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7. Der Giftpegel steigt  

"Da ist ein Virus in unserem Blut"  

 

 

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Gegen Ende 1982 war es "Reaganomics" gelungen, die wirtschaftlichen Errungenschaften der vergangenen Jahre zunichte zu machen. Ihre Aufgabe war erfüllt. Der Vorsitzende des Stabs der Wirtschaftsberater des Präsidenten hatte geraten: "Steht da nicht herum, sondern macht was kaputt"; ihm war man aufs Wort gefolgt; der Wohlstand der Carter-Ära war abgebaut und die Opferung der 150.000 von der Rezession zum Tode Verurteilten verlief nach Plan.1

Unsere Fähigkeit, die wirtschaftliche Produktivität in weniger als zwei Jahren so gründlich zu verlangsamen, war erstaunlich. Ein Drittel von Amerikas Produktiv­kraft lag brach; mehr als 12 Millionen Menschen (10,8%) waren arbeitslos, die meisten von ihnen ohne Arbeits­losen­unter­stützung. 

Das reale Bruttosozialprodukt sank um 2% pro Jahr. Über zwei Millionen Menschen hatten keine Wohnung, sie lebten in Zelten und Autos am Straßenrand. Mehr als 40 Millionen Arbeiter hatten ihre Krankenversorgung verloren; die Staatsausgaben für die Kleinkinderernährung waren um 5 Milliarden Dollar gekürzt worden; statistisch wurde jedes 5. Kind dadurch in Armut gestürzt, die Kinder­sterblichkeit stieg besonders in den Gebieten, die von der Arbeits­losigkeit und den Kürzungen betroffen waren. 

Die Regierungsanleihen kletterten auf 200 Milliarden im Jahr, eine Rate, durch die sich die Staatsschuld bis zum Ende des Jahrzehnts verdreifachen würde. Die persönlichen Sparguthaben waren, entgegen den Voraussagen, eher gesunken; der Prozentsatz der Konkurse war höher als in den dreißiger Jahren. Das Außenhandelsdefizit stieg auf 4 Milliarden Dollar im Monat. Bankzusammenbrüche brachten Ängste vor einer globalen Wirtschaftskatastrophe ins Spiel.2

Reagan hatte die Aufgabe erfüllt, für die wir ihn angeheuert hatten. "Was wir bis jetzt getan haben, hat sich als sehr erfolgreich erwiesen", erklärte er dem Lande.3"Der Präsident scheint... seinen Job zu genießen", fand TIME. Und: "Er lebt mit sich selbst im Frieden." (James Baker, Chef des Beraterstabs im Weißen Haus)4

Die meisten Amerikaner fanden, ihr Führer habe gute Arbeit geleistet. In den Polls vor den Wahlen von 1982 befand eine Mehrheit der Wähler Reagans ökonom­ische Maßnahmen für "gut" und sogar "excellent". Ein anderer Poll führte ihn als "beliebtesten Amerikaner aller Zeiten", glatt vor Abraham Lincoln. 

Der Reporter, der arbeitslose Arbeiter auf ihrem Gang zur Wahlkabine befragte, erhielt zur Antwort: "Er hat ja gesagt, es würde weh tun. Es tut tatsächlich weh, aber der Schmerz wird sein Gutes haben." Und, noch positiver: "Diese Rezession war wirklich ein reinigendes Ding", — (mit Erleichterung).5

Ted Koppel, Reporter von <Night-Line> fragte am Weihnachtsabend einen Pfarrer, dessen Kirche Tausende von arbeitslosen Familien mit Nahrungsmitteln versorgt hatte, ob die Rezession nicht doch "eine gute Sache" wäre; habe sie nicht der Kirche geholfen, "ihre christlichen Ziele wiederzuentdecken?"6

Johnny Carson, Amerikas beliebtester Talkmaster, erfaßte die öffentliche Zustimmung für Reaganomics bestens im Eröffnungsmonolog seiner Show:

Die Antwort der ökonomischen Profis auf das Versagen von Reagans Programm, das Land wirtschaftlich wiederzubeleben, war zwiespältig. Die meisten verleugneten einfach die Realität und erklärten Reagans Maßnahmen für erfolgreich. "Nach nur zwei Jahren im Amt hat die Reaganadministration es geschafft, die finanzielle Stabilität der USA auf wunderbare Weise zu verbessern", schrieb einer dieser Experten.7

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Diejenigen, die es sich erlauben konnten, dem Ausmaß des Fehlschlags von Reagans Versuch, "ein starkes Wirtschaftswachstum und einen ausgeglichenen Haushalt" zu schaffen, ins Gesicht zu sehen, kamen zu dem Schluß, daß niemand außer Reagan selber die Reaganomics gewollt habe. Es sei einzig sein Fehler, meinten sie. Das ganze Land und der Kongreß seien gegen ihren Willen und nur durch seinen Charme dazu gebracht worden, dem Programm zuzustimmen. 

So sah es der Leitartikel des NEW YORK TIMES MAGAZINE vom 24. Okt. 1982:

Mr. Reagans schmerzloser Weg zur wirtschaftlichen Erholung hat sein Versprechen nicht wahrmachen können, gleichzeitig die Inflation zu senken, das Wachstum zu stabilisieren und den Haushalt auszugleichen.

Wie konnte die Nation in weniger als zwei Jahren von der Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit gleiten?... Wie war es möglich, daß Mr. Reagans Pläne überhaupt in die Tat umgesetzt wurden? ... Mr. Reagans engster Freund auf dem Capitol, Senator Laxalt, sagte dazu: "Hätte es eine geheime Abstimmung letztes Jahr im Senat gegeben, nicht mehr als 12 Stimmen für die Steuerkürzungen wären zusammengekommen."

Diese erstaunliche Äußerung des Senators blieb im Kabinettssaal unkommentiert, ist aber der Beachtung wohl wert. Bedenkt man alle Vorbehalte gegen das Programm, wie konnte es dann durchgehen?

In Dutzenden von Interviews mit der NEW YORK TIMES haben wichtige Personen der Verwaltung und des Kongresses eine Antwort auf diese Frage zu finden versucht... als roter Faden zieht sich das Bild vom insistierenden Charme des Präsidenten durch ihre Erklärungen — politisch/taktisch hervorragend, ideologisch halsstarrig; das Bild eines Mannes, der sich allen Unkenrufen widersetzte und die Öffentlichkeit wie die Regierung seinem Willen unterwarf.8

Eben das, wofür wir ihn angeheuert hatten — damit er alle Schuld für das Blut der Opfer auf sich nähme. Er allein hatte uns "seinem Willen unterworfen".

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Reagan spielte seinen Teil der Inszenierung sehr gut. Er "allein" hatte das wirtschaftliche Desaster verursacht, er allein konnte uns jetzt aus ihm retten. Da die Steuersenkungen und die Abschnürung des Geldzuflusses die Rezession verursacht hatten, konnten uns jetzt Steuererhöhungen und eine plötzliche Vermehrung der Geldmenge vor dem totalen Zusammenbruch bewahren. Beide Teile dieses Wunders waren leicht zu vollbringen. "Die Wahrheit ist", sagte Reagan, "daß wir hier ein kleines Wunder vollbracht haben. Wir haben Amerika von der Klippe des Unheils zurückgerissen."

 

Reagan errettet uns vom Rand des Abgrunds

 

Reagan wurde als unser Heiland gefeiert; innerhalb weniger Monate reagierte die Wirtschaft, wie schon oft in der Vergangenheit, mit Zeichen der Erholung. Die Bundesbank, die bis dahin den Geldumlauf verringert hatte, ließ jetzt die Geldmenge um 15 % im Jahr anwachsen, wodurch der Diskontsatz für Bankkredite bis zum Jahresende auf 8,5 % sank, den niedrigsten Stand seit 1978. Wir hatten entschieden, daß Amerika am Ende nicht eine Great Depression erleben sollte.

Reagans Entschluß, die Rezession zu beenden, wirkte sofort, an der Börse wie in der öffentlichen Stimmung des Landes. Cartoons Ende 1982 zeigen Leute, die in der Luft schwebten, ähnlich begeistert wie die Azteken beim Anblick ihrer Freudenfeuer, wenn das alte verschmutzte Herz aus dem Körper des Opfers herausgerissen und ein neues Herz an seiner Stelle eingepflanzt worden war. 

In der Tat war unsere nationale Phantasie von einem neuen Herzen so stark, daß wir, als Barney Clark von Herzchirur-

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detopia-2021

Diese Seiten fehlen.

Aber ich habe das Buch icht mehr.

Kann mir die jemand scannen und schicken?

 

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ließen einen Tag darauf einen Artikel in die WASHINGTON POST gelangen, in dem es hieß, Reagan allein sei für eine solche Idee zuständig, er persönlich habe sich »über die Einwände von Pentagonoffiziellen hinweggesetzt, als er sie verkündete«.59) 

Aber letztlich ging es um die Funktion des Verteidigungsschilds für unsere Gefühle, nicht um wissenschaftlich haltbare Daten. Auch wenn Wissenschaftler solche Ideen für wahnsinnig hielten, was sie taten.60) Auch wenn Experten wie George Rathjens vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) befanden, »der Präsident — und ich sage das äußerst ungern — hat in dieser Sache jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren«.61)  

Auch wenn Leute die extrem destabilisierende Funktion solcher »Planungen« betonten und befürchteten, wenn man so weitermache, werde »die Erde selbst bald nur noch eine kreisende gigantische Bombe sein«62) — laß die Leute reden. Die meisten Amerikaner waren zu diesem Zeitpunkt ebensowenig in Berührung mit der Realität wie Reagan selber. Wir brauchten diese Zauber-Bubble-Raumblasen-Phantasie, wenn wir uns auf einen Krieg einlassen wollten. Schließlich hatte Reagan seine »große Entscheidung«, den Plan für den Weltraumschutzschild anzukündigen, gleichzeitig getroffen mit jener anderen Entscheidung, sich dem Evil Empire zu widersetzen. Die defensive und die aggressive Phantasie waren aber unlöslich miteinander verknüpft.

 

 

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Diese drei Reden hatten einen elektrisierenden emotionalen Effekt. Reagans sinkende Polls schnellten in die Höhe. Schon zwei Tage später teilte er seinen Eindruck mit, »eine dunkle Wolke habe sich verzogen«,63 die über Amerika stand. THE GREAT REAGAN POISON ALERT war vorüber. Weiter vorkommende Vergiftungen wie die der 10 Menschen, die an Zomax, einem Beruhigungsmittel starben (hergestellt von derselben Firma, die auch Tylenol produzierte) wurden in die hinteren Seiten der Zeitungen verschoben.64

Kein Cartoonist mehr zeichnete die Regierung als Vergifter. Das »Gift in unserem Blutkreislauf« hatten wir abgeladen auf Mittelamerika. Zeigten Zeitungen im Februar so etwas wie einen giftigen Drachen im Leib der Erde, unter unseren Städten, gab es Giftschlangen im März nur noch in Verbindung mit Mittelamerika. Reagan hatte uns unseren Feind geliefert.

Schon bald nannte das Außenministerium sein Nicaragua-Ressort (the Nicaragua Desk) das »Schnappt-Euch-Nicaragua Ressort« (the »Get Nicaragua Desk«). Eine neue große Kollektivphantasie entwickelte sich, nach der eine »braune Horde« von Lateinamerikanern drauf und dran wären, in die USA zu fluten. Reagan sah »eine Flutwelle von Flüchtlingen« in genau derselben Phantasie, die Roosevelt hatte, als er fürchtete, Flüchtlinge aus Europa könnten wie »konzentriertes Gift« nach Amerika einsickern.65

Das Gift in Lateinamerika bekam von uns die verschiedensten Gestalten. Nicaragua war einmal »die Spitze der Fangarme des giftigen russischen Oktopus«, ein andermal »eine Giftspinne, die an unserem Bein hochkriecht« und Mittelamerika erschien als Landstrich, der »Menschen in die USA hereinblute«66 — obwohl die Immigration von Flüchtlingen aus diesen Gebieten nur ein Drittel so hoch war wie vor dem Beginn der Amtszeit Reagans. Das »Gift in unserem Blutkreislauf« kam nun letztlich doch nicht von den Homosexuellen unter uns, es kam aus Ländern, die unter uns liegen.

Für eine Weile erleichterte das im Ausland abgeladene Gift uns tatsächlich, wir fühlten uns besser. Wie der Patient von Frosch, der sich erleichtert fühlte, als er entdeckt hatte, daß seine vagen Vergiftungsgefühle auf eine tatsächliche weltweite Verschwörung zurückzuführen seien. Aber ebenso gewiß würden unsere paranoiden Ängste bald zurückkehren. Wahnhafte Lösungen brechen gewöhnlich zusammen, wenn die imaginierten »Feinde« in der Phantasie derart bedrohlich werden, daß sie schließlich vernichtet werden müssen. Wir würden bald konkrete Schritte gegen das Evil Empire unserer Wachträume einleiten müssen.

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