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Psychische Revolution und therapeutische Kultur 
Vorschläge für ein alternatives Leben

Hans-Joachim Maaz, befragt von A. Pelau 
Aus Ich-Zeitung  Nr.1, 1991 bzw. druckgleich im Buch <Weltall, Erde, Ich>, S. 110  

 

Peglau:  Autoritäre Systeme bringen gespaltene Persönlichkeiten hervor. Gespalten in eine angepaßte, gefällige Fassade, unterdrückte Gefühle wie Haß, Wut, Trauer, Schmerz und in ein ungestilltes Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung. An diese Erkenntnis Wilhelm Reichs knüpfen Sie an und konnten sie für Ex-DDR-Bürger voll bestätigen. Die Vermutung, daß der "Sozialismus in den Farben der DDR" allerdings nur eine spezifische Spaltungs-Variante hervorgebracht hat, und ähnliche Verformungen für alle Industrienationen typisch sind, liegt nahe. - Ein solche Analyse des Bestehenden ist notwendig. Aber wo liegt die Hoffnung? Wie könnte - aus psychotherapeutischer Sicht - eine ideale Gesellschaft aussehen?   

Maaz:  Eine bessere Gesellschaft müßte vor allem dafür Sorge tragen, daß Menschen ihre Persönlichkeit nicht aufspalten müssen und sich vor allem weniger von ihrer Natur entfremden müssen, daß sie weniger Mangel an natürlicher Bedürfnisbefriedigung erleiden. Wenn wir uns die wesentlichen menschlichen Grundbedürfnisse anschauen, dann müssen wir leider feststellen, daß wir heute keine Chance mehr haben, diese gut zu befriedigen. Wir können kaum noch saubere Luft atmen, wir können uns nicht mehr ohne Gifte ernähren. Unser Denken wird manipuliert, unsere Gefühle müssen wir unterdrücken und in unseren zwischen­menschlichen Kontakten dominiert Unsicherheit, Ängstlichkeit, Mißtrauen und Distanz. Dies alles ist die Folge einer Kultur und Lebensweise, die äußeren Wohlstand vergötzt. Wir wollen nur die angenehmen Seiten des Lebens akzeptieren und verleugnen die Schattenseiten. Wir glauben, wir können die Natur beherrschen und ausbeuten, damit es uns immer besser gehen soll und merken nicht, daß wir damit die Natur zerstören und uns damit zunehmend unserer Lebensgrundlagen berauben.

Wenn wir die Natur beherrschen wollen, dann müssen wir uns auch selbst beherrschen, und das führt zu einem falschen und verlogenen Leben.

Statt dessen könnten wir unsere Natürlichkeit akzeptieren, also mit der Natur leben und d.h. immer auch in zyklischen Prozessen und polaren Gegensätzen. Wir leben im Wechsel von Tag und Nacht, von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wir leben in einem ständigen Rhythmus von Anspannung und Entspannung. Und das heißt immer auch Leid und Lust. Dagegen zwingt das Leben in einer technisierten, industrialisierten Gesellschaft zu unnatürlichen Rhythmus oder einer Überbetonung der Anpassung. Wir müssen meist "auf Draht" sein, ständig leistungsbetont. Die andere Seite des Lebens, die Seite der Entspannung, des Passiv-Seins, des Geschehenlassens, des Faulenzens wird dagegen verpönt - dies alles gehört ebenso zur Natur des Menschen, aber darin werden wir nicht bestärkt und nicht ermutigt.

Eine Gesellschaft, die eine lineare Entwicklung nehmen will, also im Sinne von ständig steigendem Wachstum und ständigem Fortschritt, laufender Leistungssteigerung, entspricht einer einseitigen und unnatürlichen Lebensform. Dies hat seinen Preis, was wir in den sogenannten Zivilisationserkrankungen und globalen Bedrohungen unseres Lebens erkennen können. Wir wollen in der Regel auch nicht die polaren Gegensätze, die zur Natur gehören, akzeptieren: Zum Leben gehört der Tod, zur Freude das Leid und zur Lust der Schmerz. Der Mensch befindet sich ständig im Spannungsfeld entgegengesetzter Wünsche und Bedürfnisse. So wollen wir frei sein und gebunden. Wir haben ein Bedürfnis nach Selbständigkeit und Abhängigkeit. Wir brauchen das belebende Risiko und die schützende Geborgenheit. Dies ist oft schwer auszuhalten, und deshalb neigen wir gern dazu, nur eine Seite zu akzeptieren und die andere zu verleugnen und abzuspalten. Diese Tendenz wird häufig von politischen Ideologien verstärkt, die den Menschen in eine Entweder-Oder-Position zwingen. Aber das Leben ist immer Sowohl-als-auch.

Es kann nie sein, daß wir nur erfolgreich, zufrieden, glücklich, immer perfekt und gesättigt ein könnten. Sondern das Gegenteil trifft genauso zu, daß wir unglücklich, unzufrieden, nicht gesättigt und fehlerhaft sind. Eine natürlichere Lebensauffassung würde also bedeuten, daß wir unharmonische Zustände und Spannungen aushalten, unlösbare Konflikte akzeptieren, und daß wir die Gegensätzlichkeit des Lebens annehmen. Dies ist der genaue Gegensatz zu der vorherrschenden Lebensweise, die ständig bemüht ist, die unangenehmen Seiten des Lebens zu verbannen.

Einen wesentlichen Grund dafür erkenne ich darin, daß die meisten Menschen in ihrer frühen Kindheit so viel Unangenehmes erleben mußten, daß sie dies verdrängen mußten, um überhaupt halbwegs leben zu können. Und wenn man auf diese Weise angefangen hat, das Unangenehme zu unterdrücken und damit zu verleugnen, dann setzt ein suchtartiges Verhalten der ständigen Verdrängung ein, das Unangenehmes prinzipiell vermeiden will, um nie mehr an die frühen Erfahrungen erinnert zu werden. So zerstört der Mensch die zyklischen Rhythmen und polaren Spannungen des natürlichen Lebens.

Wenn ich das eben Gesagte auf unsere Beziehungen übertragen will, dann heißt das, daß wir auch Konflikte und Spannungen in den Beziehungen aushalten und akzeptieren, daß wir uns abgrenzen und auch zum "Nein" Mut finden. Das heißt auch, daß ich mich unverstellt zeigen kann, daß ich es nicht nötig habe, Kränkung, Enttäuschung, Wut und Schmerz zu verbergen, und es gehört auch dazu, daß ich mir Lust erlauben darf und dies auch zu zeigen und auszudrücken wage. Solche Beziehungen wären lebendig, spannend und interessant, und sie gäben auch Sicherheit und die Möglichkeit zu tiefer leibseelischer Entspannung. Wem dies möglich wäre und wer dies erfahren würde, der wäre einfach nicht mehr so gierig auf äußere Werte, auf äußere Erfolge, auf Macht und Besitz. Das lehrt uns immer wieder die therapeutische Erfahrung. Die offenere Innerlichkeit und die ehrlichere Beziehung relativiert das nach außen orientierte Leben. Das wäre die entscheidende Grundlage für eine wirklich gesündere Gesellschaftskonzeption.

 

A. P.: Was können wir im einzelnen schon heute unternehmen, um uns in diese Richtung zu entwickeln?

Maaz: Als ersten Schritt brauchen wir eine breite sowohl persönliche wie auch öffentliche Diskussion über unsere Lebensweise. Was soll unser Leben bestimmen? Wir müssen offen nachdenken über die Werte, an denen wir uns orientieren. Wir sollten uns unsere Ängste, unsere Enttäuschungen und Kränkungen, unsere Demütigungen, aber auch unsere Wünsche und Hoffnungen, unsere Utopien mitteilen. Die Bearbeitung dieser Themen in den Medien halte ich im Moment für eine wichtige Sache.

Dabei geht es nicht nur um Übermittlung von Wissen und Informationen, nicht um exakte wissenschaftliche Daten, sondern um ganz persönliche Meinungen, um kritisches und provokantes Hinterfragen, um mutiges Offenlegen und freches Querdenken. Wir können es zunehmend lernen, von uns zu sprechen statt nur über anderes und über andere zu reden. Dies ist bisher wenig üblich, ja wird sogar häufig als unhöflich oder egoistisch oder als zu gefühlvoll oder zu persönlich diffamiert. Für diese Sache sehe ich die Multiplikatoren der öffentlichen Meinung in der Pflicht.

Für mich ist das durchaus ein moralische Frage. Wer die öffentliche Meinung beeinflußt, muß sich auch damit auseinandersetzen, welche Themen und Inhalte er befördert, ob er mehr der Ablenkung und Verdrängung dient oder ob er wirklich bereit ist, auch unangenehme und schmerzliche, ängstigende Themen anzupacken. Werden Programme nur nach Einschaltquoten und Inhalte nur nach Verkaufszahlen gewertet, dann stehen auch die Medien im Dienste gesellschaftlicher Fehlentwicklung.

Aber natürlich können wir die Verantwortung für diese wichtige Angelegenheit der Fragen unseres gesellschaftlichen Lebens nicht den Meinungsmachern überlassen und natürlich auch nicht den Politikern, sondern jeder einzelne von uns ist gefordert, sich diesen Fragen zu stellen. Dies halte ich überhaupt für das Wichtigste, daß wir nicht mehr die Verantwortung für unser Leben an andere abdelegieren, sondern immer mehr selbst in die Hand nehmen. Als wichtigen Schritt dazu sehe ich die Möglichkeit, daß wir uns im familiären und Freundeskreis, unter Kollegen und Bekannten immer wieder mal zu Gesprächen zusammenfinden, um wirklich von uns zu sprechen, von unseren Nöten und Sorgen, von unseren Wünschen und Hoffnungen. Solche ganz persönlichen Mitteilungen werden ja häufiger noch gemieden. und es dominieren die Gespräche über Externales, Äußerliches.

A.P: Ich möchte noch mal daran anknüpfen, daß seelische Störungen in unserem Land, eigentlich in allen Industrieländern, eher die Regel als die Ausnahme sind. Im Gegensatz also zur öffentlichen Meinung, die psychische Störungen zu einem Außenseiterproblem erklärt, könnte die Information über die weite Verbreitung psychischer Probleme viele Menschen ermutigen, auch die eigenen Schwierigkeiten sich selbst und anderen gegenüber zu offenbaren.  

Maaz: Sie sprechen damit ein Problem an, das wir in der Psychotherapie sehr genau kennen. Viele Menschen scheuen sich, sich als psychisch belastet zu erkennen, weil sie dann soziale Diffamierung befürchten müssen. Sich beherrschen und verstellen, so tun als ob, stark und tapfer sein, gehört immer noch zu den Erziehungsnormen. Und seelisches Leiden wird als Schwäche abqualifiziert. So gehen viele Menschen lange Jahre Irrwege: Entweder, daß sie sich zu Haltungen zwingen, die sich gegen ihre Natur und Gesundheit richten oder - wenn sie dann krank geworden sind -, daß sie nur organische Ursachen und medizinische Behandlungen für möglich halten und zulassen. Zur Psychotherapie kommen leider viele Menschen erst, nachdem sie mehrfache medizinische Behandlungen im wesentlichen erfolglos, häufig sogar zusätzlich schädigend auf sich genommen haben.

So sehr ist seelisches Leiden in der Gesellschaft noch abgewertet. Und dagegen ist die Art und Weise unserer Kultur und die Nötigung zu allgemeingültigen Verhaltensweisen derart, daß unsere Gesundheit laufend beeinträchtigt und in Frage gestellt wird. Es ist nicht übertrieben, wenn wir heute zu der Aussage kommen, daß die Zivilisation in den Industrienationen die Hauptursache für den größten Teil aller Krankheiten darstellt.

Wir können heute nicht mehr über Krankheiten sprechen, ohne zugleich eine umfassende Kulturkritik aufzuwerfen.

A.P.: Sie haben ja gelegentlich auch schon selbst gesagt, daß durch Therapie nicht eine ganze Gesellschaft verändert werden kann, und daß Therapie für sehr viele Menschen auch völlig unrealistisch ist. Was kann man also tun?  

Maaz: Sie haben völlig recht, daß man nicht Therapie zur Grundlage der Gesellschaftsveränderung machen kann. Therapie kann man ja auch nicht verordnen, wir kämen dann sehr schnell in eine neue Diktatur, die Diktatur durch Therapie. Therapie läßt sich nur vereinbaren mit jemanden, der sein Leben verändern will, weil er leidet, unzufrieden ist oder krank geworden ist. Und Therapie meint ja auch nichts anderes als einen Veränderungsprozeß, den der Betreffende selbst gehen muß. Das kann ihm kein Therapeut abnehmen, und das können auch nicht Medikamente oder sonstige technische Hilfsmittel erledigen. Therapie kann also lediglich ein Angebot zur Begleitung, zur Ermutigung, zum Schutz sein für die Zeit, in der durch die Veränderung erhebliche Labilisierung auftritt.

Als eine Zeitung mal meine Meinung kommentierte, hat sie einen sensationellen Aufmacher benutzt, nämlich, daß 16 Millionen DDR-Bürger auf die Couch des Psychotherapeuten müßten. Das kann man als Metapher gelten lassen, um die Tendenz deutlich zu machen, daß wir nicht von einzelnen Betroffenen sprechen, sondern von einem Massenphänomen als Folge abnormer Gesellschaftsentwicklung. Aber als eine ernsthafte Aussage kann man das natürlich so nicht stehen lassen, und ich habe es ja auch nicht so formuliert. Man muß auch daran denken, daß mit einem solchen Aufmacher die ganze Problematik ins Lächerliche und Absurde gezogen werden kann. In Wirklichkeit geht es also darum, daß sozialpsychologische und psychotherapeutische Erkenntnisse wichtige Hinweise auf eine gesellschaftliche Fehlentwicklung geben können und eine wichtige Entscheidungshilfe für politische Maßnahmen sein können. Deshalb sehe ich die Psychotherapeuten auch in der Pflicht, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen und nicht — wie es in der DDR üblich war und auch von uns zumeist leider befolgt wurde — zu verbergen.

Zu den notwendigen politischen Entscheidungen für Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus meiner Perspektive gehören vor allem Veränderungen des Geburtsregimes, der Erziehung, der medizinischen Behandlungen und natürlich der Bedeutung der Psychotherapie. Psychotherapie hat immer ein Randdasein innerhalb der Medizin gefristet und wurde nie wirklich gefördert und unterstützt. So sind die psychosozialen Aspekte der Medizin immer zu kurz gekommen und die natur­wissenschaftlich-biologische Seite wurde stets überbetont. Um hier Veränderungen zu erreichen, bedarf es sowohl politischer wie administrativer Entscheidungen.

Aber natürlich wäre es ebenso wieder falsch, solche Maßnahmen nur in die Verantwortung der Oberen zu legen. Hier ist wieder jeder einzelne gefragt, sich Gedanken zu machen, wie die eigenen Kinder geboren und erzogen werden, welchen Verhältnissen sie in der Schule ausgesetzt sind und welchen Maßnahmen man im Krankheitsfalle vertraut. Der einzelne kann sich kundig machen, sich in die Diskussion einmischen und Maßnahmen fordern, die er für wichtig hält. Wir haben in diesem Zusammenhang gute Erfahrungen mit sogenannten Selbsthilfegruppen gemacht. Dies sind Gruppen von Menschen, die regelmäßig zusammenkommen, weil sie von einem bestimmten Problem betroffen sind, das sie allein schlecht bewältigen können oder die auch ungenügende Hilfe und Unterstützung erfahren und sich auf diese Weise selbst Hilfe geben, sich gegenseitig ermutigen und sich darüber auseinandersetzten, was man selbst tun kann, um die eigene Situation zu verbessern oder das vorhandene Problem zu bewältigen.

Solche Gruppen bedeuten schon ein anderes Selbstverständnis, daß man das eigene Schicksal nicht mehr in die Hände der Mächtigen und Experten legt, sondern selbst mit in die Hand nimmt. Bei der vorherrschenden hierarchisch autoritären Struktur unserer Gesellschaft, wo immer nur Hilfe und Veränderung von oben erwartet wird, die Menschen also sich mehr als Objekte verstehen oder dazu genötigt wurden, sich so zu verstehen, sind solche Bemühungen um Eigeninitiative und Selbstbestimmung ganz wichtige Schritte, die hierarchischen Strukturen zu unterwandern und sich selbst zum Subjekt der eigenen Lebensgeschichte zu machen.

Die Erfahrung mit sogenannten basisdemokratischen Gruppen macht aber auch deutlich, daß die Arbeitsfähigkeit solcher Gruppen häufig dadurch gestört wird, daß zwischen den Mitgliedern der Gruppe Beziehungsprobleme auftreten und nicht geklärt werden. Dann wird auf der Beziehungsebene und durch unbewußte Gefühle und Bedürfnisse die kooperative Arbeit erheblich beeinträchtigt.

Zur Aufdeckung und Bewältigung solcher Störungen kennen wir in der Psychotherapie sogenannte Balintgruppen. Der Name geht auf den Psychoanalytiker Michael Balint zurück, der erstmals praktische Ärzte zu einer Gruppe zusammengeführt hat, in der über die Beziehung, die zwischen einem Arzt und seinem Patienten besteht, gesprochen wurde. Also es wurde nicht mehr akademisch über Krankheiten diskutiert, sondern die emotionale Beziehung zwischen Arzt und Patient wurde in der Gruppen durchleuchtet, wobei wiederum die Gefühle der Gruppenteilnehmer eine wesentliche Rolle spielen. Solche Gruppen sind überall dort empfehlenswert, wo Beziehungsfragen entscheidenden Einfluß nehmen auf die Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler, Richter und Angeklagten. Ja, selbst zwischen Behörden, Politikern und Bürgern, für Offiziere und Soldaten können Balint-Gruppen von großem Wert sein.

Um das noch mal an einem Beispiel zu erklären: So könnten sich Lehrer zusammensetzen, um sich darüber zu verständigen, welche emotionalen Schwierigkeiten sie mit welchem Klassen oder welchen Schülern unter welchen Umständen haben, um die unbewußten Vorgänge zu verdeutlichen, die immer eine Rolle spielen, wenn Menschen zusammen sind - vor allem auch, wenn es ein Autoritätsgefälle gibt.

Diese speziellen Gruppen brauchen allerdings die Mitarbeit eines Experten, der etwas von unbewußter Beziehungsdynamik versteht und dies auch deutlich machen kann. Aber auch hier ist nicht zu erwarten, daß dies jemals von oben empfohlen wird, sondern es bleibt wieder der Initiative einzelner überlassen, sich zu solchen Aufgaben zusammenzufinden.

Allerdings kann der Gewinn auch erheblich sein, weil die Zusammenarbeit auf der Sachebene oftmals vor allem durch ungeklärte Beziehungsprobleme behindert und gestört wird. Wir wissen ja längst, wenn Lehrer oder auch Eltern über schwierige Kinder klagen, daß dann nicht die Kinder zu behandeln sind, sondern die Eltern oder Lehrer einer Beratung oder Therapie bedürfen, damit sie ihr Verhalten und ihre Beziehungsangebote an die Kinder so verändern können, daß diese ein Fehlverhalten nicht mehr nötig haben.

Obwohl solche Beziehungsprobleme heute weitverbreitet sind, werden sie häufig gar nicht erkannt. Sie belasten aber das Zusammenleben der Menschen erheblich und haben einen wesentlichen Anteil an gesellschaftlicher Fehlentwicklung – im Sinne von Werten und Normen, die uns immer stärker in Störungen und Entfremdungen hineintreiben. Daher sind Aufklärung, Information und Angebote, die Veränderung ermöglichen, sehr wichtig. Dies alles gehört für mich zu einer "therapeutischen Kultur", die wir heute dringend nötig haben. Ich kann mir also vorstellen, daß es in den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen eine Art Lebenskunde-Unterricht gibt, in dem vor allem die Fragen der zwischenmenschlichen Beziehungen gelehrt und geübt werden, in dem Kontakte, Gespräche, das Zuhören, das Streiten und Auseinandersetzen vermittelt werden.

Wir verfügen mittlerweile über eine Fülle von Erfahrungen, die einfach zu vermitteln sind, die aber sehr große sinnvolle und positive Wirkungen haben können. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ein Kind sehr laut ist und mich als Erwachsenen das stört, dann ist es in der psychologischen Wirkung ein erheblicher Unterschied, ob ich das Kind anfahre mit einer Bemerkung wie: "Sei still, du störst!" Damit vermittle ich dem Kind ja den Eindruck, daß es nicht in Ordnung ist und ich reflektiere damit überhaupt nicht die eventuell ganz notwendigen und folgerichtigen Gründe für das Verhalten des Kindes.

Wenn ich aber sage, daß ich im Moment Lärm schlecht aushalten kann, weil ich gestreßt bin oder mich auf eine Arbeit konzentrieren muß, dann erkläre ich damit nicht das Kind zu einem Übeltäter, sondern mache deutlich, daß ich im Moment ein Problem habe oder in einem Zustand bin, in dem ich Lärm schlecht ertrage.

Damit stehen eben nur zwei unterschiedliche Interessen oder Bedürfnisse gegenüber, ohne daß der eine für seine Bedürfnisse beschimpft oder bestraft wird. Es ist leicht zu erkennen, welch gravierender Unterschied darin liegt. Wollte man also solche Dinge lehren und vermitteln, könnten wir damit sehr viel erreichen, um mit psychologischen Mitteln die Grundlage und das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu verbessern.

A.P.: Wollen Sie damit sagen, daß auch der Unterrichtsstoff in den Schulen verändert werden müßte, daß statt zu vielem abstrakten Wissen mehr lebendiges Erfahrungswissen vermittelt und erprobt werden sollte?

Maaz: Ja, genau das will ich sagen. In den Schulen werden die Kinder häufig mit einem Wissen vollgestopft, das sie oft nur auswendig lernen und nach der nächsten Leistungskontrolle bereits wieder vergessen haben. Sie lernen also für die Schule, für Zensuren, und nicht für ihr Leben. Und das, was ihr Leben wirklich erheblich beeinflußt, ob sie gut oder schlecht leben, das bekommen sie in der Regel nicht vermittelt.

Dabei geht es vor allem um die Fragen, wie Beziehungen zu gestalten sind, wie Gefühle ausgedrückt werden, wie man sich streiten kann, wie man Kompromisse schließt, wie man sich durchsetzt und nachgibt, wie man Bedürfnisse befriedigen kann, wie man selbständig und unabhängig wird und bleiben kann und zugleich auch, wie man in einer Gemeinschaft Geborgenheit und Annahme finden kann, wie man Sexualität lustvoll gestaltet.

Das ist alles viel wichtiger als bloße Wissens- und Faktenvermittlung. Natürlich muß auch Sachwissen vermittelt werden, aber es sollte nicht eingepaukt werden, das hat sowieso keinen Sinn - wichtiger wäre es, wenn man lernen kann, wie man sich Wissen aneignet und daß Sachwissen stets im lebendigen Zusammenhang verständlich gemacht werden kann.

 

A. P.: Sie haben immer wieder darauf hingewiesen, daß der Anfang von Charakterverformung, von Neurose und vielfachen Erkrankungen, von Liebesunfähigkeit durch eine liebes- und lusttötende autoritäre Erziehung bereits in der frühen Kindheit beginnt. Wie kann man dem vorbeugen?

Maaz: Aus meiner Perspektive sehe ich drei wesentliche Bereiche. Es handelt sich vor allem um die Art und Weise, wie geboren wird, wie erzogen wird und wie Krankheiten von der Medizin verstanden und behandelt werden.

So wird die Geburt vor allem nach medizinischen Gesichtspunkten geleitet. Man will unter Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden technischen Mittel die Säuglingssterblichkeit gering halten, das ist nahezu ein Politikum, und dies geht in der Regel auf Kosten der Beziehung zwischen Mutter und Kind, und damit werden vor allem für das Kind traumatische Urerfahrungen gesetzt. Natürlich sollen die medizinischen Erkenntnisse und Möglichkeiten volle Anwendung finden dort, wo es wirklich notwendig ist, aber nicht routinemäßig und häufig völlig überflüssig. Leider ist der Schaden, der durch eine künstliche Beschleunigung des Geburtsvorganges oder durch Betäubungsmittel entsteht und vor allem durch die abrupte Trennung zwischen Mutter und Kind noch nicht so bekannt, wie es notwendig ist.

Nachdem mit Hilfe psychotherapeutischer Methoden auch diese frühen Erfahrungen wieder zugänglich gemacht werden können, ist überhaupt kein Zweifel mehr über die immense Bedeutung des Geburtsvorganges für die spätere psychosoziale Entwicklung des Menschen. Um es auf einen Punkt zu bringen: Es sollte die Geburt so natürlich ablaufen, wie es nur geht und nicht durch medizinische Maßnahmen und Eingriffe gestört werden. Es geht um so wichtige Fragen, wo die Entbindung stattfindet, wer dabei ist, wie das emotionale Klima ist, und vor allem, wie das Kind unmittelbar nach der Geburt angenommen wird und daß das Zusammenbleiben von Mutter und Kund nach deren Bedürfnissen geregelt wird und nicht nach Vorschriften einer Klinik.

Zur Frage der Erziehung will ich hier sagen, daß Kinder nicht erzogen werden sollen, sondern eine verständnisvolle Begleitung brauchen, daß also ihre Bedürfnisse und Wünsche erkannt werden, daß darauf eingegangen wird und eine optimale Möglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung ermöglicht wird. Erziehung ist nur dort nötig, wo vorher bereits Ablehnung, Kränkung, Demütigung erfolgt ist und ein Mangel an Bedürfnisbefriedigung vorliegt. Hier ist eine breite Diskussion um die Ziele und Werte einer gesellschaftlichen Entwicklung ebenfalls dringend geboten.

Wenn wir nur eine Leistungsgesellschaft sein wollen, die äußeren Wohlstand anstrebt, dann muß der Mensch durch Erziehung entfremdet werden. Sonst entwickelt er sich nicht zum Produzenten und Konsumenten, wie wir es in dieser pervertierten Form in allen Industrienationen heute vorfinden. Wollen wir dagegen natürlicher leben, mehr Freunde und Befriedigung an unseren Beziehungen und an lustvoller Sexualität haben, ehrlich und offen sein dürfen und auch unsere Gefühle nicht verbergen müssen - deren unverstellter Ausdruck ja eine erhebliche Entlastung darstellt und zur Gesunderhaltung sehr viel beiträgt -, dann brauchen wir auch eine andere Gesellschaftskonzeption, die sich an eben anderen Werten orientiert.

Und der dritte Punkt ist für mich die Art und Weise, wie krankhafte Zustände heute behandelt werden, ob sich die Medizin also ausschließlich naturwissenschaftlich-organisch versteht oder auch bereit ist, seelische und soziale Faktoren als Ursachen für viele krankhafte Zustände zu verstehen. Wenn das Letztere nicht der Fall ist, dann erzeugt eine moderne Medizin mehr Krankheiten bzw. chronifiziert eher krankhafte Zustände, als daß sie heilen würde. Nur in Einzelfällen ist die moderne technische Apparate-Medizin und die Pharmako-Therapie geeignet, Krankheiten durch den Einsatz von Technik und Medikamenten zu heilen. In der überwiegenden Zahl der Fälle sind es soziale und seelische Faktoren, die wesentlichen Anteil am Befinden der Menschen haben, so daß die Medizin auch ein Ort sein muß, an dem diese Zusammenhänge aufgedeckt, verstanden und verändert werden können.

Damit wächst der Medizin auch eine politische Funktion zu, denn sie muß aus ihrer Erkenntnis Empfehlungen aussprechen und Forderungen stellen für die Entwicklung gesellschaftlicher und sozialer Verhältnisse. Sonst gerät sie in gefährlicher Weise in eine Handlangerfunktion, in der Art, daß die Menschen, die an abnormen Verhältnissen krank geworden sind, mit medizinischen Mitteln getröstet und besänftigt werden, ohne daß die wirklichen Ursachen aufgedeckt oder gar verändert werden.

Darüber können auch die großartigen Erfolge moderner Medizin nicht hinwegtäuschen, denn diese spektakulären technischen Erfolge werden niemals der Fülle der krankhaften Zustände gerecht. Eine Medizin, die ihren Patienten durch technische Eingriffe oder Medikamente eine Heilung verspricht, muß sich auch den Vorwurf gefallen lassen, daß sie damit den Menschen in Abhängigkeit hält und ihn kaum befähigt und ermutigt, für die Erhaltung seiner Gesundheit eigenständig mit zu sorgen. So benutzen viele Menschen heute die Medizin wie einen Dienstleistungsbetrieb, wie wenn man ein kaputtes Auto zur Reparatur bringt, als könne der kranke Mensch repariert werden.

Jedes Medikament, das Beschwerden nur symptomatisch bekämpft, trägt dazu bei, daß der Mensch von der Suche nach den wirklichen Ursachen und Zusammenhängen abgehalten wird. Was von Arzt und Patient als humanistische Tat, nämlich als Beschwerdenlinderung verstanden wird, ist dann in Wirklichkeit eine schädigende, weil verschleiernde und verschleppende Maßnahme.

 

A. P.: Ich kann mir vorstellen, daß viele Menschen Ihre Meinung teilen und auch großes Interesse dafür entwickeln, daß ihre Kinder auf natürliche Weise geboren werden, daß es keine repressive und entfremdende Erziehung mehr gibt und daß die Medizin sich ganzheitlich versteht. Aber dies alles bleibt doch momentan noch eine Utopie. Es ist doch nicht zu erkennen, daß sich in diesen Bereichen in kurzer Zeit Wesentliches ändern wird.

Maaz: Leider haben Sie recht mit dieser eher pessimistischen Prognose. Ich setze im Moment auf Aufklärung, Information, Diskussion und Auseinandersetzung über all die Themen, über die wir ja 40 Jahre lang öffentlich nicht diskutieren konnten. Und ich hoffe darauf, daß immer mehr Menschen andere Formen der Geburt, der Erziehung und der Medizin einfordern. Was sich nicht von oben entwickelt, kann von unten eingeklagt werden. Eine solche Einstellung bedeutet an sich schon Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse: wenn der einzelne mehr Verantwortung für das Leben in der Gemeinschaft übernimmt.

Im übrigen halte ich eine "Psychische Revolution" für unumgänglich, wenn wir überleben wollen. Ich sehe die großen globalen Probleme der Menschheit auch als Folge psychischer Fehlentwicklungen, die als Massenphänomen auftreten. Und ohne psychische Veränderungen in einzelnen Menschen wird es auch keine wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen geben. Es können bestenfalls die äußeren Erscheinungen in einer Gesellschaft sich verändern, aber die inneren Strukturen, die das Zusammen­leben bestimmen, bleiben letztlich unverändert. Und es ist schon längst kein Geheimnis mehr, daß die soziale Marktwirtschaft noch viel stärker die natürlichen Bedürfnisse der Menschen verletzt.

Die besondere Tragik sehe ich darin, daß über dieses Wissen bereits viele Menschen verfügen und auch das Interesse an entsprechenden Veränderungen gewachsen ist, und dennoch wird nicht wirklich innegehalten und es kommt nicht zu wirklichen Veränderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung.

Aus der Psychotherapie wissen wir, daß leider die meisten Menschen erst dann zur Therapie kommen, wenn es ihnen sehr schlecht geht, wenn sie in einer tiefen Krise stecken. Wenn wir diese Erfahrung auf gesellschaftliche Verhältnisse anwenden, dann ist die Prognose sehr düster. Dann brauchen wir vermutlich erst eine große Katastrophe, wie sie sich seit langem vor allem im ökologischen Desaster ankündigt, aber auch in der zunehmenden Aufspaltung der Welt in arme und reiche Länder mit der Gefahr riesiger Völkerwanderungen — einfach aus der Not heraus — und im Moment natürlich in der wachsenden Kriegsgefahr an neuen Fronten, bis wir Menschen uns ernsthaft hinsetzen und nach neuen gesellschaftlichen Konzepten unseres Lebens forschen und nicht mehr haltbare Ideologien von Wohlstand, Wachstum wirklich aufgeben.

Es wäre schon ein riesiger Gewinn, wenn wir begreifen könnten, daß ein geringerer äußerer Wohlstand sehr wohl durch mehr innere Zufriedenheit aufgewogen werden kann.

 

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