten so angenehmen und entlastenden Geschenk-Post-Besuchsbeziehung, in der die beiden einseitigen Entwicklungen ihre sinnvolle Ergänzung fanden: großzügige Geber- und dankbare Empfängerhaltung, das im Reiseboom abgewehrte Heimweh mit dem durch die Mauerenge provozierten Fernweh. Die Pose von Erfolg, Stolz und Souveränität mit der chronifizierten Haltung verbitterter Nörgelei und Klage sowie der kindlich-staunenden Bewunderung und Anbetung der westlichen Fetische.
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Narzißtische Größenideen und schwerbeschädigte Selbstwertgefühle haben sich gegenseitig bedient und verstärkt. So war die Ost-West-Welt in Ordnung und beide Seiten haben mit Blick auf den jeweils feindlichen Partner treffend und zuverlässig die im jeweiligen Gesellschaftssystem nützlichen und systemerhaltenden Verhaltensweisen pflegen können.
Aber jetzt kommen wir nicht mehr auf Besuch, sondern müssen zusammen arbeiten und leben — die bisher stabilisierende Rollenverteilung wird zum störenden und bitteren Ernst. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion ist den Deutschen die wichtigste kollusive Beziehungsgrundlage genommen: Wir wollen jetzt nicht mehr die abgelegten Kleider, und mit Kaffee, Schokolade und Seife sind wir jetzt in gleicher Weise versorgt. Selbst mit dem Gebrauchtwagen sind wir schon bald nicht mehr zufrieden — die Zeit der freundlichen und beglückenden Almosen ist nun endgültig vorbei. Und als wir als Kleinempfänger ausgedient hatten, wurde die rührige Hilfsbereitschaft der Westdeutschen sofort weitergelenkt. Es war schon beeindruckend, mit welchem Aufwand und Engagement man glaubte, die tiefe Not des russischen Volkes lindern zu können.
Es ist sehr schwer, in diesem Zusammenhang die richtigen Worte zu finden: Einerseits weiß ich, wie wohltuend ein Geschenkpaket sein kann — für den Moment — und doch nicht wirklich weiterhilft, aber Abhängigkeiten verstärkt und Illusionen nährt. Beide Seiten — Spender und Empfänger — können sich für kurze Zeit gut fühlen und schützen sich somit vor der Wahrnehmung eines grundsätzlicheren Problems. Dies steht uns jetzt bevor. Wenn wir jetzt mit unserer gewohnten Haltung den »ganzen Kuchen« wollen, so muß unser Mitspieler um die Sicherheit seines hart erarbeiteten Wohlstandes fürchten. Die bisherige Kollusion wird auf die Spitze getrieben:
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Wir fordern unverschämt und lösen damit eine gekränkte Furcht aus. Doch da schlägt die westliche Dominanz dem östlichen Unterwerfungs-Michel den Löffel aus der Hand. Der clevere und betuchte Erfolgsverpflichtete läßt den abwartend-zögerlichen Anpassungsgewohnten nur noch die Schlußlichter sehen. So verstärken sich wechselseitig die selbstgerechte Vormundschaft mit der Unterwerfungsbereitschaft, die Selbstgefälligkeit und die Verzagtheit, der aktive Leistungszwang mit dem passiven Versorgungswunsch zum unheilvollen Dilemma, das statt Zusammenwachsen jetzt Distanz, Enttäuschung und Haß schürt.
Was wir im Osten nicht leben durften, individuelle Größe und Stärke und expansive Aktivität, das haben wir auf die Westler neidisch projiziert. Und deren reales Verhalten hat uns darin bestärkt. So haben wir die unterdrückte und verdrängte Seite dieses Lebens nicht sehen wollen und können. Im Westen brauchte dagegen die eigene Schwäche, Angst und innere Ohnmacht nicht empfunden zu werden, dafür waren wir ja im Osten zuständig. Mit dem Blick auf unsere Armut und Kleinheit konnte sich jeder Westbürger noch immer großartig fühlen, auch wenn er selbst armselig dran war. Es wurde also das im jeweiligen System verpönte Verhalten wechselseitig abgespalten und projiziert. Dies hat auf beiden Seiten Kritik erstickt und die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen stabilisiert. Geh doch rüber in den Osten, wenn es dir bei uns nicht gut genug ist! — das war die eine Drohung und die andere bestand in der tatsächlichen Ausbürgerung, wenn die Drohung: Du bist ja vom Klassenfeind gesteuert!, nicht mehr ausreichte.
Wir haben aber auch noch unsere Sehnsüchte so behandelt. Wir haben auf den Westen unseren Wunsch nach Freiheit projiziert, dabei längst die innere mit der äußeren Freiheit verwechselt, und vom Westen bekamen wir mitunter die Wünsche nach einem sozial-gerechterem Leben hingeschoben.
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Schauen wir uns die im Moment anwachsenden wechselseitigen Vorurteile an, so lassen sich die Projektionen erhellen: Wir schimpfen auf die »Besser-Wessis«, und sie nennen uns »Bananenfresser«, die erstmal die Ärmel hochkrempeln und richtig arbeiten lernen sollen, dann könnten wir uns ja den erwünschten Wohlstand genauso mühsam und hart erarbeiten.
Wir im Osten denunzieren also vorwurfsvoll ein Verhalten am Westdeutschen, das wir selbst nicht entwickeln durften und das unsere Minderwertigkeitsgefühle entlarvt. Natürlich liegt darin auch der gereizte Arger, daß uns alle Westdeutschen für lange Zeit ganz real überlegen sein werden, weil wir nichts anderes als ihr System zu übernehmen haben, in dem wir uns aber nicht auskennen, in dem wir nicht herangewachsen sind. Wenn der Bundeskanzler seine westlichen Landsleute ermahnt, sie sollen doch bitte nicht so arrogant und überheblich auftreten, verlangt er schließlich etwas Unmögliches, weil sie gar nicht anders können, nicht nur weil sie so getrimmt wurden, sondern weil der »Beitritt« allein uns zur Anpassung und »westdeutsch« zu lernen verpflichtet.
Das Autoritätsprinzip ist im Moment vor allem auf das deutsch-deutsche Verhältnis verschoben, die einen haben zu lehren und die anderen zu lernen, die einen geben vor, und die anderen ziehen nach, die einen geben den Ton an und die anderen parieren. So ist auf Schritt und Tritt bei uns aufstöhnend zu hören: Die Westdeutschen wüßten auf alles eine Antwort, sie wissen alles besser, sie sind immer schneller und handeln effizienter. Sie fragen nur, was ist zu tun und eins zwei drei, haben sie's gepackt. Da zögert und grübelt der arme Ossi noch lange, zur Vorsicht ein Leben lang gemahnt, um ja nie fixer zu sein als die Oberen: Erstmal abwarten und sehen, wo es langgeht und was die richtige Meinung ist.
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Daß andererseits uns gerade die Begehrlichkeit und mangelnde Arbeitsleistung vorgeworfen werden, wirft ein Licht auf die gut getarnte Konsumsucht des Westlers und die längst vergessene und verleugnete Nötigung zu einer unnatürlichen Anstrengung, was durch unsere noch direkte und plumpe Gier und durch das gemütlichere Arbeitstempo wieder verdeutlicht wird und erneut ins Bewußtsein drängt.
Wie mit der Spaltung Deutschlands die schmerzliche Erkenntnis von Schuld und Störung im »Kalten Krieg« externalisiert wurde, so konfrontiert uns die Vereinigung mit den Äußerlichkeiten und Kompensationen, die zur individuellen Abwehr der längst verlorenen Ganzheit den ausgleichenden Ersatz bilden mußten. Wir suchen äußere Freiheit, um unsere innere Begrenztheit nicht zu erleben. Die gewonnene Vielfalt und Fülle soll von der inneren Enge und dem Mangel ablenken. Und der Westen sorgt mit aller Anstrengung dafür, daß wir das ganze System getreu übernehmen.
Die Aufdringlichkeit und Schnelligkeit dieses Prozesses sind verräterisch. Und die mangelnde Bereitschaft, sich auch auf eine Veränderung im Westen und eine gemeinsame Entwicklung einzulassen, verrät eine Furcht vor der möglichen Infragestellung, die so manchen Schein erschüttern könnte. Lieber sich als »Sieger« fühlen, als zugeben, daß das eigene Leben längst nicht mehr hält, was die Werbung verspricht. Die Diskussion um die Hauptstadt und der Streit um eine gemeinsame Verfassung sind nur die äußerste Spitze des Eisberges, der unter der Oberfläche noch in einem riesigen Umfang dunkle Gefahren bereithält, die aus den psychischen Abspaltungen und Schutzmechanismen herrühren. Was dem Schutz der eigenen verletzten Seele diente, wendet sich jetzt zur Waffe gegen die Bedrohung der bisherigen Arrangements.
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Dieser Gefahr ist nur zu entgehen, wenn in einem intensiven Prozeß die wechselseitigen Projektionen zurückgenommen und die Abspaltungen integriert werden. Ansonsten wird die ehemalige Mauer aus Beton immer wieder als psychologische Mauer auferstehen, nicht weniger undurchlässig-abgrenzend und tödlich.
Zusammenfassung
Zum Wesen autoritärer Gesellschaften gehört die Anpassung an eine vorgegebene Norm, somit zwangsläufig eine Selbstentfremdung und eine mangelhafte Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse, dies betrifft vor allem die uneingeschränkte und unverstellte Daseinsberechtigung (ich bin, also bin ich gut, ohne weiteres Wenn und Aber). Das Defizit an Annahme und Bestätigung löst unweigerlich schmerzliche Gefühle aus, deren Aufschrei im totalitären DDR-System vor allem repressiv unter Kontrolle gebracht wurde und auf diesem Wege einen Gefühlsstau produzierte. Ein vergleichbares Mangelsyndrom wird auch unter westlichen Verhältnissen, unter den Leistungszwängen der Marktwirtschaft erzeugt, nur der schmerzliche Aufschrei verhallte eher in der unbegrenzten Weite und der Vielfalt der Möglichkeiten.
Der Zusammenbruch der DDR bedeutet auch den Verlust der kontrollierenden Mechanismen, so daß wesentliche Grundbedürfnisse wieder Energie sammeln und ihre Ansprüche anmelden, aber wir sind nun auch der Möglichkeit beraubt, unsere aus innerer Bedürftigkeit erwachsenden Gefühle gegen das verhaßte System zu lenken und ihm alle Schuld zuzuschieben. Die Befreiung von der Politbürokratie mündet deshalb nicht in einen einzigen Jubelschrei, nur ganz kurze Zeit erlebten wir freudige Erregungsschauer, die aber bereits die Tränen des gestauten Schmerzes mit herausbeförderten.
Auf der Flucht vor dieser jetzt möglichen (und notwendigen!) Erschütterung klammern wir uns verzweifelt an die andere Form der Bewältigung inneren Mangels. Der Umstieg hat seine eigenen Tücken und Schwierigkeiten: Es gilt die neuen Normen kennenzulernen und die Regeln zu verstehen und zu beachten, und der »Lustgewinn« aus den neuen Ersatzbefriedigungen ist erst zu lernen, bis man die preisgünstigste Variante endlich gefunden hat. Es zählt nicht das Erleben, sondern ein »Schnäppchen« muß es für die Einfacheren sein und etwas Extravagant-Einmaliges, das sich nicht jeder leisten kann, für die Wohlbetuchten.
Und natürlich funktioniert der Wechsel der Systeme nicht reibungslos. Das ewig Gepreßte, Eingeengte und Kontrahierte soll jetzt ständig fließen und expandieren. Da gibt es Umstellschwierigkeiten, und ein großer Teil wird es nicht mehr schaffen. Der wird dann zum Abfall der Geschichte gezählt. Bereits im Golfkrieg war die neue Art, historische Ereignisse darzustellen, der Welt vorgeführt worden. Gut und Böse, Recht und Unrecht schienen völlig klar, aber daß dazwischen Hunderttausende getötet werden konnten und eine wahnsinnige ökologische Katastrophe tobt, blieb und bleibt im wesentlichen außerhalb der Erregung.
Was aber den deutschen Vereinigungsprozeß zusätzlich so unglücklich belastet, das ist im Osten das bittere Erwachen aus einem schönen Traum. Die bisher verdrängte Kehrseite des schönen Scheins schiebt sich unaufhaltsam in die Lebenswirklichkeit: Der Wohlstand hat seinen Preis!
Und im Westen empfinden die Menschen zunehmend eine psychologische, ökonomische und moralische Bedrohung ihres bisherigen Lebensstandards als dem zentralen Mittel, sich den inneren Mangel erträglicher zu machen. Der Umstieg kann dann scheitern, wenn bei uns zu viele dabei abstürzen und wenn im Westen eine Schmerzgrenze überschritten wird. Im Moment wird fast ausschließlich nur am geschicktesten Umstieg gebaut und gebastelt, dagegen will ich die Notwendigkeit eines »neuen Denkens« setzen, das den wachsenden Zwiespalt zwischen den realpolitischen Zwängen und den menschlichen Bedürfnissen zu verringern in der Lage ist.
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