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V. Diskussion

 

 

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Das vorgestellte Verfahren einer Anleitung von Patienten zur selbstständigen Anwendung einer Primär­therapie nach A. JANOV, in der Art und Weise wie wir es mit unseren Patienten durch­geführt haben, hatte zum Ziel, die Patienten in den Stand zu versetzen, ohne weitere Hilfe von Psychotherapeuten ihre Therapie selbständig durchzuführen. Wie sich bei der Nachunter­suchung mit Hilfe des Fragebogens mit einer Rücklaufquote von etwa 90% zeigte, konnte dieses Ziel bei mehr als einem Drittel unserer Patienten auch erreicht werden.

Bei enger Indikationsstellung scheint das Verfahren insbesondere für solche Patienten geeignet zu sein, die schon vor Beginn der Therapie in der Lage waren, kontinuierlich, über einen längeren Zeitraum hinweg, Anstrengungen zu unternehmen, um ein bestimmtes Ziel zu ereichen. Dies ist insbesondere bei solchen Menschen gegeben, die ein hohes Maß von Energie darin investiert haben, ein bestimmtes, selbstgestecktes Lebensziel zu erreichen und die, obwohl sie nach ihren eigenen Angaben äußerlich all das erreicht haben, was sie erreichen wollten, feststellen müssen, dass sich damit nicht die Art von Lebensgefühl eingestellt hatte, die von ihnen erwartet worden war.

Auch Patienten, die unter erheblichen psychosomatischen Beschwerden leiden, wenden nach unserer Beobachtung die Therapie solange konsequent an, bis die Beschwerden nachgelassen haben oder verschwunden sind.

Für alle jene Patienten, die nicht bereit oder in der Lage sind, wenigstens zeitweise eine Distanz zu ihrem eigenen Erleben und Verhalten zu finden, wie dies besonders oft bei Abhängigen oder süchtigen Menschen der Fall ist, ist unser Verfahren selbstverständlich nicht geeignet, da ihnen gewöhnlich die notwendige Disziplin zu selbständiger Arbeit fehlt.

Eine erstaunlich große Anzahl von Patienten hat nie gelernt, zwischen Glauben, Einstellungen, Meinungen, Empfindungen und Gefühlen zu unterscheiden und deren Zustandekommen zu hinterfragen. Für solche Patienten scheint die in unserem Verfahren gegebene Möglichkeit, ein plausibles und für sie handhabbares inneres Ordnungssystem entwickeln zu können, welches ihnen den Kontakt mit ihrer sozialen Umwelt vereinfacht, schon eine entlastende, stressreduzierende und dadurch heilsame Funktion zu haben.

Nach unserer Beobachtung brachte die unserem Therapiekonzept zugrunde liegende Vorstellung, nach der Menschen nicht nur als geistige Wesen begriffen werden dürfen, sondern darüber hinaus auch als hoch­komplexes, leicht störbares, biologisches System angesehen werden müssen, einigen Patienten unmittelbar Erleichterung, ohne dass sie tatsächlich die Therapie angewendet und bestimmte psychische Problem über Primals aufgelöst hatten. 


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Für Menschen, die mehr entsprechend ihrer Ideen und Vorstellungen leben, die etwa ihre körperliche Leistungs­fähigkeit und Belastbarkeit als limitierenden Faktor nicht in ihre Erwartungen an sich selbst miteinbeziehen, ist die Rückbesinnung auf unmittelbare Empfindungen insofern schon hilfreich, als sie nun spüren (fühlen) können, dass sie schwach oder müde sind, anstatt sich mit ihren Vorstellungen zu vergleichen und sich, wenn sie Leistungen, die sie sich selbst abverlangen, aber in der augenblicklichen Situation so nicht erbringen können, vielleicht als Versagen zu diffamieren. 

Insofern werden bei dieser Therapie weniger bestimmte Deutungen, die aus moralischen Wertvorstellungen erwachsen, zur Beurteilung des jeweiligen physischen und psychischen Zustandes herangezogen, sondern auch die Wahrnehmungsqualitäten der zu einer jeweiligen Zeit gespürten Empfindungen werden als Grundlage von Entscheidungs­findungs­prozessen begriffen, akzeptiert und bewusst herangezogen. 

Einige Patienten scheinen damit bereits gefunden zu haben, was sie suchten. Es fällt mir schwer einzu­schätz­en, ob die Vermittlung von Informationen, wie etwa über die physiologische Grundlage von Gefühlen, Ergebnisse der Stressforschung und der Hirnforschung zusammen mit dem Vorgehen, wie es aus den ersten Einzelsitzungen beschrieben ist, schon den Anspruch erheben kann, eine psychotherapeutische Behandlung darzustellen.

Zumindest scheint die Information über die Notwendigkeit, innere Empfindungen wieder gezielt wahrzunehmen, anstatt sie zu ignorieren, gemeinsam mit der Weitergabe der anderen genannten Informationen bei den Patienten oft bereits Veränderungen ihrer Einstellungen hervorzurufen, die die wichtigste Grundvoraussetzung für darauf oftmals folgende Verhaltensänderungen darstellen. Für diesen Vorgang bedarf es keines Primals.

Möglicherweise handelt es sich aber auch bei einem Primal nur um eine Sonderform von Aha-Erlebnis, die ihrerseits den Weg für weitere, bis dahin blockierte Lern- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Von Vorteil bei dem Verfahren ist, dass die Patienten zeitlich unabhängig und unbeeinflusst, entsprechend ihrem eigenen Rhythmus die Therapie anwenden können. Die Methode lässt sich stets einsetzen, wenn der Patient sie braucht oder für notwendig hält. Das Stadium, in dem sich jemand wieder als gesünder und handlungsfähiger erlebt, wird mit Hilfe der Therapie oft schon nach einem Jahr erreicht. 


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Aber selbst dann, wenn der Patient schon wieder handlungsfähiger geworden ist und seine unmittelbare Eingeengtheit überwunden hat, lässt sich die Methode bei Bedarf immer wieder einsetzen. Ein Primal wird auch nach Jahren immer noch als erleichternd erlebt, selbst wenn keine dringende Notwendigkeit mehr besteht, psychische Probleme zu bearbeiten.

Dass die Therapie in Stufen verläuft ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Patienten durch neu gewonnene Einsichten und den Verlust bestimmter typischer unangenehmer Empfindungen in die Lage versetzt werden, neues zu erleben oder alte Defizite auszugleichen. Auf dieser Ebene werden sie dann unter Umständen mit Problemen konfrontiert, die vorher durch gravierendere Schwierigkeiten verdeckt gewesen waren.

Einige Patienten wünschten sich daher, in etwa einjährigen Abständen ihre derzeitige Situation mit einem Therapeuten in der Gruppe besprechen zu können, um Hilfestellung bei bestimmten technischen Schwierigkeiten mit der Therapie zu erhalten und auch, um aus den Fehlern und der Entwicklung anderer Patienten Anregungen für die eigene Therapie zu erhalten. Dieser Aspekt sollte zukünftig mehr berücksichtigt werden.

Nach wie vor ungelöst scheint mir das Problem der Motivation für eine ernsthafte Selbstexploration zu sein. Mir scheint, dass sich die echte innere Bereitschaft zur Veränderung möglicherweise bei näherer Untersuchung als der entscheidende therapeutische Wirkungsfaktor erweisen könnte. Dass dieser nicht nur von intra-individuellen Faktoren abhängt, ist aus medizinsoziologischen Untersuchungen bekannt, nach denen auch die soziale Lage, der Bildungsstand, das Alter, soziale Einbettung und die Fähigkeit zu bestimmten Bewältigungs­strategien Gesundheitsverhalten und Einsichten beeinflussen.

Mit der hier vorgestellten Methode behandelten wir Patienten beiderlei Geschlechts mit:

Neurotischer Depression, Reaktiver Depression, Hypochondrischer Neurose Hysterischer Neurose, Angstneurose, Medikamentenmissbrauch, Alkoholmissbrauch, Polytoxikomanie, Manisch-depressiver Psychose (im Intervall), Halluzinatorisch-schizophrener Psychose (im Intervall), Paranoider Psychose (im Intervall), Psychogenen Funktionsstörungen, Psychogenen Organ­störungen mit und ohne Gewebeschädigung, Somatischen Störungen mit psychogener Überlagerung

im Alter zwischen 18 und 82 Jahren. 

Dabei erwies sich, dass die Methode an Patienten mit somatischen oder psychosomatischen Störungen wesentlich besser zu vermitteln war, als an Patienten mit Neurosen ohne somatische Symptomatik.

Insbesondere hysterische Neurosen sprachen auf die Methode nicht adäquat an, da von Patienten mit solchen Störungen eine passive konsumierende Haltung eingenommen wurde, die im Gegensatz zum Prinzip der Selbstbehandlung steht. 

Bei den Psychosen erwies sich die Methode als entängstigend und hilfreich in der Bemühung um Krankheitseinsicht und Compliance. Ein niedriger Bildungsstand war kein bedeutendes Hindernis bei der Vermittlung der Methode. In einigen Fällen hatten wenig gebildete Patienten den Vorteil, Handlungs­anweisungen leichter und schneller auf sich zu beziehen und anwenden zu können.

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Ende

 

 

 

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