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Die Zeitschrift <Kontinent> im Ozean allgemeiner Toleranz

5. November 1977

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Als wir vor etwas mehr als drei Jahren unser hinreißend aussichtsloses Werk begannen, nahmen damals viele von uns noch ganz naiv an, daß unsere westlichen Berufskollegen, die bekanntlich in den besten Traditionen des europäischen Pluralismus erzogen wurden, das Erscheinen der neuen Zeitschrift wennschon nicht mit Begeisterung, so doch mit angemessener demokratischer Loyalität begrüßen würden. 

Doch leider (vielleicht aber auch glücklicherweise) mußten wir uns diese Illusionen schon vor dem Erscheinen der ersten Kontinent-Nummer aus dem Kopf schlagen. Kaum war etwas von dem bevorstehenden Ereignis in der Presse verlautbart worden, als sich zwei Heilige Sebastianer der deutschen politischen Toleranz — Heinrich Böll und Günther Grass — im Frontalangriff auf uns stürzten. 

Ohne Scheu vor Leidenschaftlichkeit und heftiger Ausdrucksweise, was ihrer Meinung nach offenbar ein Privileg jedweden Pluralismus ist, bezichtigten sie die Gründer von <Kontinent> schon im vorhinein aller Todsünden und forderten uns sozusagen aus einer absolut unduldsamen Position heraus zu Toleranz auf.

Mit dem Erscheinen von <Kontinent> erwachte auch der moosüberwachsene schlummernde Stamm der russischen Schwarzhunderter zu neuem Leben. In ihren stümperhaft und flüchtig hingepfuschten Blättern und Blättchen würzten sie im Namen der »guten, alten russischen Kultur« ihre Philippiken gegen <Kontinent> mit geballten pogromhaften Anschuldigungen, und zwar bezichtigten sie die neue Zeitschrift des Empfangs »zionistischer Gelder«, des »Komplotts mit den Juden«, der »Handlangerschaft« des KGB usw., usf. 

Die »gute, alte russische Kultur« in Gestalt ehemaliger freiwilliger Sonder­kommandos der SS eilte mit der Diffamierungskeule in der Hand ihren westlichen Spießgesellen zu Hilfe.

Doch als die im höchsten Grade toleranten Vertreter des hiesigen politischen Spektrums sich in politischer Ekstase gegen unsere Zeitschrift vereinigten, wußten wir, daß wir auf dem richtigen Weg waren. 

Die darauf folgenden klischeehaften Ausfälle der sowjetischen Presse, der demokratischsten der Welt, bestärkten uns nur in dieser Überzeugung. Das übrige hing lediglich von unserem eigenen Mut, unserem Können und unserem gegenseitigen Einvernehmen ab.

 

Das Entstehen einer Zeitschrift, noch dazu unter den Bedingungen des Exils, der Emigration, der geographischen Isoliertheit ist ein äußerst mühsamer, um nicht zu sagen qualvoller Prozeß. 

Wir suchten unsere ideelle und geistige Einheit in scharfen Diskussionen, die manchmal fast bis zum Bruch führten, in den Gegensätzen der lebendigen Wirklichkeit, in Rat und Hilfe unserer Freunde in der Heimat. Und schließlich fanden wir sie, diese Einheit der demokratischen Vielfalt, und störten damit das Konzert des gut eingespielten Orchesters der toleranten Konspiration sowohl im Westen als auch im Osten. 

Unter den Mitgliedern unseres redaktionellen Beirates trifft man heute die nach ihren politischen Überzeugungen und ästhetischen Kriterien verschiedensten Vertreter des geistigen Widerstandes in Rußland und Osteuropa: Andrej Sacharow und Milovan Djilas, Wladimir Bukowskij und Mihajlo Mihajlov, Josif Brodskij und Zenko Barew, Alexander Galitsch und Nikolaus Lobkowicz, Viktor Nekrassow und Gustaw Herling-Grudzinski, Ernst Neiswestnyj und Jerzy Giedroyc, Naum Korshawin und Alexandra Tolstaja, Natalja Gorbanewskaja und Alexander Schmeman. An sechs der dreizehn bisher erschienenen Nummern beteiligte sich Alexander Solschenizyn mit der Veröffentlichung von Materialien aus seinem Archiv.

Praktisch neun Zehntel der namhaftesten Persönlichkeiten dieses Widerstandes haben sich um Kontinent versammelt. Und das ist der beste Beweis für unsere politische Toleranz.

Wirkliche Toleranz und wirkliches Verständnis für die Zeitschrift bewiesen im höchsten Grade jene westlichen Intellektuellen, die vom ersten Tag ihres Bestehens an rückhaltlos die Verantwortung für die Gestaltung und das Schicksal der Zeitschrift mit uns teilten. Der Ruf von Kontinent ist von nun an unlöslich mit den Namen von Raymond Aron, George Bailey, Saul Bellow, Nicholas Bethell, Cornelia Gerstenmaier, Eugene Ionesco, Arthur Koestler, Robert Conquest, Ignazio Silone, Viktor Sparre, Carl Gustaf Strohm und Pierre Emmanuel verknüpft.

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Heute wissen wir aus eigener bitterer Erfahrung, wieviel persönlichen Mut jeder von ihnen haben muß, um diese weitherzige Solidarität mit uns zu üben. Und deshalb kann ich, die Gelegenheit nützend, nicht umhin, ihnen im Namen von uns allen die aus tiefstem Herzen kommende Dankbarkeit auszusprechen und ihnen zu versichern, daß wir dies nie vergessen werden.

Die Fahrt von Kontinent im Meer der allgemeinen westlichen Toleranz dauert an. Die demokratischen Engel versuchen, in voller Übereinstimmung mit ihrer klassisch totalitären Psychologie, unsere Zeitschrift überall zu verfolgen oder zu sabotieren — in der Presse, im Druck und im Vertrieb. Da unsere Zeitschrift jedoch in ihrer täglichen praktischen Arbeit ein Beispiel für echte und konsequente gesellschaftliche Toleranz gab, gewann sie einen verläßlichen und sich immer mehr ausweitenden Kreis von Verbündeten, sowohl in unserer Heimat als auch im Ausland, und blickt nun zuversichtlich in die Zukunft.

Heute können wir uns den Worten Zdenek Mlynafs, einer führenden Persönlichkeit des »Prager Frühlings« anschließen, die er in einem Interview mit uns sagte: In Kontinent werde man

»im Laufe seiner Entwicklung die Basis für den Zusammenschluß unserer Kräfte finden können, die alle vorhandenen demokratisch-humanen Tendenzen bei voller Gleichberechtigung berücksichtigt, damit sie in der Verfolgung des gemeinsamen humanistischen und politischen Ziels miteinander existieren.«

Und wir sind davon überzeugt, daß wir letztlich solch eine Basis finden werden.

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»Realpolitik« oder

Mittel zur Selbsttäuschung

3. September 1978

 

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In unseren Tagen, da die sittliche Terminologie ihren Wirklichkeitsgehalt vollständig eingebüßt hat, ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, sie im Gespräch über die Beziehungen zwischen dem Westen und dem Osten einzusetzen. 

Über Freiheit, Gerechtigkeit und Mitleid sprechen heutzutage alle: hochbetagte Sammler von Kostbarkeiten, die aus russischen Museen geraubt wurden, und ihre wendigen Anwälte, die poetischen Apologeten Oradours*, die ideologisierten Mörder, Ölscheichs und totalitären Paranoiker der sogenannten Dritten Welt. Nunmehr, nach den humanistischen Standpauken eines Amin Dada, darf man erwarten, daß selbst die Krokodile in Kürze über die Menschenrechte reden werden.

Um so unhaltbarer ist eine moralische Annäherung an dieses Problem im Dialog mit Geschäftsleuten. In der Wirtschaft gelten Gesetze, welche die moralischen Kriterien gewissermaßen außer Kraft setzen. In der Tat, wie soll man die besorgniserregende konjunkturelle Lage, die drohende Inflation und das Ansteigen der Arbeitslosigkeit in den eigenen Ländern mit der Sorge um den leidenden Nächsten in der totalitären Welt vereinbaren? Deshalb möchte ich diese Frage jetzt nicht vom moralischen, sondern vom ganz pragmatischen Standpunkt angehen, das heißt, sie aus der Sicht unserer üblichen Gegner erörtern.

* Oradour-sur-Glane in Südfrankreich wurde am 10. Juni 1944 von deutschen SS-Truppen als Vergeltung für Partisanentätigkeit in Schutt und Asche gelegt. Der Großteil der Bevölkerung kam dabei ums Leben. Anm. d. Übers.


Läßt man einmal die rein demagogischen Argumente dieser Gegner außer acht, wie zum Beispiel die Sorge um das Wohlergehen des kleinen Mannes hinter dem »Eisernen Vorhang« (hier regt sich freilich einiges Befremden: Dienten etwa die Handschellen, die Wladimir Bukowskij angelegt waren, als man ihn aus der UdSSR ausflog, und die den Prägestempel »Made in USA« trugen, diesem »Wohlergehen«?) oder den Hinweis auf den friedlichen Charakter der zu liefernden Erzeugnisse (wieder stellt sich die Frage, inwieweit die Abhörgeräte, mit deren Hilfe die Verteilungskanäle des »Samisdat« festgestellt werden, was Aburteilungen und Strafgerichte über Dissidenten zur Folge hat, »friedlichen Zwecken dienen) oder die Herstellung einer intensiveren Verständigung zwischen beiden Systemen — läßt man dies alles außer acht, so gipfelt ihr Hauptargument darin, daß der Westen die Destabilisierung der totalitären Gemeinschaft nicht zulassen dürfe, denn dies könne zu einem weltweiten Wirtschaftschaos führen.

Dieses Argument ist zu ernst, als daß man es aus moralischem Maximalismus einfach vom Tisch wischen dürfte. 

Tatsächlich würde der Zusammenbruch der politisch erstarrten, doch wirtschaftlich gewachsenen Struktur, die sich auf die eine oder andere Weise in den Weltproduktionsumlauf eingegliedert hat, zweifellos zu einer Wirtschaftskatastrophe rund um den Erdball führen. Aus dieser unbestrittenen Prämisse, das sehen auch wir, erwuchs und verfestigte sich im Westen (gewiß nicht ohne die Unterstützung bestimmter sowjetischer Organe) das absolut selbstmörderische Konzept von der Aufrechterhaltung des Status quo, welches als einzige Maßnahme zur Rettung vor dem möglichen Chaos eine Politik der Kreditspritzen in diese Struktur vorsieht, die dann praktisch ohne Gegenleistung bleiben.

Wenn man jedoch — entgegen den landläufigen vorgefaßten Überzeugungen — die wirtschaftliche und politische Lage im Osten nüchtern betrachtet, so muß man zur Kenntnis nehmen, daß die vielzitierte »Destabilisierung« dort bereits irreversible Formen angenommen hat. Nur noch das völlige Fehlen einer objektiven Statistik und der offenen Information hilft der totalitären Propaganda, die Agonie ihres Systems optimistisch zu verbrämen und es als seriösen Geschäftspartner auszugeben.

Deshalb besteht echter Pragmatismus heute nicht darin, sich an der Realität vorbei mit dem Narkotikum der Entspannung in der Politik und dem Konzept der künstlichen Beatmung in der Wirtschaft weiter zu beschwichtigen, sondern darin, alle — selbst die erst rudimentär ausgebildeten — konstruktiven Kräfte der Demokratie in den totalitären Ländern aktiv zu unterstützen (ohne dabei die entstandenen Kontakte in irgendeiner Weise zu beschneiden). 

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Denn diese Kräfte könnten in einer gesellschaftlich brisanten Situation die Lage beherrschen und die menschheitsgefährdenden Prozesse ins Flußbett der Evolution leiten, das heißt zu echter Stabilisierung hinführen. So paradox es auch klingen mag, die Möglichkeit zur Rettung der freien Marktwirtschaft und der pragmatischen Demokratie im Westen halten nicht die mit kapitalistischen Almosen gefütterten Breschnews und Ceausescus in Händen, sondern all die romantischen Moralisten und Don Quichotes unserer verworrenen Zeit, die Sacharows, Kurons und Wyszynskis. Ob dies ein Glück oder ein Unglück ist, das sei dahingestellt, doch eine andere Alternative gibt es nicht. Alles andere bleibt schönfärberische Illusion, unter welchem pseudowissenschaftlichen Kalkül sie sich auch immer verbergen mag.

Zu einer optimalen Form der Evolution, die Politiker und Geschäftsleute des Westens unterstützen sollten, könnte meiner Ansicht nach die jetzt in Polen entstandene Situation werden. Faktisch existieren in diesem Land bereits drei Mächte: die offizielle Partei, die katholische Kirche und das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, das sich eigenmächtig konstituiert hat und (bei steigender Neutralität der Regierung) erfolgreich funktioniert. Das langsame, auf den ersten Blick beinahe unmerkliche, doch unaufhaltsame Konvergieren dieser drei Machtinstitutionen ist eine ganz einzigartige und für die Gesellschaft in den totalitären Staaten tröstliche Erscheinung unserer Zeit.

Wenn das positive Beispiel Polens Nachahmung in anderen osteuropäischen Ländern findet (und dafür sind alle Voraussetzungen gegeben), so kann die Zukunft der wirtschaftlichen und folglich auch politischen Struktur des Westens keine Besorgnis auslösen: Der demokratische Wandel im Osten kann sich ohne destabilisierende Explosionen und Erschütterungen vollziehen.

Doch auch die Drahtzieher im Kreml sind sich dieser offenkundigen Wahrheit bestens bewußt. Eben deshalb unterdrücken sie mit solcher Grausamkeit jegliches Aufkeimen von freiem Denken oder von demokratischen Tendenzen in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Imperium. Die jüngsten Prozesse gegen Alexander Ginsburg, Anatolij Schtscharanskij, Alexander Podrabinek und eine ganze Reihe anderer sowjetischer Menschenrechtler bezeugen ihre Entschlossenheit, sich dem Westen mit Gewalt als einzige Partner für einen wie immer gearteten Dialog aufzuzwingen. Sieht man es so, dann wird die Verteidigung von Mitgliedern der demokratischen Bewegung im Osten mitnichten zu einem altruistischen Akt, sondern zur pragmatischen Selbstschutz­maßnahme gegen ein einseitiges Diktat.

Zu Beginn meiner flüchtigen Notizen bin ich absichtlich als Advocatus Diaboli aufgetreten, denn nur wenn man den primitiven Mechanismus der pragmatischen Denkweise aufdeckt, kann man sich anschaulich davon überzeugen, daß für uns, wie sehr wir uns auch mit relativistischem Geschwätz besänftigen wollten, Herz und Gewissen alle menschlichen Probleme einbeziehen und zugleich als einzige Richter über ihre Lösung befinden. Sie allein sind das Maß aller Werte, und nur in ihnen ist unsere Rettung beschlossen.

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Maximow 1984