1. Die Linke angesichts
der Konterrevolution
§ 1
7
-23Die westliche Welt hat eine neue Entwicklungsstufe erreicht: die Verteidigung des kapitalistischen Systems verlangt heute die Organisierung der Konterrevolution innerhalb wie außerhalb des eigenen Bereichs. In ihren extremen Erscheinungsformen setzt diese Konterrevolution die Greueltaten des Nazi-Regimes fort.
In Indochina, Indonesien, dem Kongo, in Nigeria, Pakistan und dem Sudan wurden entsetzliche Massaker entfesselt, die sich gegen alles richteten, was »kommunistisch« genannt wird oder gegen die den imperialistischen Ländern dienstbaren Regierungen revoltiert. In den lateinamerikanischen Ländern, in denen faschistische und Militär-Diktaturen herrschen, finden grausame Verfolgungen statt. In der ganzen Welt sind Folterungen zum alltäglichen Mittel bei »Verhören« geworden.
Die Qualen der Religionskriege leben auf der Höhe westlicher Zivilisation wieder auf, und ein ununterbrochener Strom von Waffen ergießt sich aus den reichen Ländern in die armen und hilft, die Unterdrückung der nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen zu verewigen. Wo der Widerstand der Armen gebrochen ist, führen Studenten den Kampf gegen die Soldateska und die Polizei; Hunderte von Studenten wurden niedergemetzelt, durch Bomben getötet und ins Gefängnis geworfen. Die Erschießung von dreihundert durch die Straßen von Mexico-City gejagten Studenten bildete den Auftakt der Olympischen Spiele.
In den Vereinigten Staaten stehen die Studenten noch immer an der vordersten Front des radikalen Protests: die Erschießungen in Jackson und Kent sind Zeugnis ihrer historischen Rolle. Schwarze Militante bezahlten ihre kritische Einstellung mit dem Leben: Malcolm X, Martin Luther King, Fred Hampton, George Jackson. Die neue Zusammensetzung des Obersten Bundesgerichts institutionalisiert das Vordringen der Reaktion.
Und die Ermordung der Kennedys zeigt, daß sogar Liberale ihres Lebens nicht sicher sein können, wenn sie als allzu liberal erscheinen.
Die Konterrevolution ist weitgehend präventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschließlich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müßte, und es steht auch keine bevor. Und doch schafft die Angst vor einer Revolution gemeinsame Interessen und verbindet verschiedene Stadien und Formen der Konterrevolution von der parlamentarischen Demokratie über den Polizeistaat bis hin zur offenen Diktatur.
Der Kapitalismus reorganisiert sich, um der Gefahr einer Revolution zu begegnen, welche die radikalste aller historischen Revolutionen wäre: die erste wahrhaft weltgeschichtliche Revolution.
Der Sturz der kapitalistischen Übermacht würde den Zusammenbruch der Militärdiktaturen in der Dritten Welt herbeiführen, die völlig von dieser Übermacht abhängen. Sie würden abgelöst nicht von einer nationalen »liberalen« Bourgeoisie (die in den meisten dieser Länder die neokolonialen Abhängigkeiten von der ausländischen Macht akzeptiert), sondern von einer Regierung der Befreiungsbewegungen, die ihre Aufgabe darin sehen, längst überfällige radikale soziale und ökonomische Veränderungen herbeizuführen.
Die chinesische und die kubanische Revolution könnten sich endlich unbehindert entwickeln — befreit von der erdrückenden Blockade und der ebenso erdrückenden Notwendigkeit, einen immer kostspieligeren Verteidigungsapparat zu unterhalten. Könnte in einem solchen Falle die sowjetisch bestimmte Welt lange immun bleiben oder eine solche Revolution langfristig »eindämmen«? Außerdem wäre die Revolution in den kapitalistischen Ländern selbst qualitativ verschieden von ihren mißglückten Vorgängerinnen.
8
Diese Differenz fiele infolge der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus verschieden aus. In ihren fortgeschrittensten Tendenzen könnte diese Revolution das repressive Kontinuum durchbrechen, das bis heute den sozialistischen Aufbau wettbewerbsmäßig an den kapitalistischen Fortschritt kettet. Ohne diese mörderische Konkurrenz könnte der Sozialismus die Fetischisierung der »Produktivkräfte« überwinden. Er könnte die Unterordnung des Menschen unter seine Arbeitsinstrumente allmählich verringern, die Produktion mit dem Ziel, die entfremdete Arbeit abzuschaffen, neu organisieren und auf den verschwenderischen und versklavenden Komfort der kapitalistischen Konsumgesellschaft verzichten.
Nicht länger dazu verdammt, sich im Kampf ums Dasein durch Aggressivität und Unterdrückung zu behaupten, wären die Individuen endlich imstande, eine technische und natürliche Umwelt zu schaffen, in der nicht länger Gewalt, Häßlichkeit, Beschränktheit und Brutalität dominierten.
Hinter diesen vertrauten Zügen eines noch ausstehenden Sozialismus steht die Idee des Sozialismus selbst als einer qualitativ anderen Totalität. Das sozialistische Universum ist zugleich ein moralisches und ästhetisches Universum: der dialektische Materialismus enthält den Idealismus als Element sowohl der Theorie als auch der Praxis. Die herrschenden materiellen Bedürfnisse und Befriedigungen werden geprägt — und kontrolliert — durch die Erfordernisse der Ausbeutung.
Der Sozialismus muß die Menge der Güter und Dienstleistungen vergrößern, um die Armut abzuschaffen; gleichzeitig aber muß die sozialistische Produktion auch die Qualität des Daseins — die Bedürfnisse und Befriedigungen selbst — verändern. Moralische, psychologische, ästhetische und intellektuelle Fähigkeiten, die heute — sofern sie sich überhaupt entfalten — einem kulturellen Bereich zugewiesen werden, der vom materiellen Dasein getrennt und abgehoben ist, würden dann zu wesentlichen Faktoren der materiellen Produktion selbst.
9
Daß diese integrale Idee des Sozialismus heute maßgebend wird für die Theorie und Praxis der radikalen Linken, ist die historische Antwort auf die gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus. Das von Marx für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft vorausgesetzte Produktionsniveau ist in den technisch fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern längst erreicht, und eben diese Errungenschaft (die »Konsumgesellschaft«) dient dazu, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufrechtzuerhalten, sich der Unterstützung der Bevölkerung zu vergewissern und die rationale Grundlage des Sozialismus zu diskreditieren.
Natürlich war es dem Kapitalismus niemals möglich und wird ihm auch niemals möglich sein, seine Produktionsverhältnisse in Einklang mit seiner technischen Kapazität zu bringen; eine Mechanisierung, die es zunehmend erlaubte, menschliche Arbeitskraft dem materiellen Produktionsprozeß zu entziehen, würde schließlich das Ende des Systems bedeuten.1 Aber der Kapitalismus kann die Produktivität der Arbeit steigern bei gleichzeitiger Vergrößerung der Abhängigkeit der Bevölkerung. Das Gesetz des kapitalistischen Fortschritts liegt in der Gleichung: technischer Fortschritt = wachsender gesellschaftlicher Reichtum (wachsendes Bruttosozialprodukt) = größere Knechtschaft. Die Ausbeutung rechtfertigt sich damit, daß die Warenwelt und das Angebot an Dienstleistungen sich ständig vermehren — die Opfer gehören zu den laufenden Unkosten, zu den »Unfällen« auf dem Weg zum guten Leben.
So ist es kein Wunder, daß dort, wo die kapitalistische Technostruktur noch einen relativ hohen Lebensstandard und eine gegen öffentliche Kontrolle faktisch immune Machtstruktur ermöglicht, die Bevölkerung dem Sozialismus interesselos, wenn nicht gar feindlich gegenübersteht.
1) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 593.
10
In den Vereinigten Staaten, wo sich »das Volk« in seiner großen Mehrheit aus der Klasse der »blue collar«-Arbeiter zusammensetzt, richtet sich diese Feindseligkeit gleichermaßen gegen die Alte wie die Neue Linke; in Frankreich und in Italien, wo die marxistische Tradition der Arbeiterbewegung noch lebendig ist, ist der größere Teil der Arbeiterklasse der Kommunistischen Partei oder den Gewerkschaften verbunden. Ist das nur auf die schlechten Lebensbedingungen dieser Klasse zurückzuführen, oder auch auf die kommunistische Politik mit ihrem demokratisch-parlamentarischen Minimalprogramm, das einen (relativ) friedlichen Übergang zum Sozialismus verspricht? Wie dem auch sei, diese Politik verheißt der Arbeiterklasse eine beträchtliche Verbesserung ihrer gegenwärtigen Lage — um den Preis, daß die Aussicht auf Befreiung sich verringert.
Nicht nur die Orientierung an der UdSSR, sondern bereits die Prinzipien dieser aufrechterhaltenen Minimalstrategie selbst ebnen den Unterschied zwischen der etablierten und der neuen Gesellschaft ein: der Sozialismus erscheint nicht mehr als die bestimmte Negation des Kapitalismus. Konsequenterweise lehnt diese Politik die revolutionäre Strategie der Neuen Linken ab und muß sie ablehnen, eine Strategie, die auf einem Begriff von Sozialismus beruht, der den Bruch — und zwar von Anbeginn — mit dem Kontinuum der Abhängigkeit beinhaltet: das Entstehen der Selbstbestimmung als Prinzip des Umbaus der Gesellschaft. Aber diese Ziele und diese radikale Strategie sind auf kleine Gruppen beschränkt, die eher mittelständisch als proletarisch sind, während ein großer Teil der Arbeiterklasse zu einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist.
Zusammenfassend kann man sagen:
Der höchsten Stufe der kapitalistischen Entwicklung entspricht in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ein Tiefstand revolutionären Potentials. Das ist durchaus bekannt und brauchte nicht weiter diskutiert zu werden, wenn sich hinter dieser (allerdings sehr realen) Erscheinung nicht eine ganz anders geartete Realität verbärge.
Die innere Dynamik des Kapitalismus verändert mit der Struktur des Kapitalismus auch die der Revolution: weit davon entfernt, die potentielle Massenbasis für eine Revolution zu schmälern, verbreitet sie sie vielmehr und erheischt das Wiederaufleben der radikalen an Stelle der minimalen Ziele des Sozialismus.
Eine angemessene Interpretation des paradoxen Verhältnisses zwischen dem zerstörerischen Wachstum des Kapitalismus und dem (offensichtlichen und tatsächlichen) Niedergang des revolutionären Potentials würde eine gründliche Analyse der neoimperialistischen, globalen Reorganisation des Kapitalismus erfordern. Dazu gibt es bereits größere Beiträge.2 Ich werde hier versuchen, auf der Grundlage dieses Materials die allgemeinen Aussichten für eine radikale Veränderung in den Vereinigten Staaten zu diskutieren.
2) Cf. beispielsweise Paul A. Baran und Paul M. Sweezy, Monopoly Capita-lism, New York 1966 (dt.: Monopolkapital, Frankfurt/M. 1967); Joseph M. Gillman, Prosperity in Crisis, New York 1965; Gabriel Kolko, Wealtb and Power in America, New York 1962 (dt: Besitz und Macht- Sozialstruktur und Einkommensverteilung in den USA, Frankfurt/M. 1967); Harry Magdoff, The Age of Imperialism, New York 1969 (dt: Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt/M. 1970); G. William Domhoff, Who rules America?, Englewood Cliffs 1967. ---- »Bürgerliche« Ökonomen wie A. A. Berle und John Kenneth Galbraith stimmen, was die Fakten betrifft, mit den Marxisten in erstaunlichem Maß überein. Eine repräsentative Anthologie: Maurice Zeitlin (Hrsg.), American Society, Inc., Chicago 1970.
§ 2
12
Das Vorherrschen eines nicht-revolutionären, ja antirevolutionären Bewußtseins bei der Mehrheit der Arbeiterklasse springt in die Augen. Natürlich hat sich revolutionäres Bewußtsein immer nur in revolutionären Situationen gezeigt; aber im Unterschied zu früher steht heute die allgemeine Lage der Arbeiterklasse in der Gesellschaft der Entwicklung eines solchen Bewußtseins entgegen.
Die Integration des größten Teils der Arbeiterklasse in die kapitalistische Gesellschaft ist kein Oberflächenphänomen, sondern ist im Unterbau, in der politischen Ökonomie des Monopolkapitalismus begründet: die Arbeiterklasse der Metropole profitiert von den Überprofiten, von neokolonialer Ausbeutung, der Rüstung und den ungeheuren Subventionen der Regierung. Daß diese Klasse viel mehr als ihre Ketten zu verlieren hat, mag trivial sein, ist aber gleichwohl richtig.
Man macht es sich zu leicht, wenn man die These von der tendenziellen Integration der Arbeiterklasse in die fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaft damit zu entkräften sucht, daß diese Veränderung nur die Sphäre der Konsumtion betreffe und die »strukturelle Definition« des Proletariats unberührt lasse.3) Die Konsumsphäre ist eine Dimension des gesellschaftlichen Seins des Menschen und bestimmt als solche sein Bewußtsein, das wiederum ein Faktor ist, der sein Verhalten und seine Einstellung zur Arbeit wie zur Freizeit prägt.
Das politische Potential steigender Erwartungen ist wohlbekannt. Die Konsumsphäre mit ihren umfassenden gesellschaftlichen Aspekten von der Strukturanalyse auszuschließen, verstieße gegen das Prinzip des dialektischen Materialismus. Freilich ist die Integration der Arbeiterklasse in einem anderen Sinn ein Oberflächenphänomen: sie verbirgt die desintegrierenden, zentrifugalen Tendenzen, deren Erscheinungsform sie selbst ist. Diese zentrifugalen Tendenzen wirken nicht außerhalb des integrierten Bereichs, sondern gerade in ihm erzeugt die monopolistische Wirtschaft Bedingungen und Bedürfnisse, die den kapitalistischen Rahmen zu sprengen drohen.
3) Cf. u. a. Kritikern Ernest Mandel, Workers and Permanent Revolution, in: George Fisher (Hrsg.), The Revival of American Imperialism, New York 1971, S. 170 ff.
13
Ich möchte nur an die später zu erörternde klassische These erinnern, daß der überwältigende Reichtum des Kapitalismus seinen Zusammenbruch herbeiführen wird. Wird die Konsumgesellschaft seine letzte Stufe, sein Totengräber sein?
Es scheint kaum Argumente für eine bejahende Antwort auf diese Frage zu geben. Auf der höchsten Stufe des Kapitalismus erscheint die dringlichste aller Revolutionen als die allerunwahrscheinlichste — die dringlichste, weil das etablierte System sich nur noch durch die globale Zerstörung der Ressourcen, der Natur, des menschlichen Lebens erhalten kann, und weil die objektiven Bedingungen für seine Beendigung vorliegen.
Diese Bedingungen sind: ein die Abschaffung der Armut ermöglichender gesellschaftlicher Reichtum; das technische Wissen für eine diesem Ziel dienende systematische Entwicklung der Ressourcen; eine herrschende Klasse, die die Produktivkräfte vergeudet, hemmt und vernichtet; das zu einer Abnahme des Reservoirs der Ausbeutung führende Erstarken antikapitalistischer Kräfte in der Dritten Welt; eine riesige Arbeiterklasse, die, von der Kontrolle über die Produktionsmittel ausgeschlossen, einer kleinen parasitären, herrschenden Klasse gegenübersteht.
Aber zur gleichen Zeit kontrolliert das alle Dimensionen der Arbeit und Freizeit durchdringende Kapital die Bevölkerung vermittels der von ihm gelieferten Waren und Dienstleistungen sowie durch einen politischen, militärischen und Polizei-Apparat von erschreckender Effizienz. Die objektiven Bedingungen setzen sich nicht in revolutionäres Bewußtsein um; das vitale Bedürfnis nach Befreiung wird unterdrückt und bleibt ohnmächtig. Der Klassenkampf vollzieht sich in Formen »ökonomischen« Wettkampfs; Reformen werden nicht als Vorstufen zur Revolution betrachtet — der »subjektive Faktor« hinkt nach.
14
Es wäre jedoch falsch, diesen Widerstreit zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit der Revolution allein unter dem Aspekt einer Divergenz von subjektiven und objektiven Bedingungen zu interpretieren. Jene stimmen weitgehend mit diesen überein: das reformistische oder konformistische Bewußtsein entspricht der erreichten Stufe des Kapitalismus und seiner allgegenwärtigen Machtstruktur — ein Zustand, in dem politisches Bewußtsein und Revolte auf nicht-integrierte Minderheiten beschränkt sind, und zwar in der Arbeiterklasse (besonders in Frankreich und Italien) wie in den Mittelschichten. In den objektiven Bedingungen selber liegt die Lösung des Paradoxons der »unmöglichen« Revolution.
Die Restabilisierung des Kapitalismus und Neoimperialismus, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, ist noch nicht abgeschlossen — trotz Indochina, trotz der Inflation, der internationalen Währungskrise und wachsender Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten. Dank seiner Ökonomischen und militärischen Macht ist das System noch immer imstande, mit den sich verschärfenden Konflikten innerhalb und außerhalb seines Herrschaftsbereichs »fertig« zu werden. Gerade die beispiellose Leistungsfähigkeit des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts wird die Revolution des 20. Jahrhunderts hervorbringen — freilich eine Revolution, deren Basis, Strategie und Ziel sich von allen bisherigen Revolutionen, besonders von der russischen, fundamental unterscheiden werden. Deren Charakteristika waren die Führerschaft einer »ideologisch bewußten Avantgarde«, eine Massenpartei als ihr »Instrument« und die Proklamierung des »Kampfes um die Staatsmacht« als grundlegendes Ziel.
»Es ist kein Zufall, daß es für diese Art der Revolution im Westen kein Beispiel gibt. Hier hat das kapitalistische System nicht nur viele der Ziele erreicht, die in den unterentwickelten Ländern die treibende Kraft der modernen Revolutionen waren, sondern durch die konstante Steigerung des Einkommens, die Komplexität der Verteilungsmechanismen, die internationale Organisation der Ausbeutung ist es dem Kapitalismus auch gelungen, der Mehrheit der Bevölkerung eine Existenzmöglichkeit und häufig sogar eine partielle Lösung ihrer unmittelbaren Probleme anzubieten.«4
15
Die zunehmende Befriedigung auch von Bedürfnissen, die über das Lebensnotwendige hinausgehen, verändert auch die Züge der revolutionären Alternative, die nun den Aufbau einer Gesellschaftsordnung entwirft, die es vermag, »nicht nur mehr zu produzieren und diese Produkte gerechter zu verteilen, sondern auch in anderer Weise zu produzieren, andere Güter zu produzieren und den zwischenmenschlichen Beziehungen eine neue Form zu geben«.5)
Die im 18. und 19. Jahrhundert durch das Verhältnis von Kapital und Arbeit geschaffene Massenbasis existiert heute in den Metropolen des Monopolkapitals nicht mehr (und verändert sich allmählich auch in den rückständigen kapitalistischen Ländern); eine neue Basis ist im Entstehen, die eine Erweiterung und Transformation der historischen Basis infolge der Dynamik der Produktionsweise darstellt.
Auf der jüngsten Stufe der ökonomischen und politischen Konzentration werden die einzelnen kapitalistischen Unternehmen in allen Wirtschaftsbereichen den Erfordernissen des Gesamtkapitals untergeordnet. Diese Koordination vollzieht sich auf zwei eng miteinander verbundenen Ebenen: einerseits durch den Bedingungen monopolistischer Konkurrenz unterliegenden gewöhnlichen Wirtschaftsprozeß (wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals; Druck auf die Profitrate); andererseits durch »staatliches Management«.6
4) Lucio Magri, Parlement ou Conseils (1970), in: // Manifesto: Analyses et Theses..., hrsg. v. Rossana Rossanda, Paris 197 i, S. 332. 5) Ibid.
6) Cf. Seymour Melman, Pentagon Capitalism, New York 1970.
Der Begriff »staatliches Management« enthält allerdings eine zu starke Betonung der Unabhängigkeit des Staates vom Kapital.
16
Infolgedessen werden immer mehr Schichten des ehemals unabhängigen Mittelstandes unmittelbare Diener des Kapitals, die, ausgeschlossen von der Kontrolle über die Produktionsmittel, damit beschäftigt sind, Mehrwert zu schaffen und zu realisieren. Der »tertiäre Sektor« (Produktion von Dienstleistungen), für die Realisierung und Reproduktion des Kapitals seit langem unentbehrlich, stellt eine riesige Armee von Gehaltsempfängern. Gleichzeitig wird durch den zunehmend technologischen Charakter materieller Produktion die funktionelle Intelligenz in diesen Prozeß einbezogen. Die Basis der Ausbeutung erweitert sich so über die Fabriken und Geschäfte hinaus und umfaßt weit mehr Schichten als nur die Klasse der »blue collar«-Arbeiter.7)
Die kommunistische Strategie hat den entscheidenden Wandel in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse schon vor langem anerkannt. Die folgende Feststellung ist der Diskussion der Thesen für den
XIX. Kongreß der Kommunistischen Partei Frankreichs entnommen:7) Die Diskussion über die »neue Arbeiterklasse« wurde durch Serge Mallets Buch La Nouvelle classe ouvriere (1963) ausgelöst. Zur neueren Literatur über dieses Thema gehören J. M. Budish, The Changing Structure of the Working Class, New York 1964; Stanley Aronowitz, Does the United States Have a New Working Class?, in: The Revival of American Socialism, 1. c, S. 188 ff.; und Andre Gorz, Technique, Techniciens et Lutte des Classes, in: Les Temps Modernes, August-September 1971, S. 141 ff. Besonders wichtig ist Gorz' Unterscheidung zwischen den technisch-wissenschaftlichen Arbeitern, die an der Kontrolle über den Produktionsprozeß beteiligt sind und in der Regel faktisch zum Management gehören, und denjenigen, die dieser Hierarchie unterworfen sind. Cf. auch Herbert Gintis, The New Working Class and Revolutionary Youth, in: Socialist Revolution, San Francisco, Mai-Juni 1970. — Mit der Literatur über die Neue Linke und die gegenwärtige Phase des Kapitalismus könnte man bereits eine Bibliothek füllen. Ich möchte nur ein Buch erwähnen, das meiner Ansicht nach das klarste, ehrlichste, kritischste ist und von zwei jungen Aktivisten geschrieben wurde: A Disrupted History: The New Left and the New Capitalism, New York 1971.
17
»[-..] die Kommunistische Partei hat niemals die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse mit der Ausübung körperlicher Arbeit verwechselt. [...] Angesichts des gegenwärtigen technologischen Fortschritts und der wachsenden Zahl von Nicht-Handarbeitern wird es immer schwieriger, Hand- und Kopfarbeit voneinander zu trennen, obwohl die kapitalistische Produktionsweise diese Trennung aufrechtzuerhalten sucht.«
Weiter heißt es, der Marxsche Begriff des »Gesamtarbeiters« sei nicht identisch mit dem der traditionellen (Lohn empfangenden) Arbeiterklasse: »Der <Gesamtarbeiter> schließt Gehaltsempfänger ein, die keine Arbeiter sind, wie Forscher, Ingenieure, Manager etc.« Die heutige Arbeiterklasse ist viel umfassender: sie besteht »nicht nur aus den Proletariern in der Landwirtschaft, den Fabriken, Bergwerken und auf den Baustellen, die den Kern dieser Klasse bilden, sondern auch aus der Gesamtheit jener Arbeiter, die direkt an der Vorbereitung und am Funktionieren der materiellen Produktion beteiligt sind«. Bei dieser Transformation der Arbeiterklasse werden ihr nicht nur neue Schichten von Gehaltsempfängern »integriert«, sondern es nehmen auch »Beschäftigungen, die nicht zum Sektor der materiellen Produktion gehörten, produktiven Charakter an«.8)
»Die Macht des Monopols in der Gesellschaft von heute [artikuliert sich] nicht in erster Linie im Arbeitsverhältnis, sondern außerhalb der Fabrik, auf dem Markt, aber auch in allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. [...] Der Monopolkapitalismus [findet] seine Opfer nicht allein unter den von ihm Abhängigen [...], so daß jeder von uns zu irgendeinem Zeitpunkt in das Netz der kapitalistischen Beziehungen gerät, während es nicht ausgeschlossen ist, daß die unmittelbar von ihm Abhängigen mitunter >weni-ger Opfer<, manchmal sogar Nutznießer oder gar potentielle Verbündete sein können.«9)
8) France Nouvelle, Hebdomadaire Central du Parti Communiste Francais, 28. Jan. 1970.
9) Lelio Basso, Zur Theorie des politischen Konflikts, Frankfurt 1969, S. 10, 13 f. (Hervorhebungen von mir), geschrieben 1962.
18
Der erweiterte Ausbeutungsbereich und das Bedürfnis, immer neue Bevölkerungsschichten in den Metropolen und in der Dritten Welt zu integrieren, fördern die herrschende Tendenz des Monopolkapitalismus: die Organisation der gesamten Gesellschaft in seinem Interesse und nach seinem Bild.
Der leitenden und organisierenden Kraft des »Gesamtkapitals« steht die Produktivkraft des »Gesamtarbeiters«10 gegenüber: der einzelne Arbeiter wird zum bloßen Fragment oder Atom in der gleichgeschalteten Masse der Bevölkerung, die, ausgeschlossen von der Kontrolle über die Produktionsmittel, den gesamten Mehrwert erzeugt. In dieser Masse spielt die Intelligenz eine entscheidende Rolle nicht nur im materiellen Produktionsprozeß, sondern auch bei der stets wissenschaftlicher werdenden Manipulation und Reglementierung des Konsum- und »produktiven« Verhaltens.
Der Prozeß der Realisierung des Kapitals bezieht immer größere Bevölkerungsschichten ein — er erstreckt sich weit über die »blue collar«-Arbeiter. Marx schon sah die strukturellen Veränderungen voraus, die die Basis der Ausbeutung durch das Einbeziehen ehemals »unproduktiver« Arbeiten und Dienste erweitern:
»Da mit der Entwicklung der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital oder der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise nicht der einzelne Arbeiter, sondern mehr und mehr ein sozial kombiniertes Arbeitsvermögen der wirkliche Funktionär des Gesamtprozesses wird, und die verschiedenen Arbeitsvermögen, die konkurrieren, und die gesamte produktive Maschine bilden, in sehr verschiedener Weise an dem unmittelbaren Prozeß der Waren- oder besser hier Produktbildung teilnehmen, der eine mehr mit der Hand, der andere mehr mit dem Kopf arbeitet, der eine als manager, engineer, Technolog etc., der andere als overlooker, der dritte als direkter Handarbeiter,
10) Cf. Karl Marx, Das Kapital, 14. Kapitel, 2. Absatz.
19
oder gar bloß Handlanger, so werden mehr und mehr Funktionen von Arbeitsvermögen unter den unmittelbaren Begriff der produktiven Arbeit, direkt vom Kapital ausgebeuteter und seinem Verwertungs- und Produktionsprozeß überhaupt untergeordneter Arbeiter einrangiert. Betrachtet man den Gesamtarbeiter, aus dem das Atelier besteht, so verwirklicht sich materialiter seine kombinierte Tätigkeit unmittelbar in einem Gesamtprodukt, das zugleich eine Gesamtmasse von Waren ist, wobei es ganz gleichgültig, ob die Funktion des einzelnen Arbeiters, der nur ein Glied dieses Gesamtarbeiters, ferner oder näher der unmittelbaren Handarbeit steht. Dann aber: Die Tätigkeit dieses Gesamtarbeitsvermögens ist seine unmittelbare produktive Konsumtion durch das Kapital, d. h. also Selbstverwertungsprozeß des Kapitals, unmittelbare Produktion von Mehrwert.«11
Mit der inneren Dynamik des fortgeschrittenen Kapitalismus »erweitert sich daher notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters«12, damit der Arbeiterklasse selbst. Diese Veränderung ist nicht nur quantitativ; sie beeinflußt das ganze Universum des Kapitalismus.
Das erweiterte Universum von Ausbeutung bildet eine Totalität von Maschinen — in menschlicher, ökonomischer, politischer, militärischer und pädagogischer Hinsicht. Es wird von einer Hierarchie immer spezialisierterer »professioneller« Manager, Politiker und Generale beherrscht, die sich der Aufrechterhaltung und Erweiterung ihres jeweiligen Bereiches widmen, auf globaler Ebene zwar noch miteinander konkurrieren, dabei aber alle im Interesse des Gesamtkapitals der Nation handeln — der Nation als Kapital, als imperialistisches Kapital.
11) Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, frühere Version des 6. Kapitels des Kapital, Frankfurt/M. 1969, S. 65 f.
12) Das Kapital, Band 1, 14. Kapitel, 2. Absatz. Cf. auch Theorien über den Mehrwert, hrsg. v. Karl Kautsky, Stuttgart 1905, Bd. 1, S. 324 f.
20
Natürlich unterscheidet sich dieser Imperialismus von seinen Vorgängern: es steht mehr auf dem Spiel als unmittelbare und partikulare Wirtschaftsinteressen. Wenn die Sicherheit der Nation es heute erfordert, dort, wo einheimische herrschende Gruppen nicht gewillt oder imstande sind, Volksbefreiungsbewegungen zu vernichten, militärisch, ökonomisch und »technisch« zu intervenieren, so deshalb, weil sich das System nicht länger kraft seiner ökonomischen Mechanismen zu reproduzieren vermag. Diese Aufgabe stellt sich einem Staat, dem international eine militante Opposition »von unten« entgegentritt, die wiederum anfeuernd auf die Opposition in den Metropolen wirkt. Wenn das tödliche Spiel der Machtpolitik heute zur wirksamen Kooperation und Aufteilung der Einflußbereiche zwischen den staatssozialistischen und staatskapitalistischen Ländern führt, so begegnet diese Diplomatie der gemeinsamen Bedrohung von unten. »Unten« aber sind nicht nur die Verdammten dieser Erde, sondern auch die gebildeteren und privilegierteren menschlichen Adressaten der Kontrolle und Repression.
An der Basis der Pyramide herrscht Atomisierung. Diese verwandelt das ganze Individuum — Körper und Geist — in ein Instrument oder gar in den Teil eines Instruments: aktiv oder passiv, produktiv oder rezeptiv, in seiner Arbeits- wie Freizeit dient es dem System. Die technische Arbeitsteilung zerlegt den Menschen selbst in Teiloperationen und -funk-tionen, die von den Koordinatoren des kapitalistischen Prozesses koordiniert werden. Diese technologische Struktur der Ausbeutung organisiert ein riesiges Netz menschlicher Instrumente, die eine reiche Gesellschaft produzieren und aufrechterhalten. Denn wer nicht gerade zu den unbarmherzig unterdrückten Minderheiten gehört, profitiert von diesem Reichtum.
21/22
Das Kapital erzeugt heute für die Mehrheit der Bevölkerung in den Metropolen nicht so sehr materielle Not als gesteuerte Befriedigung materieller Bedürfnisse,13 wobei der ganze Mensch — seine Intelligenz und seine Sinne — zu einem Verwaltungsobjekt werden, darauf abgestimmt, nicht nur die Ziele, sondern auch die Werte und Verheißungen des Systems, seinen ideologischen Himmel, zu produzieren und zu reproduzieren.
13) Auf diesen Wandel weist der Anstieg des »zur freien Verfügung stehenden Einkommens« hin, d. h. des Einkommens, das nicht für die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse benötigt wird. (In seiner Ausgabe vom Dezember 1967 veranschlagte das Magazin Fortune diesen Anteil auf ein Drittel aller privaten Einkommen.) Cf. David Gilberts für einen Vortrag im Wisconsin Draft Resistance Union Institute angefertigte Arbeit Consumption: Domestic Impenalism. Gleichzeitig nimmt die Armut in den Vereinigten Staaten zu und signalisiert damit im Jahre 1970 das Ende einer zehnjährigen Entwicklungstendenz (Bureau of the Census, Bericht in der New York Times vom 8. Mai 1971).
Hinter dem technologischen Schleier, hinter dem politischen Schleier der Demokratie zeigt sich die Realität: die universale Knechtschaft, der Verlust menschlicher Würde bei vorfabrizierter Wahlfreiheit. Und die Machtstruktur tritt nicht mehr »sublimiert« auf im Stil einer liberalistischen Kultur, nicht einmal mehr heuchlerisch (so daß sie zumindest die »Förmlichkeiten«, die Hülse von Würde, beibehielte), sondern brutal, indem sie allen Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit über Bord wirft.
Wahr und falsch, gut und böse werden unverhüllt zu Kategorien der politischen Ökonomie; sie definieren den Marktwert von Menschen und Sachen. Die Warenform wird universell, während gleichzeitig, mit dem Ende freien Wettbewerbs, die »inhärente« Qualität der Waren aufhört, ein entscheidender Faktor ihrer Verkäuflichkeit zu sein. Ein Präsident wird verkauft wie ein Auto, und es erscheint hoffnungslos altmodisch, seine politischen Äußerungen nach ihrer Wahrheit oder Falschheit zu beurteilen — was ihnen Wert verleiht, ist ihre Qualität, Stimmen zu erhalten oder zu gewinnen.
Allerdings muß der Präsident fähig sein, die Funktion zu erfüllen, für die er gekauft wird: er muß imstande sein, den üblichen Gang der Geschäfte sicherzustellen. Genauso wird die Qualität eines Autos durch die Profitspanne bestimmt (und begrenzt); auch das Auto muß die Funktion erfüllen, für die es gekauft wird, aber diese »technische« Qualität wird »überlagert« von den Qualitäten, die der Verkaufspolitik dienen (hohe PS-Zahl, minderwertiger Komfort, protziges, aber schlechtes Material etc.). Indem die Warenform universal wird und auch Sektoren der materiellen und »höheren« Kultur erfaßt, die sich früher relativer Unabhängigkeit erfreuten, spitzt sich der wesentliche Widerspruch des Kapitalismus aufs äußerste zu: dem Kapital steht jetzt die gesamte Masse der arbeitenden Bevölkerung gegenüber.
Innerhalb dieser abhängigen Masse sorgt die Hierarchie der Positionen im Produktionsprozeß für ständige Klassenkonflikte — für unmittelbare Interessenkonflikte etwa zwischen den hochbezahlten Technikern, Experten und sonstigen Spezialisten einerseits und den unter der Anwendung der Technologie leidenden Arbeitern andererseits; zwischen der organisierten Arbeiterschaft auf der einen Seite und dem Subproletariat der Minderheiten auf der anderen Seite. Die »unproduktive« Intelligenz erfreut sich größerer Bewegungsfreiheit als die produktiven Arbeiter.
Nichtsdestoweniger bestimmt der Ausschluß von der Kontrolle über die Produktionsmittel die gemeinsame objektive Lage aller Lohn- und Gehaltsempfänger - eine objektive Lage, die die Bedingung ihrer Ausbeutung ist. Sie alle reproduzieren das Kapital. Die auf einen größeren Teil der Bevölkerung erweiterte Ausbeutung bei gleichzeitiger Anhebung des Lebensstandards — das ist die Realität, die sich hinter der Fassade der Konsumgesellschaft verbirgt. Diese Realität ist die einigende Kraft, die — hinter dem Rücken der Individuen — die sehr verschiedenen und miteinander kämpfenden Klassen der abhängigen Bevölkerung integriert.
23
#
Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte