Die Mutter
Ihre Stellung in der Familie und ihre Rolle in Adolfs Leben
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Alle Biographen sind sich darüber einig, daß Klara Hitler ihren Sohn »sehr liebte und verwöhnte«. Zunächst muß man sagen, daß dieser Satz einen Widerspruch in sich enthält, wenn man Liebe so versteht, daß die Mutter für die wahren Bedürfnisse des Kindes offen und hellhörig ist. Gerade wenn das fehlt, wird das Kind verwöhnt, d.h. mit Gewährungen und Dingen überhäuft, die es nicht braucht, und dies nur als Ersatz für das, was man dem Kind aus eigener Not eben nicht zu geben vermag. Gerade die Verwöhnung zeigt also einen ernsten Mangel an, den das spätere Leben bestätigt.
Wenn Adolf Hitler tatsächlich ein geliebtes Kind gewesen wäre, dann wäre auch er liebesfähig geworden. Seine Beziehungen zu Frauen, seine Perversionen (vgl. Stierlin, S. 168) und seine ganze distanzierte und im Grunde kalte Beziehung zu Menschen zeigen aber, daß er von keiner Seite Liebe erfahren hat.
Bevor Adolf auf die Welt kam, hatte Klara drei Kinder, die alle innerhalb eines Monats an Diphtherie starben. Die zwei ersten erkrankten vielleicht noch vor der Geburt des dritten Kindes, das dann ebenfalls nach drei Tagen starb. 13 Monate später wurde Adolf geboren. Ich übernehme die sehr übersichtliche Tabelle von Stierlin:
Geboren
Gestorben
Alter zur Zeit des Todes
1. Gustav (Diphtherie)
17.5.1885
8.12.1887
2 Jahre, 7 Monate
2. Ida (Diphtherie)
23.9.1886
2.1.1888
1 Jahr, 4 Monate
5. Otto (Diphtherie)
1887
1887
ungefähr drei Tage
4. Adolf
20.4.1889
5. Edmund (Masern)
24.3.1894
2.2.1900
fast 6 Jahre
6. Paula
21.1.1896
Die schöne Legende zeigt Klara als liebevolle Mutter, die nach dem Tod ihrer drei ersten Kinder ihre ganze Zärtlichkeit Adolf geschenkt hat. Es ist vielleicht kein Zufall, daß alle Biographen, die dieses liebliche Madonnenbild zeichneten, Männer waren. Eine redliche Frau von heute, die selber Mutter war oder ist, kann sich vielleicht etwas realistischer die Ereignisse vorstellen, die Adolfs Geburt vorausgegangen waren, und sich ein genaueres Bild darüber machen, in welcher emotionalen Umwelt sich sein erstes, für die Sicherheit des Kindes so entscheidendes Lebensjahr vollzogen hat.
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Mit 16 Jahren zieht Klara Pötzl in das Haus ihres »Onkel Alois«, wo sie sich um seine kranke Ehefrau und seine zwei Kinder kümmern sollte. Dort wird sie später noch vor dem Tod seiner Frau vom Herrn des Hauses geschwängert, dann mit 24 Jahren vom 48jährigen Alois geheiratet, bringt innerhalb von zweieinhalb Jahren drei Kinder auf die Welt und verliert alle drei innerhalb von 4-5 Wochen.
Versuchen wir uns das genau vorzustellen: Das erste Kind, Gustav, erkrankt im November an Diphtherie, Klara kann es kaum pflegen, weil sie bereits dabei ist, das dritte Kind, Otto, zur Welt zu bringen, das wahrscheinlich von Gustav mit Diphtherie angesteckt wird und nach drei Tagen stirbt. Kurz danach, vor Weihnachten, stirbt auch Gustav und drei Wochen später das Mädchen Ida. So hat Klara innerhalb von 4-5 Wochen eine Geburt und den Tod von drei Kindern überstanden.
Eine Frau muß nicht besonders sensibel sein, um durch einen solchen Schock, dazu neben einem herrischen und fordernden Mann, selber noch im Alter der Adoleszenz, aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Vielleicht erlebte die praktizierende Katholikin diesen dreifachen Tod als Gottes Strafe für ihre unehelichen Beziehungen mit Alois, vielleicht machte sie sich Vorwürfe, daß sie, durch ihre dritte Geburt verhindert, Gustav nicht genug gepflegt hatte.
Auf jeden Fall muß eine Frau aus Holz sein, um von diesen Schicksalsschlägen unberührt zu bleiben; aus Holz war Klara nicht. Aber niemand konnte ihr helfen, die Trauer zu erleben, ihre ehelichen Pflichten bei Alois gingen weiter, noch im gleichen Jahr des Todes von Ida wird sie wieder schwanger, und im April des nächsten Jahres gebiert sie Adolf.
Gerade weil sie ihre Trauer unter diesen Umständen kaum verarbeiten konnte, mußte die Geburt eines neuen Kindes den kürzlich erfahrenen Schock wieder aktivieren, in ihr die größten Ängste und das Gefühl einer tiefen Unsicherheit in bezug auf ihre Fähigkeiten zur Mutterschaft mobilisieren. Welche Frau mit dieser Vergangenheit hätte nicht schon während der Schwangerschaft Ängste vor einer Wiederholung? Es ist kaum denkbar, daß ihr Sohn in der ersten symbiotischen Zeit neben seiner Mutter das Gefühl von Ruhe, Zufriedenheit und Geborgenheit mit der Muttermilch in sich eingesogen hat.
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Es ist wahrscheinlicher, daß die Unruhe seiner Mutter, die durch die Geburt Adolfs aufgerissenen, frischen Erinnerungen an die drei toten Kinder und die bewußte oder unbewußte Angst, daß auch dieses Kind sterbe, direkt mit den Gefühlen des Säuglings wie zwei miteinander verbundene Gefäße kommuniziert haben. Den Ärger auf ihren selbstbezogenen Mann, der sie mit ihren seelischen Leiden allein ließ, durfte Klara ja auch nicht bewußt erleben; um so mehr hat ihn der Säugling, den man ja nicht wie den Herrscher zu fürchten braucht, zu spüren bekommen.
Das alles ist Schicksal; den daran Schuldigen zu suchen, wäre müßig. Viele Menschen hatten ähnliche Schicksale. Z.B. Novalis, Hölderlin, Kafka, die den Tod mehrerer Geschwister erlebten, wurden dadurch stark geprägt, aber sie hatten die Möglichkeit, ihr Leiden auszudrücken. Im Falle Adolf Hitlers kam hinzu, daß er seine Gefühle und die aus der frühen gestörten Mutterbeziehung stammende tiefe Beunruhigung mit niemandem teilen konnte und gezwungen war, sie zu unterdrücken, um beim Vater nicht aufzufallen und nicht neue Schläge zu provozieren. Es blieb nur die Identifikation mit dem Aggressor.
Dazu kommt ein anderer Umstand, der aus dieser ungewöhnlichen Familienkonstellation resultiert: Mütter, die ein Kind nach einem verstorbenen gebären, idealisieren oft das verstorbene Kind (wie die verpaßten Chancen eines unglücklichen Lebens). Das lebende Kind fühlt sich dann angespornt, sich ganz besonders anzustrengen und Außergewöhnliches zu leisten, um dem toten nicht nachzustehen. Aber die wahre Liebe der Mutter gehört meistens dem toten, idealisierten Kind, das in ihrer Phantasie alle Vorzüge aufzuweisen hätte — wäre es nur am Leben geblieben. Das gleiche Schicksal hatte van Gogh, wobei dort nur ein Bruder gestorben war.
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Es konsultierte mich einmal ein Patient, der in einer auffallend schwärmerischen Art von seiner glücklichen und harmonischen Kindheit sprach. Ich bin an solche Idealisierungen gewöhnt, aber hier fiel mir im Ton etwas auf, das ich noch nicht verstehen konnte. Im Lauf des Gespräches stellte sich heraus, daß dieser Mann eine Schwester gehabt hatte, die mit knapp zwei Jahren gestorben war und die offenbar für ihr Alter übermenschliche Fähigkeiten hatte: sie konnte angeblich die Mutter pflegen, wenn diese krank war, sie konnte ihr Lieder singen, »um sie zu beruhigen«, konnte ganze Gebete auswendig usw.
Als ich den Mann fragte, ob er meine, das sei in dem Alter möglich, schaute er mich an, als ob ich das größte Sakrileg begangen hätte, und sagte: »Normalerweise nicht, aber bei diesem Kind war es so — es war eben ein ganz außergewöhnliches Wunder«.
Ich sagte ihm, daß Mütter ihre verstorbenen Kinder sehr oft stark idealisieren, erzählte ihm die Geschichte von van Gogh und meinte, es. sei für das lebende Kind manchmal sehr schwer, immer mit einem so großartigen Bild verglichen zu werden, dem man ja nie gewachsen sein könne. Der Mann fing wieder an, mechanisch über die Fähigkeiten seiner Schwester zu sprechen und wie schrecklich es sei, daß sie gestorben wäre. Dann, ganz plötzlich, hielt er inne und wurde von Trauer geschüttelt — wie er glaubte — über den Tod der Schwester, der beinahe 35 Jahre zurücklag.
Ich hatte den Eindruck, daß er da vielleicht zum ersten Mal Tränen über sein eigenes Kinderschicksal vergoß, denn diese Tränen waren echt. Jetzt erst verstand ich auch den fremden, künstlichen Ton in seiner Stimme, der mir am Anfang der Stunde aufgefallen war. Vielleicht hat er mir unbewußt vorführen müssen, wie seine Mutter über ihre Erstgeborene gesprochen hatte. Er sprach so überschwenglich über seine Kindheit wie die Mutter über das verstorbene Kind, zugleich aber teilte er mir in diesem unechten Ton die dahinterliegende Wahrheit über sein Schicksal mit.
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An diese Geschichte muß ich oft denken, wenn Menschen mich besuchen, die eine ähnliche Familienkonstellation hatten. Wenn ich sie darauf anspreche, erfahre ich immer wieder, welcher Kult da mit den Gräbern der verstorbenen Kinder getrieben wird, der oft jahrzehntelang andauert. Je bedürftiger das narzißtische Gleichgewicht der Mutter, um so mehr versäumte Möglichkeiten malt sie sich im verstorbenen Kind aus. Dieses Kind hätte ihr alle eigenen Entbehrungen, jedes Leid beim Ehepartner und alle Sorgen mit den schwierigen lebenden Kindern kompensiert. Es wäre ihr die ideale, vor allem Leid beschützende »Mutter« gewesen — wenn es nur am Leben geblieben wäre.
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Da Adolf als erstes Kind nach drei verstorbenen Kindern auf die Welt kam, kann ich mir nicht vorstellen, daß die Beziehung seiner Mutter zu ihm als nur »hingebungsvolle Liebe« aufgefaßt werden kann, wie das die Biographen schildern. Sie meinen alle, Hitler hätte zuviel Liebe von seiner Mutter erhalten (sie sehen in der Verwöhnung oder, wie sie sich ausdrücken, in der »oralen Verwöhnung« ein Übermaß an Liebe) und deshalb sei er so gierig nach Bewunderung und Anerkennung gewesen. Weil er eine so gute und lange Symbiose mit seiner Mutter gehabt hätte, soll er sie immer wieder auch in der narzißtischen Verschmelzung mit den Massen gesucht haben. Solche Sätze findet man manchmal auch in den psychoanalytischen Krankengeschichten.
Es scheint mir, daß ein tief in uns allen verankertes Erziehungsprinzip bei solchen Deutungen wirksam ist. Man findet in Erziehungsschriften immer wieder den Ratschlag, man solle Kinder nicht mit zu viel Liebe und Rücksicht (was als »Affenliebe« bezeichnet wird) »verwöhnen«, sondern von Anfang an für das richtige Leben abhärten. Psychoanalytiker drücken sich hier anders aus, z.B. meinen sie, »man müsse das Kind vorbereiten, Frustrationen zu ertragen«, als ob ein Kind das nicht von selbst im Leben lernen könnte.
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Im Grunde ist es nämlich genau umgekehrt: ein Kind, das einst echte Zuwendung bekommen hat, kann besser als Erwachsener ohne diese auskommen als jemand, der sie nie wirklich erhalten hat. Wenn also ein Mensch nach Zuwendung süchtig oder »gierig« ist, ist das immer ein Zeichen, daß er etwas sucht, was er nie hatte und nicht, daß er etwas nicht aufgeben will, weil er in der Kindheit zuviel davon bekommen hat.
Es kann etwas von außen als Gewährung erscheinen, ohne es zu sein. So kann ein Kind mit Nahrung, Spielzeug, Sorge (!) verwöhnt werden, ohne je wirklich als das, was es war, gesehen und beachtet worden zu sein. Am Beispiel Hitlers ist es doch zumindest leicht vorstellbar, daß er niemals als Hasser seines Vaters, der er doch im Grunde auch war, von seiner Mutter geliebt worden wäre. Wenn seine Mutter zur Liebe und nicht nur zur genauer' Pflichterfüllung je fähig gewesen ist, so muß ihre Bedingung gewesen sein, daß er ein braver Junge sein und dem Vater alles »verzeihen und vergessen« solle. Eine aufschlußreiche Stelle bei Smith zeigt, wie wenig Adolfs Mutter in der Lage gewesen wäre, ihm in seiner Not mit dem Vater beizustehen:
Das dominierende Gehabe des Hausherrn flößte seiner Frau und den Kindern dauernden Respekt, wenn nicht Furcht ein. Selbst nach seinem Tod blieben seine Pfeifen ehrfurchtgebietend auf einem Gestell in der Küche aufgereiht, und wenn immer seine Witwe im Gespräch etwas Besonderes unterstreichen wollte, verwies sie mit einer Geste auf die Pfeifen, als ob sie die Autorität des Meisters beschwören wolle (zitiert nach Stierlin, Seiten 21/22.).
Da Klara die »Ehrfurcht« vor ihrem Mann noch nach seinem Tod auf seine Pfeifen übertrug, kann man sich kaum vorstellen, daß sich ihr Sohn ihr gegenüber mit seinen wahren Gefühlen je hätte anvertrauen dürfen. Besonders, da seine drei verstorbenen Geschwister in der Phantasie seiner Mutter doch sicher »immer brav« gewesen waren und nun im Himmel ohnehin nichts Böses mehr anstellen konnten.
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Adolf konnte also die Zuwendung seiner Eltern nur auf Kosten einer vollständigen Verstellung und Verleugnung seiner wahren Gefühle bekommen. Daraus entstand seine ganze Lebenshaltung, die Fest wie einen roten Faden in Hitlers Geschichte herausspürt. Am Anfang seiner Hitler-Biographie stehen die folgenden sehr zutreffenden, zentralen Sätze:
Die eigene Person zu verhüllen wie zu verklären, war eine der Grundanstrengungen seines Lebens. Kaum eine Erscheinung der Geschichte hat sich so gewaltsam, mit so pedantisch anmutender Konsequenz stilisiert und im Persönlichen unauffindbar gemacht. Die Vorstellung, die er von sich hatte, kam einem Monument näher als dem Bild eines Menschen. Zeitlebens war er bemüht, sich dahinter zu verbergen (Fest, 1978, S. 29).
Ein Mensch, der die Liebe der Mutter erfahren hat, muß sich niemals so verstellen.
Adolf Hitler suchte systematisch den Kontakt zu seiner Vergangenheit abzuschneiden, seinen Halbbruder Alois ließ er gar nicht an sich heran, seine Schwester Paula, die ihm den Haushalt machte, zwang er, den Namen zu wechseln. Aber auf der weltpolitischen Bühne inszenierte er unbewußt sein wahres Kindheitsdrama — unter anderen Vorzeichen. Er war nun, wie einst sein Vater, der einzige Diktator, der einzige, der etwas zu sagen hatte. Die anderen hatten zu schweigen und zu gehorchen. Er war der, der Angst einflößte, aber auch die Liebe des Volkes besaß, das zu seinen Füßen lag, wie damals die untertänige Klara zu Füßen ihres Mannes.
Die besondere Faszination, die Hitler bei Frauen genoß, ist ja bekannt. Er verkörperte für sie den Vater, der ganz genau wußte, was richtig und falsch war und ihnen dazu noch ein Ventil für ihren seit der Kindheit aufgestauten Haß anbieten konnte. Diese Kombination verschaffte Hitler bei Frauen und Männern seine große Anhängerschaft. Denn all diese Menschen waren einst zum Gehorsam erzogen worden, in Pflicht und christlichen Tugenden aufgewachsen; sie hatten schon sehr früh lernen müssen, ihren Haß und ihre Bedürfnisse zu unterdrücken.
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Und nun kam ein Mensch, der diese ihre bürgerliche Moral an sich nicht in Frage stellte, der im Gegenteil ihre anerzogene, gehorsame Haltung gerade noch gut gebrauchen konnte, der sie also nirgends mit Fragen oder inneren Krisen konfrontierte, statt dessen ihnen ein universales Mittel in die Hand gab, um endlich den seit den ersten Tagen ihres Lebens unterdrückten Haß auf völlig legale Art ausleben zu können. Wer würde nicht davon Gebrauch machen? Der Jude wurde jetzt schuld an allem, und die wirklichen ehemaligen Verfolger, die eigenen, oft wirklich tyrannischen Eltern, konnten in Ehren geschützt und idealisiert bleiben.
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Ich kenne eine Frau, die zufällig nie mit einem Juden in Berührung gekommen war, bis sie in den »Bund Deutscher Mädel« eintrat. In ihrer Kindheit wurde sie sehr streng erzogen, ihre Eltern brauchten sie zu Hause für den Haushalt, nachdem die anderen Geschwister (zwei Brüder und eine Schwester) das Haus verlassen hatten. Sie durfte deshalb keinen Beruf erlernen, obwohl sie ganz ausgeprägte Berufswünsche hatte und auch die Begabung dafür besaß. Sie erzählte mir viel später, mit welcher Begeisterung sie »von den Verbrechen der Juden« in Mein Kampf gelesen und welche Erleichterung es in ihr ausgelöst hatte, zu wissen, daß man da jemanden so eindeutig hassen durfte.
Nie hätte sie ihre Geschwister offen beneiden dürfen, als diese ihren Berufen hatten nachgehen können. Aber dieser jüdische Bankier, dem ihr Onkel für ein Darlehen Zinsen hatte zahlen müssen, der war ein Ausbeuter auf Kosten des armen Onkels, mit dem sie sich identifizierte. Denn sie wurde tatsächlich von den Eltern ausgebeutet, und auf die Geschwister neidisch, aber solche Gefühle durfte ein anständiges Mädchen nicht haben. Und nun gab es ganz unerwartet eine so einfache Lösung: Man durfte hassen, soviel man wollte, und blieb doch oder gerade deshalb das liebe Kind des Vaters und die nützliche Tochter des Vaterlandes.
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Außerdem konnte man das »böse« und schwache Kind, das man in sich immer zu verachten lernte, auf die Juden projizieren, die eben schwach und hilflos waren, und sich selbst als nur stark, nur rein (arisch), nur gut erleben.
Und Hitler selbst? Hier nahm ja die ganze Inszenierung ihren Anfang. Auch für ihn gilt, daß er im Juden das hilflose Kind, das er selber einst gewesen ist, in der gleichen Art mißhandelt, wie sein Vater ihn. Und wie der Vater nie genug hatte und jeden Tag neu prügelte und ihn mit u Jahren fast zu Tode schlug, so hatte auch Adolf Hitler nie genug und schrieb in seinem Testament, nachdem er 6 Millionen Juden hatte töten lassen, es müßten noch die Reste des Judentums ausgerottet werden.
Ähnlich wie bei Alois und den anderen schlagenden Vätern zeigt sich hier die Angst vor der möglichen Auferstehung und Rückkehr der abgespaltenen Teile ihres Selbst. Deshalb ist dieses Schlagen eine nie endende Aufgabe — hinter ihr steht die Angst vor dem Aufleben der eigenen unterdrückten Ohnmacht, Demütigung, Hilflosigkeit, denen man das ganze Leben mit Hilfe der Grandiosität zu entfliehen versucht hat: Alois mit dem Posten des höheren Zollbeamten, Adolf als Führer, ein anderer vielleicht als Psychiater, der auf Elektroschocks schwört, oder als Arzt, der Affengehirne verpflanzt, als Professor, der Meinungen vorschreibt oder einfach als Vater, der seine Kinder erzieht. In all diesen Anstrengungen geht es nicht um die anderen Menschen (oder Affen), in allem, was diese Männer mit Menschen tun, wenn sie andere verachten und erniedrigen, geht es eigentlich um die Ausrottung der eigenen einstigen Ohnmacht und Vermeidung der Trauer.
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Helm Stierlins interessante Studie über Hitler geht davon aus, daß Adolf von seiner Mutter zu ihrer Rettung unbewußt »delegiert« wurde. Das unterdrückte Deutschland wäre dann ein Symbol für die Mutter. Dies mag wohl stimmen, aber in der Verbissenheit seines späteren Handelns kommen zweifellos auch ureigene, unbewußte Interessen zum Ausdruck.
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Es ist ein gigantischer Kampf um die Befreiung des eigenen Selbst aus den Spuren grenzenloser Erniedrigung, für das Deutschland symbolisch einsteht.
Doch das eine schließt das andere nicht aus: Auch die Rettung der Mutter bedeutet für ein Kind den Kampf um die eigene Existenz. Anders ausgedrückt: wenn Adolfs Mutter eine starke Frau gewesen wäre, hätte sie ihn – in der Phantasie des Kindes – nicht diesen Qualen und der ständigen Furcht und Todesangst ausgesetzt. Da sie aber selber erniedrigt und ihrem Manne völlig hörig war, konnte sie das Kind nicht beschützen. Nun mußte er die Mutter (Deutschland) vor dem Feind retten, um eine gute, reine, starke, judenfreie Mutter zu haben, die ihm Sicherheit gegeben hätte.
Sehr oft phantasieren Kinder, daß sie ihre Mütter erlösen oder retten müßten, damit sie ihnen endlich die Mütter sein könnten, die sie einst gebraucht hätten. Das kann zu einer Ganztagsbeschäftigung im späteren Leben werden. Da aber kein Kind die Möglichkeit hat, die eigene Mutter zu retten, führt der Wiederholungszwang dieser Ohnmacht, falls er in seinem Ursprung nicht erkannt und erlebt wird, unweigerlich zum Mißerfolg oder sogar zur Katastrophe. Stierlins Gedanken ließen sich unter diesem Gesichtspunkt weiter verfolgen und würden in der Symbolsprache etwa zu folgendem Ergebnis führen: Die Befreiung Deutschlands und die Zerstörung des jüdischen Volkes bis auf den letzten Juden, d.h. die vollständige Beseitigung des bösen Vaters, hätten Hitler die Bedingungen geschaffen, die ihn zum glücklichen, in Ruhe und Frieden mit seiner geliebten Mutter aufwachsenden Kind hätten machen können.
Diese unbewußte symbolische Zielsetzung hat selbstverständlich wahnhaften Charakter, weil die Vergangenheit nicht mehr zu ändern ist, doch jeder Wahn hat seinen Sinn, der sehr leicht zu verstehen ist, wenn man die Kindheitssituation kennt.
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Durch Krankengeschichten und Angaben der Biographen, die gerade die wesentlichsten Daten aus Abwehrgründen übersehen, wird dieser Sinn häufig entstellt. So wurde z.B. viel darüber geschrieben und recherchiert, ob der Vater von Alois Hitler wirklich ein Jude war oder nicht und ob Alois als Alkoholiker bezeichnet werden könne oder nicht.
Aber die psychische Realität des Kindes hat mit dem, was die Biographen später als Fakten »beweisen«, oft sehr wenig zu tun. Gerade der Verdacht auf jüdisches Blut in der Familie ist für ein Kind viel belastender als die Gewißheit. Schon Alois mußte unter dieser Ungewißheit gelitten haben, und zweifellos hat Adolf von den Gerüchten gehört, auch wenn man nicht gerne und laut darüber gesprochen hat. Gerade das, was die Eltern verschweigen wollen, beschäftigt das Kind am meisten, besonders wenn es ein Haupttrauma seines Vaters war (vgl. S. 196f).
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Die Verfolgung der Juden »ermöglichte« Hitler in der Phantasie, seine Vergangenheit zu »korrigieren«. Sie erlaubte ihm:
die Rache am Vater, der als Halbjude verdächtigt wurde;
die Befreiung der Mutter (Deutschland) von ihrem Verfolger;
die Erlangung der Liebe der Mutter mit weniger moralischen Sanktionen, mit mehr wahrem Selbst (Hitler wurde ja als schreiender Judenhasser vom deutschen Volk geliebt, nicht als katholisches braves Kind, das er für seine Mutter sein mußte);
die Umkehr der Rollen — er selber ist nun zum Diktator geworden, ihm muß jetzt alles gehorchen und zu Füßen liegen, wie einst dem Vater, er organisiert Konzentrationslager, in denen Menschen so behandelt werden, wie er als Kind behandelt worden ist. (Ein Mensch denkt sich kaum etwas Ungeheuerliches aus, wenn er es nicht irgendwie aus Erfahrung kennt. Wir neigen nur dazu, die kindliche Erfahrung zu bagatellisieren.)
Außerdem ermöglichte die Judenverfolgung eine Verfolgung des schwachen Kindes im eigenen Selbst, das auf die Opfer projiziert wurde, um keine Trauer über vergangenes Leid zu erleben, weil ihm die Mutter nie dabei hatte helfen können. Darin, sowie in der unbewußten Rache auf den Verfolger der frühen Kindheit, traf sich Hitler mit einer großen Zahl von Deutschen, die in der gleichen Situation aufgewachsen waren.
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Im Familienbild von Adolf Hitler, wie es von Stierlin gezeichnet wurde, steht noch die liebevolle Mutter, die zwar die Retterfunktion auf das Kind delegiert, es aber auch vor der Gewalt des Vaters beschützt. Auch in Freuds Ödipusversion gibt es diese geliebte und liebende, idealisierte Mutterfigur. Klaus Theweleit kommt in seinen Männerphantasien der Wirklichkeit dieser Mütter sehr viel näher, obwohl auch er sich scheut, die letzten Konsequenzen aus seinen Texten zu ziehen.
Er stellt fest, daß sich bei den von ihm analysierten Vertretern der faschistischen Ideologie immer wieder das Bild eines strengen, züchtigenden Vaters und der liebevollen, beschützenden Mutter findet. Sie wird als »die beste Frau und Mutter von der Welt«, als »der gute Engel«, »als klug, charakterfest, hilfsbereit und tief religiös« bezeichnet (vgl. Theweleit, Band I, S. 155). An den Muttern der Kameraden oder an den Schwiegermüttern wird außerdem ein Zug bewundert, von dem man offenbar die eigene Mutter ausgenommen haben möchte: die Härte, die Liebe zum Vaterland, die preußische Haltung (»Deutsche weinen nicht«), — die Mutter aus Eisen, der »keine Wimper zuckt bei der Nachricht vom Tode ihrer Söhne«.
Theweleit zitiert:
Dennoch, nicht diese Nachricht gab der Mutter den Rest. Vier Söhne fraß ihr der Krieg, sie überstand es; ein daneben Lächerliches erschlug sie. Lothringen wurde welsch und damit die Erzgruben der Gesellschaft (S. 135).
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Wie aber, wenn diese beiden Seiten zwei Hälften der eigenen Mutter waren? Hermann Ehrhardt erzählt:
Vier Stunden hab ich einmal im Winter in der Nacht verbockt draußen im Schnee gestanden, bis endlich die Mutter behauptete, es sei nun der Strafe genug (ebd., S. 133).
Bevor die Mutter den Sohn »rettet«, indem sie findet, es sei »nun der Strafe genug«, läßt sie ihn ja immerhin vier Stunden im Schnee stehen. Ein Kind kann nicht verstehen, warum ihm die geliebte Mutter so weh tut, es kann es nicht fassen, daß die in seinen Augen riesengroße Frau im Grunde wie ein kleines Mädchen ihren Mann fürchtet und ihre eigenen Kindheitsdemütigungen ihrem kleinen Jungen unbewußt weitergibt. Ein Kind muß unter dieser Härte leiden. Aber es darf dieses Leiden nicht leben und nicht zeigen. Es bleibt ihm nichts übrig, als es abzuspalten und es auf andere zu projizieren, d.h. den harten Zug seiner Mutter fremden Müttern zuzuschreiben und ihn dort schließlich sogar zu bewundern.
Konnte Klara Hitler ihrem Sohn helfen, solange sie selber das hörige, unterwürfige Dienstmädchen ihres Gatten war? Sie nannte ihren Mann zu Lebzeiten schüchtern »Onkel Alois«, und nach seinem Tode blickte sie ehrfurchtsvoll auf seine in der Küche ausgestellten Pfeifen, jedesmal, wenn jemand seinen Namen erwähnte.
Was geschieht in einem Kind, wenn es immer wieder erfahren muß, daß die gleiche Mutter, die ihm von Liebe spricht, ihm das Essen sorgfältig bereitet, ihm schöne Lieder singt, zur Salzsäule erstarrt und bewegungslos zusieht, wenn dieses Kind vom Vater blutig geschlagen wird? Wie muß es sich fühlen, wenn es immer wieder vergeblich ihre Hilfe, ihre Rettung erhofft; wie muß es sich fühlen, wenn es vergeblich in seiner Folter erwartet, sie möge doch endlich ihre Macht einsetzen, die doch in seinen Augen so groß ist? Aber diese Rettung findet nicht statt.
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Die Mutter sieht zu, wie ihr Kind gedemütigt, verspottet, gefoltert wird, ohne ihr Kind zu verteidigen, ohne etwas Erlösendes zu tun, sie ist durch ihr Schweigen mit dem Verfolger solidarisch, sie liefert ihr Kind aus. Kann man erwarten, daß das Kind dies versteht? Und muß man sich wundern, wenn die Verbitterung auch der Mutter gilt, obschon ins Unbewußte verdrängt? Dieses Kind wird seine Mutter vielleicht bewußt heiß lieben; und später, bei anderen Menschen, wird es immer wieder das Gefühl haben, ausgeliefert, preisgegeben, verraten worden zu sein.
Hitlers Mutter ist sicher keine Ausnahmeerscheinung, sondern noch vielfach die Regel, wenn nicht sogar ein Ideal vieler Männer. Aber kann eine Mutter, die nur Sklavin ist, ihrem Kind die nötige Achtung geben, die es braucht, um seine Lebendigkeit zu entwickeln?
In der nachfolgenden Schilderung der Masse in <Mein Kampf> läßt sich ablesen, welches Vorbild an Weiblichkeit Adolf Hitler bekommen hat:
Die Psyche der breiten Masse ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache. Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein, wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen, der sie sich endlich für immer beugt (zit. n. Fest, 1978, S. 79).
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In dieser Beschreibung der Masse porträtiert Hitler sehr genau seine Mutter und ihre Unterwerfung. Seine politischen Richtlinien stützen sich auf sehr früh erworbene Erfahrungen: die Brutalität siegt immer. Hitlers Verachtung des Weibes, aus seiner Familiensituation begreiflich, betont auch Fest. Er meint:
Seine Rassentheorie war durchsetzt von sexuellen Neidkomplexen und einem tiefsitzenden antiweiblichen Affekt: das Weib, so versichert er, habe die Sünde in die Welt gebracht, und seine Anfälligkeit für die wollüstigen Künste der tierischen Untermenschen sei die Hauptursache für die Verpestung des nordischen Blutes (Fest, 1978, S. 64).
Vielleicht nannte Klara ihren Mann »Onkel Alois« aus bloßer Schüchternheit. Aber er ließ sich das doch zumindest gefallen. Ob er es sogar gefordert hat, so wie er von seinen Nachbarn per »Sie« und nicht mit »Du« angeredet zu werden wünschte? Auch Adolf nennt ihn ja »Herr Vater« in Mein Kampf, was möglicherweise auf den Wunsch des Vaters zurückzuführen ist, der sehr früh verinnerlicht wurde.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß Alois mit solchen Anordnungen das Elend seiner frühen Kindheit (von der Mutter weggegeben, unehelich, arm, von unbekannter Herkunft) kompensieren und sich endlich als Herr fühlen wollte. Aber von dieser Vorstellung ist es nur ein Schritt zu dem Gedanken, daß sich deshalb alle Deutschen 12 Jahre lang mit »Heil Hitler« begrüßen mußten. Ganz Deutschland mußte sich den ausgefallensten, ganz privaten Ansprüchen des Führers fügen wie einst Klara und Adolf dem allmächtigen Vater.
Hitler schmeichelte der »deutschen, germanischen« Frau, weil er ihre Huldigungen, ihre Wahl-Stimmen und ihre sonstigen Dienste brauchte. Auch die Mutter hatte er gebraucht. Aber eine wirklich warme Vertrautheit konnte er mit seiner Mutter nicht entwickeln. Stierlin schreibt:
N. Bromberg (1971) berichtet wie folgt über Hitlers sexuelle Gewohnheiten: »... um zu einer vollen sexuellen Befriedigung zu gelangen, war es für Hitler notwendig, eine junge Frau über seinem Kopfe hockend zu beobachten, die in sein Gesicht urinierte oder defäzierte.«
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Er berichtet weiter über »... eine Episode von erotogenem Masochismus, bei der sich Hitler vor die Füße einer jungen deutschen Schauspielerin warf und sie bat, ihn zu treten. Als sie es zunächst nicht wollte, beschwor er sie, seinem Wunsche zu genügen. Dabei überschüttete er sich selbst mit Anschuldigungen und wand sich in einer so gequälten Weise vor ihr, daß sie schließlich seinem Flehen stattgab. Als sie ihn trat, wurde er erregt und als sie seinem Bitten nachgab und ihn noch mehr trat, steigerte sich die Erregung. Der Altersunterschied zwischen Hitler und den jungen Frauen, mit denen er sich in irgendeiner Weise sexuell einließ, entsprach gewöhnlich etwa den 23 Jahren, die zwischen seinen Eltern gelegen hatten (Stierlin, 1975, S.168).
Es ist völlig undenkbar, daß ein Mann, der als Kind von seiner Mutter zärtlich geliebt worden wäre, was ja die meisten Hitler-Biographen beteuern, an solchen sadomasochistischen Zwängen, die auf eine sehr frühe Störung hinweisen, gelitten hätte. Aber unser Begriff der Mutterliebe hat sich offenbar noch nicht ganz von der Ideologie der »Schwarzen Pädagogik« gelöst.
Zusammenfassung
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Wenn ein Leser die Überlegungen zu Adolf Hitlers früher Kindheit als Sentimentalität oder gar als »Entschuldigung« seiner Taten auffassen sollte, so ist es natürlich sein gutes Recht, das Gelesene so zu verstehen, wie er es kann oder muß. Menschen, die z.B. sehr früh lernen mußten, »auf die Zähne zu beißen«, empfinden in ihrer Identifikation mit dem Erzieher jedes einem Kind erwiesene Mitgefühl als Ausdruck von Rührseligkeit oder Sentimentalität.
Was das Schuldproblem betrifft, so habe ich ja gerade deshalb Hitler gewählt, weil mir kein anderer Verbrecher bekannt ist, der mehr Menschenleben auf seinem Gewissen hat. Aber mit dem Wort »Schuld« ist noch nichts gewonnen. Es ist selbstverständlich unser gutes Recht und eine Notwendigkeit, Mörder einzusperren, die unser Leben bedrohen. Vorläufig kennen wir noch keinen anderen Weg. Doch das ändert nichts daran, daß das Mordenmüssen der Ausdruck eines tragischen Kinderschicksals und das Gefängnis eine tragische Besiegelung dieses Schicksals ist.
Sucht man nicht nach neuen Fakten, sondern nach ihrer Bedeutung im Ganzen der bekannten Geschichte, so stößt man bei der Hitler-Forschung auf Fundgruben, die noch kaum ausgewertet worden sind und daher der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben. Meines Wissens ist z.B. die wichtige Tatsache, daß Klara Hitlers bucklige und schizophrene Schwester, Adolfs Tante Johanna, von seiner Geburt an, seine ganze Kindheit hindurch, im gleichen Haushalt lebte, bisher wenig beachtet geblieben. In den von mir gelesenen Biographien jedenfalls fand ich diese Information nie im Zusammenhang mit dem Gesetz der Euthanasie im Dritten Reich.
Damit ein solcher Zusammenhang einem Menschen auffällt, müßte dieser spüren dürfen, welche Gefühle in einem Kind hochkommen, das täglich einem extrem absurden und beängstigenden Verhalten ausgesetzt ist und dem es zugleich verboten ist, seine Angst, Wut und seine Fragen zu artikulieren. Auch die Gegenwart einer schizophrenen Tante kann vom Kind positiv verarbeitet werden, aber nur, wenn es mit seinen Eltern auf der emotionalen Ebene frei kommunizieren und mit ihnen über seine Ängste sprechen kann.
Franziska Hörl, die Hausangestellte zur Zeit Adolfs Geburt, berichtete in einem Interview mit Jetzinger, daß sie es wegen dieser Tante nicht länger ausgehalten hätte und ihretwegen weggegangen wäre. Sie sagte einfach: »Bei dieser spinnenden Buckligen bleibe ich nicht mehr« (vgl. Jetzinger, S. 81).
Das eigene Kind darf so etwas nicht sagen, es hält alles aus, es kann ja nicht weggehen; erst wenn es erwachsen wird, kann es handeln. Als Adolf Hitler erwachsen wurde und zur Macht kam, konnte er sich endlich tausendfach an dieser unglücklichen Tante für sein eigenes Unglück rächen: er ließ alle in Deutschland lebenden Geisteskranken töten, weil sie, seinem Gefühl nach, für die »gesunde« Gesellschaft (d.h. für ihn als Kind) »unbrauchbare Menschen« waren.
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Als Erwachsener mußte sich Adolf Hitler nichts mehr gefallen lassen, konnte sogar ganz Deutschland von der »Plage« der Geisteskranken und Geistesschwachen »befreien« und war auch nicht verlegen, ideologische Verbrämungen für diese ganz persönliche Rache zu finden.
Mit der Vorgeschichte des Euthanasie-Gesetzes habe ich mich in meiner Darstellung nicht beschäftigt, weil es mir in diesem Buch vor allem darum ging, die Folgen der aktiven Demütigung eines Kindes an einem eindrücklichen Beispiel zu schildern. Da eine solche Demütigung, gepaart mit Redeverbot, ein stabiler Faktor der Erziehung und überall anzutreffen ist, wird der Einfluß dieses Faktors auf die spätere Entwicklung des Kindes leicht übersehen. Mit dem Hinweis, daß Schläge üblich seien, oder gar mit der Überzeugung, daß sie notwendig sind, um zum Lernen anzuspornen, wird das Ausmaß der kindlichen Tragödie völlig ignoriert. Da ihre Beziehung zu den späteren Verbrechen nicht gesehen wird, kann sich die Welt über diese entsetzen und ihre Vorgeschichte übergehen, als ob die Mörder vom heiteren Himmel heruntergefallen wären.
Ich habe Hitler hier nur als Beispiel genommen, um zu zeigen:
daß auch der größte Verbrecher aller Zeiten nicht als Verbrecher auf die Welt gekommen ist;
daß die Einfühlung in das Kinderschicksal die Einschätzung der späteren Grausamkeiten nicht ausschließt (das gilt sowohl für Alois wie für Adolf);
daß das Verfolgen auf abgewehrtem Opfersein beruht;
daß das bewußte Erlebnis des eigenen Opferseins mehr vor Sadismus, d.h. vor dem Zwang, andere zu quälen und zu demütigen, schützt als seine Abwehr;
daß die vom Vierten Gebot und von der »Schwarzen Pädagogik« vorgeschriebene Schonung der Eltern dazu führt, ganz entscheidende Faktoren in der frühen Kindheit und der späteren Entwicklung eines Menschen zu übersehen;
daß man als erwachsener Mensch mit Beschuldigungen, Entrüstung und Schuldgefühlen nicht weiterkommt, sondern mit dem Verstehen der Zusammenhänge;
daß das wirkliche emotionale Verstehen nichts mit einem billigen, sentimentalen Mitleid zu tun hat;
daß die Ubiquität eines Zusammenhangs uns nicht davon befreit, ihn zu untersuchen, sondern ganz im Gegenteil, weil er unser aller Schicksal ist oder sein kann;
daß das Ausleben eines Hasses im Gegensatz steht zum Erleben. Das Erleben ist eine intrapsychische Realität, das Ausleben dagegen ist eine Handlung, die den andern Menschen das Leben kosten kann. Wo der Weg zum Erlebnis durch Verbote aus der »Schwarzen Pädagogik« oder durch die Bedürftigkeit der Eltern versperrt ist, da muß es zum Ausleben kommen. Dieses kann sich entweder in der destruktiven Form wie bei Hitler oder in der selbstdestruktiven wie bei Christiane F. zeigen. Es kann aber auch wie bei den meisten Verbrechern, die im Gefängnis landen, sowohl die Zerstörung des Selbst wie die des Anderen ausdrücken. Das wird am Beispiel von Jürgen Bartsch deutlich, mit dem ich mich im nächsten Kapitel beschäftige.
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