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Nachwort der Übersetzer und Herausgeber    

Von Theweleit und Freund

231-244

Als parallel zum Verlauf der Ereignisse geschriebenes Buch hat <Reagans Amerika> keinen Schluß, es bricht ab. Es bricht ab mit der Annahme, Reagans Amerika überfällt unter einem passenden Vorwand - rein aus Gründen der inneramerikanischen Gefühlslage, die der Präsident ausagiert -, Nicaragua — oder es hört auf, Reagans Amerika zu sein. 

Reagan würde nicht wiedergewählt, wenn er den Amerikanern zum Ende seiner Amtszeit keine kriegerische Aktion vom Typ Durchbruch zu neuer Stärke liefert; und ein anderes Aktionsfeld als Nicaragua ist dafür nicht entsprechend bereitet.

Oder doch? 
Eben haben in Los Angeles die Olympischen Spiele begonnen; auch ein Feld, auf dem sich die Fantasy Wars, von denen dieses Buch handelt, gewinnen und in Siege verwandeln lassen: ausreichend für Reagan, als starkes Haupt eines starken Amerika, behängt mit den 81 prognostizierten Goldmedaillen in die Schlußphase der amerikanischen Wahl gehen zu können? Carter, das wirkt noch nach, Olympiaboykotteur wegen Afghanistan, trug keine Lorbeeren aus dem Fernbleiben davon und ging unter in der fehlgeschlagenen Helikopteraktion in Teheran.

Die Frage zu klären, ob "Sieg bei Olympia" das Zeug hat, eine mächtige amerikanische Gruppenphantasie zu werden, eine major groupfantasy, wie es in der Sprache von deMause heißt, oder eine unbedeutende, marginale bleibt, eine minor fantasy, hieße, dies Buch an der Stelle weiterschreiben wollen, an der es aufhört.  

Das haben wir nicht vor, auch keine "kritische Würdigung" oder so was.

Lloyd deMause hat uns mitgeteilt, ein erklärendes Vor- oder Nachwort zu <Reagans Amerika> sei von ihm aus überflüssig. Alles was man zu den theoretischen Voraussetzungen seiner Verfahrensweise als "Psychohistoriker" wissen wolle oder müsse, könne man in seinem Buch Foundations of Psychohistory lesen. <Reagans Amerika> habe er mit Absicht von theoretischen Überlegungen freigehalten und es so einfach zu schreiben versucht, daß es im Prinzip von seiner zweijährigen Tochter verstanden werden könne — so schreibt er uns. Uns war's recht. 

Nur liegt <Grundlagen der Psychohistorie> immer noch nicht vor, sondern seit über einem Jahr fertig übersetzt auf einem Suhrkamp-Redaktionstisch. Warum es von da nicht, wie angekündigt, erscheint, teilt der Verlag nicht mit; ob es heraus sein wird, wenn dieses Buch herauskommt, wissen wir nicht; einige Bemerkungen zu einigen Begriffen des Buches, die sich auf die "Foundations" beziehen, sind daher wohl nötig, z.B. was eine Fantasy Analysis ist, wie sie im Text des Buches mehrmals vorkommt, oder eine group-fantasy; dazu ein paar Bemerkungen über deMauses Verfahrensweise als Zeitgeschichtler und über einige Besonderheiten der amerikanischen Presse und des Fernsehens, die hier nicht unbedingt bekannt sind.

Überhaupt scheint uns die Kenntnis dessen, was in Amerika vorgeht, in der BRD eher dünn gesät (ein bißchen so, als wolle man gar nicht wissen, was diesen Machtkoloß im Innern umtreibt). Einer der wichtigsten Gründe für uns, dies Buch übersetzen zu wollen, war dann auch, daß es eine Antwort versucht auf die Frage, wie es kommt, daß Amerika alle paar Jahre am Rand eines Krieges herummanövriert — Kriegsdrohungen, die von hier aus völlig sinnlos aussehen. Oder weiß uns jemand einen ökonomischen Grund, aus dem heraus die USA Nicaragua angreifen sollen müßten oder einen auch nur militärpolitisch halbwegs plausiblen?

DeMause gibt seine Antworten aus dem inneren Zustand Amerikas und der Amerikaner heraus.

*

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..... dies Buch bricht ab, weil deMauses Verfahren der Geschichtsschreibung keinen anderen Schluß zuläßt; es ist kein Schreiben von "danach". Der Autor ist sich seiner Beobachtungen, die er in den letzten zwei Jahrzehnten am Ablauf der amerikanischen Politik gemacht hat und seiner Aufzeichnungsmethoden dieser Politik derart sicher, daß er die zeitliche Distanz des Historikers zu seinem Objekt ganz aufgegeben hat; sein Buch über Reagans Amerika ist eine zu den Inszenierungen von Reagans Amerika gleichzeitig niedergeschriebene Chronik — eine Aufzeichnung dessen, was lief, während es lief — und so trafen die einzelnen Kapitel des Buches jeweils nach Abschluß der einzelnen Unternehmungen von Reagans Amerika bei den Übersetzern einReaganomics — künstliche Rezession und Opferung der Arbeitslosen — die Falklands — die Opferungen von Beirut und Grenada — der Abschuß des koreanischen Jumbo etc. 

Jedes Kapitel ist um ein solches Ereignis gebaut; nachträgliche Veränderungen sind kaum vorgenommen worden. Das Risiko von Irrtümern bei einem solchen Verfahren ist sehr hoch, außer für Leute, die gelernt haben, <die Medien> richtig zu lesen; dabei verlassen sich Lloyd deMause und seine Mitarbeiter am psychohistorischen Institut in New York nicht auf ihre <Intuition>, sondern haben spezielle Verfahren entwickelt.

 

Fantasy Analysis: analysiert die nicht offen oder direkt ausgesprochenen Anteile einer Rede, eines Schriftstücks. Jedes öffentlich gesprochene oder gedruckte Wort, jede Zeitungsmeldung, jede Präsidentenrede, spricht auf mindestens zwei Arten: einmal wird irgendein Ereignis gemeldet oder kommentiert (angesprochen wird das Bewußtsein des Lesers, seine registrierende Aufnahme von "Fakten"), aber die Meldung/der Artikel/die Rede enthalten auch eine Reihe von Wörtern, die, mehr oder weniger unbewußt, verschwiegene oder geheime Absichten des Redners/Schreibers durchblicken lassen, seine wirklicheren Wünsche verraten etc., und diese Wörter sprechen auch in bestimmter Weise zu den Gefühlen des Hörers/Lesers. Lloyd deMause schlägt vor, nur diese Wörter zu berücksichtigen, wenn man wissen will, was ein politischer Führer oder jemand anders, auf den sich die Gefühle größerer Menschenmengen im öffentlichen Raum richten, wirklich sagt. Er nennt diese Wörter Fantasy Words, die aus ihnen gebildete Nachricht die Fantasy Message und gibt 8 Regeln zur Wahrnehmung dieser Nachricht.

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Als Fantasy Words kommen in Frage:

1. Alle Metaphern, Bilder, Vergleiche. Auch "Grenzfälle" sind zu berücksichtigen, etwa ein Begriff wie "arms cut", der im Abrüstungskontext sagt, daß die Waffenmenge zu verringern sei, aber, je nach Gefühlskontext der Rede, das Abtrennen von Körperteilen, Armen, Beinen, mitschwingen lassen kann.

2. Alle Körperbilder, Körpersprache, sowie stark gefühlsbetonte Begriffe und Zustände. Zu beachten: Wörter wie Töten, Tod, Liebe, Haß erscheinen oft in Zusammenhängen, die ihre emotionale Bedeutung gleichzeitig verleugnen. Meetings, bei denen über einen Krieg entschieden wird, können in langweilig bürokratischer Sprache verlaufen. Eine Formulierung wie "die Beratung ist an einem toten Punkt", wäre darin eine Fantasy-Formulierung.

3. Alle Wiederholungen, ungewöhnliche, überflüssige, drauf zu geschenkte Formulierungen. Gewöhnlicher oder ungewöhnlicher Gebrauch hängt oft vom Kontext ab oder von den Sprechgewohn-heiten des Sprechenden.

4. Aller Symbolkram. Flaggen, nationale Embleme, Liederzeilen, Sprichwörtliches, familiäre Bilder etc.

5. Alle Verneinungen streichen. Ein Sprecher, der sagt, "ich will heute nicht über Krieg, Revolution, Tod, Furcht und Zerstörung sprechen", tut genau das, was er angeblich verneint. Sagt jemand, "ich will dich mit dieser Kritik nicht in die Pfanne hauen", versteht jeder, daß er jetzt in die Pfanne soll. Alle Verneinungen dieser Art gehören zu einem sprachlich-gesellschaftlichen Abwehrsystem, das die Aussagen kontrolliert und den erlaubten Formen der Kommunikation anpaßt, aber nicht zum Fantasy System, das durch die Abwehr hindurch wahrer spricht (wie Freud sagt: im Unbewußten gibt es keine Negativa).

6. Subjekt und Objekt eliminieren. Eins der Hauptmerkmale aller Projektionen ist die Subjekt/Objektvertauschung, die Auflösung klarer Personengrenzen. Wenn gesagt wird, "Die Russen durchbrechen die Abmachung", ist nur "durchbrechen" zu lesen; alle geäußerten Gefühle gehören zum Sprecher/Schreiber, ganz gleich, welches Subjekt er für sie einsetzt. Er hat etwas mit "durchbrechen" im Sinn.

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7. Alle Arten von Reaktionen einer Gruppe: in Lachen, Beifall, Zwischenrufen, angespannten Pausen, Unterbrechungen, Beiseitegesprochenem, Entspannungsmomenten bei Zusammenkünften etc. spricht die Fantasy Language einer Gruppe.

8. Die Häufigkeit einer bestimmten imagery ist zu beachten, auch alle längeren Perioden ohne fantasy material. Treten etwa über längere Zeit keine Bilder auf, deutet dies auf einen Stillstand der Gruppenentwicklung und darauf, daß momentan Phantasiematerial aus irgendeinem Grund niedergehalten/verdrängt wird.

(Geraffte Wiedergabe der Punkte nach "Foundations of Psychohistory", S. 194 f.)

*

Im wesentlichen sind das die Regeln, die Freud für die Lektüre von Träumen aufgestellt und vorgeschlagen hat. Die öffentliche Rede ist für deMause nicht anders zu lesen als Träume: eine Nation, Amerika, (alb)träumt sich in ihrer Presse. Ein Gedanke, der — seit im Anti-Ödipus gezeigt wurde, daß Träume weniger mit dem Unbewußten als mit der Inszenierung eines Gesellschaftstheaters zu tun haben — sehr an Plausibilität gewonnen hat.

Der Phantasiegehalt einer Rede / eines Textes macht oft nicht mehr als etwa 1 % des Umfangs aus; außer bei Schlagzeilen, die oft reine fantasy messages sind. Entsprechend werden sie betont: bei Zeitungen wie der New York Post z.B. ist es keine Seltenheit, daß eine einzige Schlagzeile fast die gesamte erste Seite bedeckt. Offene fantasy messages sind auch die Cartoons; Reagans Amerika kann auch wie ein analytischer Comic gelesen werden; uns ist es jedenfalls oft so ergangen, daß die Evidenz mancher Behauptungen, die der Text aufstellt, in den Bildern des Buches zu finden war, den Cartoons aus amerikanischen Zeitungen. 

Die amerikanischen Medien erzählen ihre Wahrheiten nicht anders als anderswo in der Form kalkulierter "Lügen", aber in einer bestimmten Weise vielleicht doch anders, näher an den laufenden Phantasien der Amerikaner. Mehr als andere werden sie durch die Medien sowohl ständig programmiert (fünf Stunden TV am Tag für den Durchschnittsamerikaner), als auch befragt und durchforscht in diesem ständigen Einfüttern von Headlines und Hammer-Cartoons und dem Abfragen in Polls und Mann-auf-der-Straße-Interviews, was der Kopf mit diesen Lines angefangen hat.

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Keine Presse irgendwo in der Welt kümmert sich derart ums Feedback wie die amerikanische — nirgendwo ist eine Presse in einem direkteren Gespräch mit denen, die sie lesen. Zeitungsmacher machen sie, aber die Grenze dessen, was einer Lesermehrheit zumutbar oder wünschenswert erscheint, ist eine ständige reale und berechnete Größe; Kauf- und Wahlverhalten werden als direkte Antworten auf redaktionelle Politiken verstanden; sinkende Auflagen signalisieren eine gewachsene Distanz zum Lesermeinungsmund und werden umgehend berücksichtigt (nicht im Nachhinein nach "Katastrophen" bei einem Meinungsforschungsinstitut in Auftrag gegeben), und der Grad der Fehler und Abweichung vom richtigen Kurs wird, wenn irgend möglich, in einer Prozentzahl angegeben. 

Amerikanische Medien haben Meßinstrumente für ihre Fehler (nicht so etwas, wie man bei WELT AM SONNTAG seit Jahren sehen kann: umständliche Austauschvorkehrungen des Chefredakteurs, der mit ausgedachten herausgeberlichen Richtlinien versehen ebenso im Dunkeln tappt wie sein Vorgänger und als einzig sichere Zukunftsaussicht seine Entlassungsmodalitäten vor sich auf dem Chefschreibtisch liegen hat).

 

Die amerikanische Presse, das zeigt das Buch von deMause, ist sich vollkommen bewußt, nicht etwa die "Wahrheit" über Ereignisse zu berichten, sondern eine kalkulierte Mischung herzustellen aus einem bestimmten Ereignis, das in der Regel auch irgendwo stattgefunden hat oder stattfinden soll, und einem Bündel von Probeangeboten für die Verarbeitung dieses "Ereignisses" beim Leser; so sind Presse und TV ein ständiges Testfeld dafür, was die Mächtigen des Weißen Hauses z.B. den Amerikanern zumuten können; dafür, was die Amerikaner in ihrer Mehrzahl von diesen Mächtigen verlangen, was sie durchgehen lassen, was sie bejubeln, was sie verdammen werden; welche Lüge welche Form haben muß, um durchzugehen; welche Lüge in welcher Form von einer Mehrheit der Leser und Zuschauer verlangt und gewünscht wird. 

Die Medien probieren dies aus in ihrer Formulierung und Anordnung von Headlines und Interviewspots und beobachten die Abnehmer in ihrem Kaufverhalten, Einschaltquoten, ihren Pollantworten, in der Veränderung ihrer Lebens-, Lese-, Liebes- oder Arbeitsgewohnheiten, bauen das in ihre Berichtstrategien ein und geben sich nicht die geringste Mühe, zu verbergen, daß der Stand des Adrenalinspiegels mehr zählt als irgendwelche "Wahrheiten". 

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Daß Nachrichten nicht die Folge eines Vorgangs sind, der "Wahrnehmen und Berichten" hieße, sondern daß sie gemacht, gemodelt, produziert, erfunden ebenso wie fallengelassen werden, brauchte keine "kritische Analyse" irgendeinem amerikanischen Zeitungsmenschen zu unterbreiten (wo sich hier ein Harry Valerien mit Händen und Füßen und beleidigter Miene im Fernsehen der Einsicht Paul Breitners erwehrt, nicht ein Bundestrainer, sondern das TV stelle die Nationalmannschaft auf; man berichte doch bloß und läßt das oberbayrische "r" rollen; so der Stand hier); daß das Quatsch ist, hat jeder Amerikaner mit der Muttermilch, Milch der Medien, eingesogen und das ist das Reale. Wer danach fragt, wie wahr das Reale sei, ist kein richtiger Amerikaner, das demonstriert das Buch von deMause nebenbei. 

 

In einem größeren Maße als es seinem Autor vielleicht bewußt ist, ist Reagans America ein Buch über die amerikanischen Medien; das ist von hier aus besser zu sehen, als von New York aus ..... von hier, wo der Zeitungskampf im Wallraffschen Graben festsitzt mit dem Kampfziel, der Bildzeitung beizubringen, daß sie die Wahrheit zu sagen hätte.

 

Es geht aber auch hier nicht um "Wahrheit", die bekanntlich dort, wo es sich um Geschriebenes handelt, nicht existiert; Schriftlichkeit und Wahrheit haben so viel miteinander zu tun wie etwa das Essen mit dem Reden vom Essen; es geht darum, mit welcher Art der Modellierung von Ereignissen ein Blatt vor seine Leser tritt (oder in sie), mit welchem Grad der Gewaltsamkeit es seine Schlagzeilen, Buchstabenkörper, Bilder, sein Layout in die Körper der Leser schwingt und mit welchem Instrumentarium zur Verarbeitung von Vorfällen des Lebens es die Leser zu versehen bereit ist, man kann auch sagen: mit welcher Programmierung zur Wirklichkeitsbildung. 

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BILD, um das nebenbei zu bemerken, ist nicht in erster Linie scheußlich wegen "rechter" oder anderer Ideologien, auch nicht wegen des hemmungslosen und manchmal mörderischen Verfahrens, alles, was gebraucht wird, unter Verwendung wirklicher Namen und Orte notfalls zu erfinden, sondern vor allem, weil dort ziemlich jedes Problem, das ein Leser im Lauf seines Alltags und seines Lebens tatsächlich hat, dort angesprochen wird: 

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aber eben nicht angesprochen, sondern angerissen und aufgerissen und dann liegengelassen und nie zu einem Ende geführt, sondern am nächsten Tag wieder aufgerissen und liegengelassen wird, so daß täglich Millionen von Lesern durch die Gegend rennen, die stimuliert, angemacht und aufgegeilt im Hilflosen sich finden, wenn sie mit BILD durch sind — exakt so funktioniert auch jeder andere schlechte Drogengebrauch. 

BILD ist ein Dealer, der mit schlechtem Stoff versorgt; der Dealer aber, der am meisten verspricht und für den Kurzrausch auch am meisten bietet. Keine andere Zeitung hat einen so hohen Anteil an Realitäten und Problemstellungen bei derart geringer Seitenzahl. Die ganze Welt kommt dort jeden Tag im Anriß vor — liest man sie einmal ganz durch (dauert ein bis zwei Stunden, je nach Lesetempo), gibt es nichts, was nicht irgendwie vorgekommen wäre; und was produziert das beim Leser? Ihm rauscht es gehörig im Kopf und in den Ohren und er/sie fürchtet, wahnsinnig zu werden, weil man nirgendwo mehr durchblickt, aber über "alles" so weit "informiert" ist, daß es dafür ausreicht, zu jedem Thema ein paar impulsive Äußerungen auszustoßen — und daraus, aus der Angst vor diesem Wirrwarr folgt die Bewegung "zurück zur Ordnung", aber auch zum Schlachtfest; denn das blutige Rauschen im Kopf verlangt irgendwann nach "äußeren Entsprechungen" im Realen, zum Beweis dafür, daß man richtig tickt.

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Eine der Voraussetzungen für die Funktion der amerikanischen Presse als einer Art Umschlagplatz für die Verlautbarungen der Mächtigen und das Gemurmel der Massen, die das hören und "beantworten", liegt im selbstverständlichen Verfahren, die offiziellen Äußerungen tatsächlich im Wortlaut in den Zeitungen erscheinen zu lassen. Jede größere amerikanische Zeitung druckt jede Präsidentenrede Wort für Wort ab, und was Reagan auf der Pressekonferenz vom 25. Jan. sagt, steht am 26. Jan. wörtlich in der Zeitung und die Frage des Reporters ebenfalls. 

Das ist nicht einfach ein Hang zur Quellengenauigkeit, durch den sich ein Teil des amerikanischen Journalismus auszeichnet, oder die berühmte Trennung von "Meldung" und "Kommentar", sondern auch ein Teil der Inszenierung, "der Präsident spricht mit dem Volk", er spricht auch zu Dir, und Du bist in der Lage mit ihm zu sprechen, Reporter fragen Dich und schreiben in die Zeitung, was Du gesagt hast, und sprechen mit dem Präsidenten in den Worten ihrer Leser, und der Präsident und seine Berater hören und lesen das und antworten wiederum.

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Es wird offenbar eine Menge getan von seiten der Presse wie der Regierung, dieser Inszenierung eines scheinbaren Dialogs zwischen dem Präsidenten und den Amerikanern wirkliches Gewicht zu geben. In seinen regelmäßigen Ansprachen an die Nation nimmt der Präsident Bezug auf die in der Presse gebündelten Fragen vieler Amerikaner, und die Presse denkt am nächsten Tag darüber nach, ob und inwieweit er den Ansprüchen der "Nation" genügt hat oder nicht. 

Die Medien sind auf diese Weise in einem erheblich stärkeren Maße an der direkten Formulierung der Regierungspolitik beteiligt, als man von hier aus, mit der deutschen Presse vor Augen, vermuten würde (deutsche Tageszeitungsleitartikler phantasieren sich zwar auch gern als Wallensteins Ratgeber, aber der wirkliche Einfluß fehlt, und so bleibts bei notorischer Erziehungsberatung). 

So sind Leitartikel einer amerikanischen großen Tageszeitung eben nicht bloß überwiegend Meinungskonglomerate und Vertretung bestimmter Parteiinteressen, sondern viel stärker Teil der offiziellen Politik wie Teil des Haupttrends im Denken vieler Amerikaner — das Gewicht, das deMause ihnen als einer realen Größe der amerikanischen Innenpolitik gibt, ist von daher zu verstehen.

Die "Phasen" einer Präsidentschaft — auch das hat deMause in den "Foundations of Psychohistory" genauer dargestellt — beziehen sich nicht etwa nur auf Reagan. Wie Honeymoon / Cracking (= das Bild bekommt RisseJ/ Collapse / Aufruhr-, Durchbruchsphase aufeinander folgen, hat deMause auch an Carter, Nixon und früheren amerikanischen Präsidenten ausgeführt und ist zu dem Schluß gekommen, daß es sich um einen Ablauf handelt, der auch für zukünftige Präsidentschaften mit geringen Schwankungen zu erwarten ist, der sowohl "passiert" als auch "inszeniert" wird — Presse und TV jedenfalls modellieren ihre Berichte und die Cartoonisten ihre Zeichnungen tatsächlich so, als hätten sie eine genaue Kenntnis der jeweiligen Phasenwechsel.

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Die folgende graphische Darstellung zeigt den Gallup Poll, der den Grad der Ablehnung eines Präsidenten durch die Bevölkerung während einer Präsidentschaftsdauer darstellt:

Die jeweils niedrigste Zustimmung zur Politik des Präsidenten ist auch lesbar als höchster <Giftpegel>stand im Präsidenten: Stand des Gifts, das die Bevölkerung in der Figur des Präsidenten abgeladen hat und von dem die Leute durch eine Aktion des Präsidenten befreit werden wollen, durch irgendeine Form einer blutigen Opferung möglichst. 

Am Schluß der Linie werden die beiden möglichen Lösungen für einen Präsidenten dargestellt: entweder er sucht nach einem äußeren "Feind", auf den er das Gift abladen und es dort durch einen Angriff vernichten kann, das bedeutet einen Krieg, oder er findet diese Möglichkeit nicht, dann muß er selber sterben ("regicidal" = Lösung durch Königsmord), d.h. zurücktreten bzw. durch unhaltbare Aktivitäten sich selbst ruinieren (Nixon) oder in einen aussichtslosen Wahlkampf gehen als lächerliche Figur, der alles schief geht (Carter, der sich geweigert hatte, zu kriegerisch zu sein) oder man wird Opfer eines Attentats. Andere Möglichkeiten für amerikanische Präsidenten am Schluß ihrer Amtszeit sieht Lloyd deMause nicht. Und an diesem Punkt sind wir sehr nahe einer möglichen Erklärung des Vorgangs, daß die USA im regelmäßigen Abstand am Rande eines Krieges oder einer größeren innenpolitischen Zusammenbruchskatastrophe sich befinden.

Eine Aufstellung von Robert Knight in der Zeitschrift "The Rebel" vom 27. Feb. 1984:

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Dies Taumeln Amerikas am Rand von Kriegen ohne "eigentlich" ersichtlichen Grund, das den Rest der Welt ebenso regelmäßig in Angst und Schrecken versetzt, hat uns — wir sagten es — an diesem Buch besonders interessiert. Wir kennen keins, das dies merkwürdige Verhalten der Weltmacht Nr. 1, die merkwürdige Lust der Amerikaner, sich die Art Präsidenten an die Spitze zu wählen, die sie eben wählen, verständlicher macht, als dieses. 

Wir haben es — beim Lesen wie Übersetzen — nicht genommen als Buch für oder gegen die USA, aber als Buch aus den USA, das in der Lage ist, unsere Sicht Amerikas in einer Reihe von Punkten wirklicher zu machen, auch die Wut, die so freigiebig über Amerika verteilt wird, wirklicher zu machen; der momentane "blinde Anti-Amerikanismus", wie etwa Wolfgang Pohrt ihn vehement bekämpft, ist er nicht ein bißchen reichlich komisch bei Leuten, die in all ihren Lebensveränderungsversuchen, Frauen-, Öko-, Friedens- u.a. Bewegungen, in all ihren "Befreit-Euch"-Programmen, Gedanken in den Köpfen wälzen, die zuvor fast ausnahmslos in amerikanischen Köpfen und Leibern gewälzt wurden, und daß diese Leute — "wir" — die USA am liebsten vom Erdball verschwunden sähen?

*

Entwickelt hat Lloyd deMause seine Beobachtung der 4 Phasen auf dem Hintergrund dessen, was als "Fluch des Oval Office" in Amerika bekannt geworden ist. 

"Seit der Zeit von Woodrow Wilson haben zehn Männer die Welt vom Oval Room des Weißen Hauses aus beherrscht. Drei starben während ihrer Amtszeit — Harding, Roosevelt und Kennedy. Vier waren von Versagen gekennzeichnet — Wilson, Hoover, Johnson und Nixon (inzwischen kann man Carter hinzufügen)... Nur zwei von ihnen, Coolidge und Eisenhower, verließen das Weiße Haus ohne einen psychologisch-politischen Zusammenbruch. Gibt es da etwa ein mythisches Geheimnis?" 

merkte Timothy Leary in Artikeln aus dem Folsom — Gefängnis und dem Bundesgefängnis San Diego 1973 und 1976 an; und stellte präzis die Fragen, auf die Lloyd deMause mit seinen Arbeiten eine Antwort versucht:

241


"Bei der Aufgabe, den Fluß der "Neuigkeiten" zu verpacken und zu präsentieren, braucht unsere TV-Zivilisation ein stehendes Kontingent an Nachrichtenmachern ... Wirklichkeitsspieler aus den Tages- und Abendsendungen, die unsere Existenz bestimmen. (...)

Viele haben sich gefragt, wieso die Untersuchungen über Watergate bis nach den Wahlen verschoben wurden. Es ging darum, eine Programm­überlastung zu verhindern! Das ist doch einleuchtend, oder? (...) Im wesentlichen sind die "Nachrichten" aber nichts anderes als eine moderne Version von römischen Spielen im Kolosseum und Gladiatorenkämpfen. 

Die amerikanische Bevölkerung scheint aus gewissen, eindeutig biblischen Gründen zu verlangen, daß ihre Führer, die politschen Helden, öffentlich geopfert werden.(...) Die amerikanische TV-Kultur hat dem ganzen noch einen altertümlichen Anstrich gegeben. In einem Ritual, das den Blutfesten der Azteken gleichkommt, scheinen die Amerikaner die öffentliche Opferung der höchsten Beamten zu fordern. Diese mysteriöse Entwicklung hat den Namen "Fluch des Oval Office" bekommen. (...)

Diese rituelle Zerstörung "des Führers" ist ein Thema, das eine eingehende Analyse verlangt. Die Serien von Gottesurteilen via Bildschirm, die der Märtyrer-Kandidat hinter sich bringen muß, um endlich zum Opferaltar im Oval Office zu gelangen, ist im Wahljahr eine ehrfurchteinflößende Sache."

So Timothy Leary aus dem San-Diego-Gefängnis 1976. (Neuropolitik, S. 49 u. 21 f.) 

 

Sehr erstaunlich die übereinstimmende Wahrnehmung bei Leary und deMause, es sei da etwas "Aztekisches" im Spiel; eine Beobachtung, die europäische Leser zunächst nur befremden wird; andererseits: wenn die Deutschen in den Dreißiger Jahren Nibelungen spielten und das nicht nur im Kino, warum dann die Amerikaner in den Achtziger nicht Azteken? Daß bei deMause noch ein paar weitere als "eindeutig biblische Gründe" dafür abfallen, das kann man im Text lesen.

Und ein Wort zu Begriffen wie "Psychoklasse" und "Gruppenphantasien". Der Begriff "Psychoklassen" hat einfach zur Voraussetzung, daß es verschiedene Stufen der Kinderbehandlung, des child rearing in der Geschichte gegeben hat und daß eine bestimmte Art von Verhalten der Welt gegenüber nicht erreicht werden kann von Leuten auf einer sehr reduzierten Stufe von child rearing. 

Um dem Leser eine Vorstellung zu geben, welche Auffassungen vom Geschichtsprozeß bei deMause hinter solchen Formulierungen stehen, wird es, denken wir, genügen, hier zwei Darstellungen aus den "Foundations" wiederzugeben: eine Aufstellung über die fünf Hauptstufen des child rearing, die es bis jetzt in der Geschichte gegeben hat und die damit verbundenen Haupt-Gruppenphantasien die Herrschaftsformen betreffend. Dazu eine Graphik, die die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Stufen zeigt. "Helping" wäre die neueste, erst im 20. Jhd. erschienene; daß eine neue Stufe eintritt, heißt nicht, daß die alte damit aufgehört hätte; sie existiert in bestimmten Gebieten und bei einzelnen Familien unverändert fort.

Ähnliche "Gruppenphantasien" haben vor allem Mitglieder einer gleichen oder ähnlichen Psychoklasse, die sich mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ökonomischen Klasse nicht zu decken braucht.

242-243

Jürgen Freund und Klaus Theweleit, Freiburg, Juli 1984

 

 

 

 

Tabelle:  Formen der Behandlung der Kinder in der Geschichte:

 

Psychoklasse und
Persönlichkeitstyp

Haupt-
Gruppen-
phantasie

Zentrales 
Reinigungsritual

Es-Projektion
der Gruppe

"Meine Seele wäre ruhig, wenn nur jeder..."

 

 

 

 

 

Kindesmörderisch
(Schizoid)

Verwandtschafts-
magie

Magische Opferungen an die Vorfahren befreien von kindesmörderischen Ängsten

In magische Objekte und Geister

...den Sippengesetzen gehorchte, die die Sexualität und die Gewalt regulieren.

 

 

 

 

 

Verlassen / Verstoßen
(Autistisch)

Feudale Hierarchie

Feudale Bindungen und Kirchenritual leugnen Verlassenheitsängste

In den ("meinen") HERRN

"...seinem Herrn und Gott eng verbunden wäre."

 

 

 

 

Ambivalent 
(Depressiv)

Paternalistischer Absolutismus

Gehorsam gegenüber einem idealen Vatermonarchen schützt vor einer ambivalenten Mutter

In die herrschenden Dynastien

"...einem König gehorchte, der ein guter Vater ist."

 

 

 

 

Eindringend /
Besitzergreifend
(Zwanghaft)

Rassistischer Nationalismus

Kontrolle der nationalen Grenzen und Kontrolle anderer Rassen kehrt das eindringliche Elterntum nach außen

In andere "Rassen" und Nationen

"...alles Schlechte aus unserer reinen Nation heraushalten würde."

 

 

 

 

 

Sozialisierend (Angst)

Erotischer Materialismus

Kauf von Gütern befreit von Kastrationsängsten

In höhere oder niedere ökonomische Klassen

"...wenn jeder unbegrenzt materielle Güter kaufen könnte."

Helping

 

 

 

 

 

Grafik: Entwicklung der Kinderbehandlung von Chr. Geburt bis heute 

 

 

 

243-244


(u2007:)   Die <Foundations> liegen ja nun vor.  Sogar in einer Neuübersetzung.  Hier noch die deutsch beschriftete Grafik aus "Hört Ihr die Kinder..." (History of Childhood) , Seite 85. 

 

 

 

 

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