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1. «Zur Ätiologie der Hysterie»

 

Und dies, nachdem man ihnen die Lösung 
eines mehrtausendjährigen Problems, 
ein caput Nili aufgezeigt hat!

Sigmund Freud, 1896

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Am Abend des 21. April 1896 hielt Sigmund Freud einen Vortrag mit dem Titel «Zur Ätiologie der Hysterie»1) vor seinen Kollegen vom Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Er war sich darüber im klaren, daß er Aufsehen erregen würde, daß er «von jetzt ab zu denen gehörte, die <am Schlaf der Welt gerührt haben>, nach Hebbels Ausdruck» (G. W. X, S. 59 f.).2)

In seinem Vortrag entwickelte er eine neue Theorie seelischer Erkrankungen. Der Titel bezieht sich auf diese Theorie, derzufolge Neurosen durch frühe sexuelle Traumen verursacht werden, die Freud «infantile Sexualszenen» (G.W. I, S. 453) oder «Koitus im Kindesalter» (G. W. I, S. 444) nennt. Später bezeichnete man sie als «Verführungstheorie» und meinte damit vor allem die Auffassung, daß diese frühen Traumen wirklich erlebt, also keine Phantasien sind, und daß sie eine dauerhafte schädliche Wirkung auf das spätere Leben der von ihnen betroffenen Kinder haben.

Freud verwendet verschiedene Begriffe für diese «infantilen Sexualszenen»: Vergewaltigung, Mißbrauch, Verführung, Angriff, Attentat (ein französischer Ausdruck, der Angriff, Vergehen bedeutet; attentats aux mceurs sind Sittlichkeitsvergehen und attentats á la pudeur unzüchtige Handlungen), Aggression und Traumen. 

Mit Ausnahme des unglücklich gewählten Wortes «Verführung», das eine Art Komplicenschaft des Kindes impliziert, bringen alle diese Wörter die in dem sexuellen Akt des Erwachsenen verkörperte, gegen das Kind gerichtete Gewalt


 

 

 

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