Jürgen Bartsch - Ein Leben vom Ende her wahrgenommen
»Doch noch eine Frage wird ewig offen
bleiben, daran ändert alle Schuld nichts:
Warum muß es überhaupt Menschen
geben, die so sind? Sind sie damit meist geboren?
Lieber Gott, was haben sie
vor ihrer Geburt verbrochen?«
Aus einem Brief
Jürgen Bartsch's aus dem Gefängnis.
Einleitung
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Menschen, die auf statistische Untersuchungen schwören und aus dieser Quelle ihr psychologisches Wissen beziehen, werden mein Bemühen um das Verständnis der Kinder Christiane und Adolf als unnötig und irrelevant betrachten. Ihnen müßte man statistisch nachweisen können, daß in so und so vielen Fällen von Kindesmißhandlungen später fast gleich viele Mörder hervorgegangen sind. Dieser Nachweis läßt sich aber nicht erbringen, und zwar aus folgenden Gründen nicht:
1. Die Mißhandlungen der Kinder geschehen meistens im Verborgenen und lassen sich oft nicht nachweisen. Das Kind selbst vertuscht und verdrängt solche Erfahrungen.
2. Auch wenn zahlreiche Zeugenaussagen vorliegen, finden sich immer Menschen, die das Gegenteil beweisen. Obwohl diese Beweise widersprüchlich sind, wie im Falle Jetzingers (vgl. oben, S. 181f.), wird man eher diesen Glauben schenken als dem Kind selbst, weil sie helfen, die Idealisierung der Eltern zu erhalten.
3. Da bisher der Zusammenhang zwischen Mißhandlungen des Kindes und des Säuglings und den späteren Mordtaten sowohl von Kriminologen als auch von der Mehrzahl der Psychologen kaum registriert worden ist, sind statistische Erhebungen über Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren noch nicht sehr häufig. Doch es gibt solche Untersuchungen auch.
Für mich sind statistische Erhebungen, auch wenn sie meine Erkenntnisse bestätigen, keine zuverlässige Quelle, weil sie oft von unkritischen Voraussetzungen und Begriffen ausgehen, die entweder nichtssagend (wie z.B. »behütete Kindheit«), verschwommen, vieldeutig (»viel Liebe bekommen«), oder verschleiernd (»der Vater war hart, aber gerecht«) sind, oder sogar offene Widersprüche enthalten (»er wurde geliebt und verwöhnt«).
So will ich mich nicht auf ein Begriffsnetz verlassen, dessen Löcher so groß sind, daß die Wahrheit durch sie hindurchfällt, sondern versuchen, wie schon im Hitler-Kapitel, einen andern Weg zu gehen. Statt der Objektivität der Statistik suche ich die Subjektivität des betroffenen Opfers, soweit es mir meine Einfühlung erlaubt. Dabei entdecke ich das Spiel von Liebe und Haß; auf der einen Seite den Mangel an Achtung, an Interesse für das einmalige, von den Bedürfnissen der Eltern unabhängige Wesen, den Mißbrauch, die Manipulation, die Beschränkung der Freiheit, die Demütigung und Mißhandlung und auf der anderen Liebkosungen, Verwöhnungen, Verführungen, sofern das Kind als ein Teil des Selbst erlebt wird.
Die Wissenschaftlichkeit dieser Feststellung beruht darauf, daß sie nachvollziehbar ist, mit einem Minimum an theoretischen Voraussetzungen auskommt und auch für einen Laien nachprüfbar oder widerlegbar ist. Zu den psychologischen Laien gehören ja auch Gerichtspraktiker. Statistische Untersuchungen sind wohl kaum dazu geeignet, uninteressierte Juristen in einfühlsame und hellhörige Menschen zu verwandeln. Und doch schreit jedes Verbrechen in der Art seiner Inszenierung nach Verständnis.
Die Zeitungen berichten täglich von solchen Geschichten, von denen sie leider meistens nur den letzten Akt bringen. Kann das Wissen über die wirklichen Ursachen des Verbrechens eine Änderung im Strafvollzug herbeiführen? Nicht, solange es darum geht, schuldig zu sprechen und zu bestrafen.
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Es könnte aber einmal der Sinn dafür aufkommen, daß der Angeklagte niemals der einzig Schuldige ist, wie das im Falle Bartschs sehr deutlich zutage tritt, sondern ein Opfer von vielen tragischen Verkettungen. Auch dann ist die Gefängnisstrafe nicht zu umgehen, wenn die Öffentlichkeit beschützt werden muß. Aber es ist ein Unterschied, ob man nach dem Grundsatz der »Schwarzen Pädagogik« einen bösen Verbrecher mit dem Gefängnis bestraft oder ob man die Tragödie eines Menschen wahrnimmt und ihm deshalb ermöglicht, im Gefängnis eine Psychotherapie zu machen.
Ohne große finanzielle Belastung könnte man z.B. Gefangenen erlauben, in Gruppen zu malen oder zu bildhauern. Damit hätten sie eventuell die Chance, das ihnen verborgenste Stück ihrer frühesten Vergangenheit, die erlittene Mißhandlung und die Haßgefühle kreativ auszudrücken, wodurch sich das Bedürfnis, dies durch Handlungen in Szene zu setzen und brutal auszuleben, vermindern könnte.
Um für eine solche Haltung frei zu werden, muß man begriffen haben, daß mit der Schuldigsprechung eigentlich nichts geschehen ist. Wir sind so stark im Schema des Beschuldigens behaftet, daß wir große Mühe haben, etwas anderes zu begreifen. Deshalb werde ich manchmal so interpretiert, daß meiner Meinung nach an allem die Eltern »schuld seien«, und zugleich wird mir vorgeworfen, daß ich zu viel von Opfern spreche, zu leicht Eltern »exkulpiere« und dabei vergesse, daß doch jeder Mensch für seine Taten verantwortlich sein müsse. Auch diese Vorwürfe sind Symptome der »Schwarzen Pädagogik« und zeigen die Wirksamkeit der frühesten Beschuldigungen.
Es muß sehr schwer sein, zu verstehen, daß man die Tragik eines Verfolgers oder Mörders sehen kann, ohne die Grausamkeit seines Verbrechens und seine Gefährlichkeit zu verkleinern. Wenn ich das eine oder andere in meiner Haltung aufgeben könnte, würde ich besser in das Schema der »Schwarzen Pädagogik« passen. Es ist aber gerade mein Anliegen, aus diesem Schema herauszukommen, indem ichmich auf das Informieren beschränke und auf das Moralisieren verzichte.
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Besonders Pädagogen haben mit meinen Formulierungen Mühe, weil sie sich hier, wie sie schreiben, »an nichts halten können«. Falls es der Prügelstock oder ihre Erziehungsmethoden waren, an die sie sich hielten, so wäre diese Wendung kein großer Verlust. Den Pädagogen selber würde der Verzicht auf seine erzieherischen Prinzipien allenfalls dazu führen, daß er die einst in ihn hineingeprügelten oder sehr raffiniert anerzogenen Ängste und Schuldgefühle selber erleben könnte, sobald er sie nicht auf die andern, auf die Kinder, ableiten würde. Aber gerade das Erlebnis dieser bisher abgewehrten Gefühle würde ihm einen echteren und tieferen Halt verschaffen als erzieherische Prinzipien es vermögen (vgl. A. Miller 1979).
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Der Vater eines Analysanden, der selber eine sehr schwere Kindheit hatte, ohne je darüber gesprochen zu haben, quälte manchmal seinen Sohn, in dem er sich selbst immer wieder sah, auf eine grausame Art. Weder ihm noch dem Sohn war aber diese Grausamkeit aufgefallen, beide verstanden sie als »erzieherische Maßnahme«. Als der Sohn mit schweren Symptomen in die Analyse kam, war er seinem Vater für die harte Erziehung und »strenge Zucht«, wie er sagte, sehr »dankbar«.
Der Sohn, der sich einst für Pädagogik immatrikuliert hatte, entdeckte während seiner Analyse Ekkehard von Braunmühl und seine antipädagogischen Schriften und war davon begeistert. In dieser Zeit besuchte er einmal seinen Vater und erlebte zum erstenmal mit aller Deutlichkeit, wie sein Vater ihn dauernd kränkte, indem er ihm entweder gar nicht zuhörte oder alles, was er sagte, verspottete und ins Lächerliche zog. Als sein Sohn ihn darauf aufmerksam machte, sagte sein Vater, der ein Professor für Pädagogik war, in vollem Ernst:
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»Dafür kannst Du mir dankbar sein. Du wirst noch oft in Deinem Leben ertragen müssen, daß man Dich nicht beachtet oder das, was Du sagst, nicht ernstnimmt. So bist Du eben schon daran gewöhnt, wenn Du es bei mir gelernt hast. Was man in der Jugend lernt, weiß man das ganze Leben.«
Der 24jährige Sohn war ganz verblüfft. Wie oft hatte er früher solche Äußerungen gehört, ohne je ihren Wahrheitsgehalt in Frage zu stellen. Diesmal aber stieg eine Empörung in ihm hoch, und er zitierte einen Satz, den er bei von Braunmühl gelesen hatte. Er sagte: »Wenn Du mich nach diesen Prinzipien jetzt weiter noch erziehen willst, dann müßtest Du mich eigentlich umbringen, denn einmal müßte ich auch sterben. So wäre ich ja von Dir aufs beste dafür vorbereitet.« Der Vater warf ihm zwar Frechheit und Besserwisserei vor, aber für den Sohn war dieses Erlebnis ganz ausschlaggebend. Sein Studium nahm von da an eine ganz andere Richtung.
Es ist schwer auszumachen, ob sich diese Geschichte als Beispiel für die »Schwarze« oder für die »Weiße« Pädagogik eignet. Sie fiel mir hier ein, weil sie für mich eine Überleitung zum Fall Jürgen Bartsch darstellt. Der begabte 24jährige Student wurde in seiner Analyse von grausamen, sadistischen Phantasien so sehr gequält, daß er manchmal in der Panik dachte, er könnte noch ein Kindermörder werden. Doch dank der Verarbeitung dieser Phantasien in der Analyse und dank dem Erlebnis seiner frühen Beziehung zum Vater und zur Mutter verschwanden diese Ängste mit den andern Symptomen, und eine gesunde, freie Entwicklung konnte einsetzen. Die Rachephantasien, in denen er immer wieder ein Kind ermorden wollte, ließen sich verstehen als die Verdichtung seines Hasses auf den ihn am Leben hindernden Vater und der Identifizierung mit dem Aggressor, der das Kind, das er selber war, mordet. Ich habe dieses Beispiel beschrieben, bevor ich den Fall Jürgen Bartsch darstelle, weil mir da eine Ähnlichkeit in der Psychodynamik auffallt, obwohl die Ausgänge der beiden Schicksale so verschieden sind.
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»Aus heiterem Himmel«?
Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die die Schwarze Pädagogik gelesen hatten und sehr davon beeindruckt waren, wie grausam Kinder »einst« erzogen worden waren. Sie hatten den Eindruck, daß die »Schwarze Pädagogik« endgültig der Vergangenheit angehöre, vielleicht nur noch der Kinderzeit ihrer Großeltern.
Ende der 60er Jahre fand in der Bundesrepublik ein aufsehenerregender Prozeß eines sogenannten »Triebverbrechers« namens Jürgen Bartsch statt. Der 1946 geborene junge Mann hatte bereits im Alter von 16-20 Jahren Morde an Kindern begangen, deren Grausamkeit unbeschreiblich ist.
In seinem 1972 erschienenen und leider vergriffenen Buch (Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch) berichtet Paul Moor über folgende Tatsachen:
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Am 6. November 1946 als unehelicher Sohn einer tuberkulösen Kriegswitwe und eines holländischen Saisonarbeiters geboren, wurde Karl-Heinz Sadrozinski - später Jürgen Bartsch - von seiner Mutter im Krankenhaus zurückgelassen, aus dem sie sich heimlich vorzeitig entfernte; sie starb einige Wochen später. Einige Monate nach seiner Geburt kam Gertrud Bartsch, die Frau eines wohlhabenden Essener Fleischers, in dasselbe Krankenhaus, um sich einer >Totaloperation< zu unterziehen. Sie und ihr Mann beschlossen, das verlassene Kind zu sich zu nehmen, trotz der Bedenken, die die Adoptionsbehörden im Jugendamt wegen der zweifelhaften Herkunft des Kindes hatten und die so stark waren, daß die tatsächliche Adoption erst sieben Jahre später erfolgte. Die neuen Eltern hielten das Kind, als es heranwuchs, sehr streng und isolierten es völlig von anderen Kindern, weil es nicht erfahren sollte, daß es adoptiert war. Als der Vater einen zweiten Fleischerladen aufmachte (mit dem Ziel, Jürgen so früh wie möglich ein eigenes Geschäft zu verschaffen) und Frau Bartsch dort arbeiten mußte, sorgten zuerst die Großmutter und dann eine Reihe von Dienstmädchen für das Kind.
Im Alter von zehn Jahren wurde Jürgen Bartsch von seinen Eltern in ein Kinderheim in Rheinbach gebracht, in dem sich etwa zwanzig Kinder befanden. Aus dieser verhältnismäßig angenehmen Atmosphäre kam er mit zwölf Jahren in eine katholische Schule, wo dreihundert Knaben, darunter bereits Schwererziehbare, in strenger militärischer Zucht gehalten wurden.
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Jürgen Bartsch hat von 1962 bis 1966 vier Knaben ermordet und schätzt, daß er mehr als hundert weitere erfolglose Versuche unternahm. Jeder Mord zeigte kleinere Abweichungen, aber die Hauptprozedur blieb die gleiche: nachdem er einen Knaben in einen leeren ehemaligen Luftschutzbunker in der Heegerstraße in Langenberg, ganz nahe der Wohnung der Bartschs, gelockt hatte, machte er ihn durch Schläge gefügig, fesselte ihn mit Schinkenschnur, manipulierte seine Genitalien, während er selber manchmal masturbierte, tötete das Kind durch Erwürgen oder Erschlagen, schnitt den Leib auf, leerte Bauch- und Brusthöhle vollständig und begrub die Überreste.
Die verschiedenen Varianten umfaßten die Zerstückelung der Leiche, Abtrennung der Gliedmaßen, Enthauptung, Kastration, Ausstechen der Augen, Herausschneiden von Fleischstücken aus Gesäß und Schenkeln (an denen er roch) und den vergeblichen Versuch analen Geschlechtsverkehrs. In seiner eigenen, außerordentlich detaillierten Schilderung in der Voruntersuchung und während der Verhandlung betonte Bartsch, daß er den Höhepunkt der geschlechtlichen Erregung nicht bei seiner Masturbation erreichte, sondern beim Schneiden, das ihn zu einer Art Dauerorgasmus brachte. Bei seinem vierten, letzten Mord gelang ihm schließlich, was ihm seit jeher als höchstes Ziel vorgeschwebt hatte: er band sein Opfer an einen Pfahl und schlachtete das schreiende Kind, ohne es vorher zu töten (S. 22 f.).
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Wenn solche Taten an die Öffentlichkeit kommen, bewirken sie begreiflicherweise eine Welle von Empörung, Entrüstung, ja Entsetzen. Zugleich staunt man darüber, wie so eine Grausamkeit überhaupt möglich sei, und dies bei einem Jungen, der freundlich, sympathisch, intelligent und sensibel war und gar keine Züge eines bösen Verbrechers getragen hat. Dazu kam, daß seine ganze Vorgeschichte und Kindheit auf den ersten Blick auch nichts besonderes an Grausamkeit aufwies; er wuchs in einem geordneten bürgerlichen Haus auf, das wie viele andere war, in einer Familie mit vielen Steifftierchen, mit der man sich leicht identifizieren kann.
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Viele Leute konnten denken: »So anders ging es ja bei uns auch nicht zu, das ist doch ganz normal, da müßten ja alle Verbrecher werden, wenn die Kindheit daran beteiligt sein sollte.« Man konnte sich kaum etwas anderes vorstellen, als daß dieser Junge »abnormal« auf die Welt gekommen sei. Auch die neurologischen Gutachter haben immer wieder betont, daß Jürgen Bartsch nicht aus einem verwahrlosten Milieu, sondern aus einer gut für ihn sorgenden Familie stammte, aus »wohlbehüteten Verhältnissen«, und deshalb allein die Verantwortung für seine Taten trage.
Es ergibt sich also wieder wie im Falle Adolf Hitler das Bild von harmlosen, anständigen Eltern, denen der liebe Gott oder der böse Teufel aus unverständlichen Gründen ein Ungeheuer in die Wiege gelegt hat., Aber die Ungeheuer werden nicht vom Himmel oder aus der Hölle in die frommen bürgerlichen Stuben geschickt. Kennt man einmal die Mechanismen der Identifikation mit dem Aggressor, der Abspaltung und Projektion und der Übertragung der eigenen Kindheitskonflikte auf das Kind, die die Erziehung zur Verfolgung machen, dann kann man sich nicht mehr mit mittelalterlichen Erklärungen abfinden. Wenn man außerdem weiß, wie stark diese Mechanismen im Einzelnen wirksam sind, wie intensiv und zwanghaft sie ihn befallen können, erblickt man in jedem heben eines solchen »Ungeheuers« die logische Folge seiner Kindheit. Ich werde später versuchen, diesen Gedanken am Leben von Bartsch zu illustrieren.
Aber vorher noch stellt sich die Frage, warum es so schwer ist, das psychoanalytische Wissen vom Menschen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Paul Moor, der in den Vereinigten Staaten aufgewachsen ist und seit 30 Jahren in der BRD wohnt, wunderte sich über das Menschenbild der zuständigen Beamten während des ersten Prozesses. Er konnte es nicht begreifen, daß die im Prozeß beteiligten Menschen angesichts dieser Situation all das nicht merkten, was ihm, dem im Ausland Geborenen, sofort aufgefallen war.
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Natürlich spiegeln sich in jedem Gerichtssaal die Normen und Tabus einer Gesellschaft. Was die Gesellschaft nicht sehen darf, sehen auch ihre Richter und Staatsanwälte nicht. Aber es wäre zu leicht, hier nur von »einer Gesellschaft« zu sprechen, denn die Gutachter und die Richter sind ja auch Menschen. Sie wurden vielleicht ähnlich wie Jürgen Bartsch erzogen, haben von klein auf dieses System idealisiert und angepaßte Abfuhrmöglichkeiten gefunden. Wie sollte ihnen jetzt das Grausame dieser Erziehung auffallen, ohne daß ein ganzes Gebäude zusammenstürzen müßte?
Es ist, gerade eines der Hauptziele der »Schwarzen Pädagogik«, das Sehen, Wahrnehmen und Beurteilen des in der Kindheit Erlittenen von Anfang an zu verunmöglichen. Immer wieder kommt in den Gutachten der bezeichnende Satz vor, daß doch »auch andere Menschen« so erzogen wurden, ohne Sexualverbrecher zu werden. So wird das bestehende Erziehungssystem gerechtfertigt, wenn darauf hingewiesen werden kann, daß nur einzelne, »abnorme« Menschen als Verbrecher daraus hervorgegangen sind.
Es gibt keine objektiven Kriterien, die uns erlauben würden, die eine Kindheit als »besonders schlimm« und die andere als »weniger schlimm« zu bezeichnen. Wie ein Kind sein Schicksal erlebt, hängt auch von seiner Sensibilität ab, und die ist von Mensch zu Mensch verschieden. Außerdem gibt es in jeder Kindheit winzige rettende wie auch vernichtende Umstände, die sich einem Beobachter von außen entziehen können. Diese schicksalhaften Faktoren lassen sich kaum verändern.
Was sich aber ändern kann und wird, ist unser Wissen über die Folgen unseres Tuns. Es geht auch im Umweltschutz nicht mehr um Altruismus oder um »gutes Benehmen«, seitdem wir wissen, daß die Luft- und Gewässerverschmutzung eine Angelegenheit unseres eigenen Überlebens ist. Erst dann können Gesetze durchgesetzt werden, die einem hemmungslosen Verschmutzen der Umwelt Einhalt gebieten. Das hat mit Moralisieren nichts zu tun, es geht um Selbsterhaltung.
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Ähnliches gilt für die Erkenntnisse der Psychoanalyse. Solange das Kind als Container angesehen wird, in den man unbeschadet alle »Affektabfalle« hineinwerfen kann, wird sich an der Praxis der »Schwarzen Pädagogik« nicht viel ändern. Zugleich werden wir uns über die rapide Zunahme der Psychosen, Neurosen und der Drogensucht bei Jugendlichen wundern, über die sexuellen Perversionen und Gewalttätigkeiten empören und entrüsten und uns darin üben, Massenmorde als einen unumgänglichen Teil unseres Lebens anzusehen.
Wird aber das analytische Wissen in die Öffentlichkeit durchdringen — und das wird dank einzelner jüngerer, freier aufwachsenden Menschen sicher einmal geschehen —, dann läßt sich die im Gesetz über die »elterliche Gewalt« verankerte Rechtlosigkeit des Kindes im Interesse der ganzen Menschheit nicht mehr verantworten. Es wird nicht mehr selbstverständlich sein, daß Eltern ihre Wut und ihren Jähzorn am Kind ungehemmt auslassen dürfen, während vom Kind von klein auf die Beherrschung seiner Affekte verlangt wird.
Es muß sich doch auch etwas im Verhalten der Eltern ändern, wenn sie erfahren, daß das, was sie bisher im guten Glauben als »notwendige Erziehung« praktiziert haben, im Grunde eine Geschichte von Erniedrigungen, Kränkungen und Mißhandlungen ist. Mehr noch, mit dem zunehmenden Verständnis der Öffentlichkeit für die Zusammenhänge zwischen Verbrechen und frühkindlichen Erfahrungen bleibt es kein Geheimnis unter Fachleuten mehr, daß jedes Verbrechen eine verborgene Geschichte aufdeckt, die sich nun aus den einzelnen Details und Inszenierungen der Tat ablesen läßt. Je genauer wir diese Zusammenhänge studieren, um so mehr brechen wir die Schutzmauern auf hinter denen bisher unbestraft zukünftige Verbrecher gezüchtet wurden. Die Quelle der späteren Racheakte ist der Umstand, daß der Erwachsene seinen Aggressionen beim Kind freien Lauf lassen kann, während die Gefühlsreaktionen des Kindes, die noch intensiver sind als beim Erwachsenen, mit aller Gewalt und mit stärksten Sanktionen unterdrückt werden.
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Wenn man aus der analytischen Praxis weiß, mit welchen Staudämmen und Aggressionen und um welchen Preis an Gesundheit gut funktionierende und unauffällige Menschen leben müssen, dann könnte man denken, daß es jedesmal ein Glück, aber keine Selbstverständlichkeit war, wenn einer nicht zum Sexualverbrecher wurde. Es gibt zwar auch andere Möglichkeiten, mit diesen Staudämmen zu leben, wie eben die Psychose, die Sucht oder die perfekte Anpassung, die immerhin noch die Delegation der Staudämme auf das eigene Kind ermöglicht (wie im Beispiel auf Seite 235 f.), aber in der Vorgeschichte des Sexualverbrechens finden sich spezifische Faktoren, die tatsächlich viel häufiger vorkommen, als man gewöhnlich bereit ist, einzusehen. Sie tauchen auch in Analysen häufig in Form von Phantasien auf, die gerade nicht in die Tat umgesetzt werden müssen, weil das Erlebnis dieser Regungen ihre Integration und Reifung ermöglicht.
Was erzählt ein Mord über die Kindheit des Mörders?
Paul Moor hat sich nicht nur in einer sehr langen Korrespondenz bemüht, den Menschen Jürgen Bartsch zu verstehen, sondern hat auch mit vielen Menschen gesprochen, die ihm etwas über Bartsch sagen konnten und die dazu bereit waren. Seine Nachforschungen über das erste Lebensjahr ergaben folgendes:
Schon am Tage seiner Geburt, am 6. November 1946, befand sich Jürgen Bartsch in einem pathogenen Milieu. Er wurde sofort nach der Entbindung von seiner tuberkulösen Mutter, die wenige Wochen später starb, getrennt. Eine Ersatzmutter für das Baby gab es nicht. In Essen, immer noch heute im Dienst auf der Wöchnerinnenstation, fand ich Schwester Anni, die Jürgen noch klar in Erinnerung hat: »Es war so ungewöhnlich, Kinder mehr als zwei Monate im Krankenhaus zu behalten. Jürgen blieb aber elf Monate bei uns.«
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Die moderne Psychologie weiß, daß das erste Jahr im Leben eines Menschen das wichtigste ist. Mütterliche Wärme und körperlicher Kontakt haben einen unersetzlichen Wert für die spätere Entwicklung des Kindes.
Aber schon in der Krankenhauskrippe begann die ökonomische und soziale Einstellung der späteren Adoptiveltern das Leben des Babys zu bestimmen. Schwester Anni: »Frau Bartsch hat extra bezahlt, damit er hier bei uns bleiben konnte. Sie und ihr Mann wollten ihn adoptieren, aber die Behörden zögerten, weil sie Bedenken über die Herkunft des Kindes hatten. Wie er war seine Mutter auch außerehelich geboren. Sie hatte auch eine Zeitlang bei der Fürsorgeerziehung verbracht. Man wußte nicht genau, wer der Vater war. Normalerweise schickten wir elternlose Kinder nach einer gewissen Zeit auf eine andere Station, aber Frau Bartsch wollte das nicht zulassen. Auf der anderen Station gab es ja alle möglichen Kinder, auch von asozialen Eltern. Ich erinnere mich noch heute, was das Kind für strahlende Augen hatte. Er lächelte sehr früh, verfolgte, hob das Köpfchen, alles sehr, sehr früh. Einmal entdeckte er, daß die Schwester kommen würde, wenn er auf einen Knopf drückte, und das machte ihm großen Spaß. Er hatte damals keine Eßschwierigkeiten. Er war ein völlig normales, gediehenes, ansprechbares Kind.«
Andererseits aber kamen pathologisch frühe Entwicklungen. Die Schwestern auf der Station mußten Ausnahmemethoden erfinden, da ein so großes Kind selber eine Ausnahme bildete. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, daß die Schwestern das Baby schon mit weniger als elf Monaten >sauber< gekriegt hatten. Schwester Anni fand mein Erstaunen offensichtlich merkwürdig. »Vergessen Sie bitte nicht, wie das damals war, nur ein Jahr nach einem verlorenen Krieg. Es gab überhaupt keinen Schichtwechsel für uns.« Meine Fragen, wie sie und ihre Kolleginnen das geschafft hätten, beantwortete Schwester Anni ein bißchen ungeduldig. »Wir haben ihn einfach auf das Töpfchen gesetzt. Das fing mit sechs oder sieben Monaten an. Wir hatten Kinder hier im Krankenhaus, die schon mit elf Monaten laufen konnten, und auch sie waren schon fast <sauber>.« Unter den Umständen dürfte man nicht von einer deutschen Krankenschwester dieser Generation, nicht einmal von einer so gutherzigen [.....], aufgeklärtere Kindererziehungsmethoden erwarten.
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Nach elf langen Monaten dieser pathogenen Existenz kam das Kind, jetzt Jürgen genannt, zu den Adoptiveltern Bartsch. Jedem, der Frau Bartsch näher kennt, fällt auf, daß sie ein >Putzteufel< ist. Kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wurde das Baby aus seiner anomal frühen >Sauberkeit< rückfällig. Das ekelte Frau Bartsch an.
Bekannte der Familie Bartsch sahen damals, daß das Baby immer wieder Blutergüsse hatte. Frau Bartsch brachte jedesmal eine neue Erklärung für die Flecken, aber sie wirkten wenig überzeugend. Mindestens einmal während jener Zeit hat der bedrückte Vater Gerhard Bartsch einem Freund bekannt, daß er eine Scheidung erwäge: »Sie schlägt das Kind so, ich vertrage es einfach nicht mehr.« Ein anderes Mal, als er sich verabschiedete, entschuldigte sich Herr Bartsch, daß er es so eilig hatte: »Ich muß nach Hause, sonst schlägt sie mir das Kind tot« (Moor, 1972, S. 8of.).
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Über diese Zeit kann Jürgen selbstverständlich nichts erzählen, aber vermutlich sind die vielen Angstzustände, von denen er berichtet, die Folge dieses Schlagens: »Als Kleinkind schon hatte ich immer furchtbare Angst vor der polternden Art meines Vaters. Und was mir schon damals auffiel, ich habe ihn kaum je lachen gesehen.«
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»Warum die Angst, von der ich schrieb? Nicht so sehr vor der Beichte, als vor den anderen Kindern. Sie wissen ja nicht, daß ich der Prügelknabe der ersten Klassen war, was sie alles mit mir angestellt haben. Wehren? Tun Sie das mal, wenn Sie der Kleinste in der Klasse sind! Ich konnte vor Angst in der Schule nicht singen und auch nicht turnen! Ein paar Gründe dafür: Klassenkameraden, die außerhalb der Schulzeit nicht gesehen werden, werden nicht anerkannt, nach der Parole: <Der hat's wohl nicht nötig!> Ob er aber nicht will oder nicht kann, darin machen die Kinder keinen Unterschied. Ich konnte nicht. Paar Tage nachmittags bei meinem Lehrer Herrn Hünnemeier, paar Tage in Werden bei meiner Oma auf dem Boden geschlafen, restliche Tage nachmittags in Katernberg im Laden. Endergebnis: überall und nirgends zu Hause, keine Kameraden, keine Freunde, weil man niemanden kennt. Das sind die Hauptgründe, doch kommt noch etwas Wichtiges dazu: bis zum Schulanfang eingesperrt, fast ausschließlich in dem alten Gefängnis unter Tage,
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mit den vergitterten Fenstern und mit Kunstlicht. Drei Meter hohe Mauer, alles da. Man darf nur an der Hand der Oma raus, mit keinem anderen kleinen Kind spielen. Sechs Jahre nicht. Man könnte sich ja dreckig machen, >und außerdem ist der und der nichts für dich!< Bleibt man also ergeben darin, aber drin ist man nur im Wege und wird von einer Ecke in die andere gestoßen, kriegt Schläge, wenn man sie nicht verdient hat, und keine, wenn man sie verdient hat. Die Eltern haben keine Zeit. Vor dem Vater hat man Angst, weil er sofort schreit, und die Mutter war damals schon hysterisch. Vor allem aber: Kein Kontakt zu gleichaltrigen, weil, wie gesagt, verboten! Wie also sich einordnen? Die Schüchternheit austreiben, was mir beim Spiel geschehen kann? Nach sechs Jahren ist es zu spät!« (S. 56f.)
Dieses Eingesperrtsein wird später eine wichtige Rolle spielen. Der erwachsene Mann wird kleine Jungen in einen unterirdischen Bunker locken, um sie dort umzubringen. Weil er als Kind niemanden hat, der seine Not versteht, kann er sie nicht erleben, muß den Schmerz unterdrücken, »den Kummer nicht merken lassen«:
»Ich war nicht in allem ein Feigling, und ein solcher wäre ich gewesen, hätte ich mein Leid irgend jemanden merken lassen. Mag sein, daß das falsch war, doch so dachte ich jedenfalls. Denn jeder Junge hat ja seinen Stolz, das wissen Sie sicher. Nein, ich habe nicht jedesmal geheult, wenn ich Prügel bezog, das fand ich <memmenhaft>, und so war ich wenigstens in einem Punkt tapfer, nämlich, meinen Kummer niemand merken zu lassen. Aber jetzt mal ganz im Ernst, zu wem hätte ich denn gehen, wem mein Herz ausschütten sollen? Meinen Eltern? So gern wir sie haben, müssen wir doch mit Schrecken feststellen, daß sie in dieser Richtung nie, aber auch noch nie, auch nur ein Tausendstelgramm Sinn entwickeln konnten. Konnten, sage ich, nicht haben, daran sehen Sie bitte meinen guten Willen! Und, was auch kein Vorwurf ist, sondern eine einfache Tatsache: Ich bin der ernsten Überzeugung, ja, habe es am eigenen Leib erfahren, daß meine Eltern niemals mit Kindern umgehen konnten« (S. 59).
Erst im Gefängnis macht Jürgen seinen Eltern zum ersten Mal Vorwürfe:
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»Ihr hättet mich nie von den anderen Kindern absperren dürfen, so bin ich in der Schule nur ein feiger Hund gewesen. Ihr hättet mich nie zu diesen Sadisten im Schwarzrock schicken dürfen, und nachdem ich ausgerissen war, weil der Pater mich mißbraucht hatte, hättet ihr mich nie wieder ins Heim zurückbringen dürfen. Aber das wußtet ihr ja nicht. Mami hätte das Aufklärungsbuch, das ich von Tante Martha kriegen sollte, nicht in den Ofen werfen dürfen, als ich elf oder zwölf war. Warum habt ihr in zwanzig Jahren nicht ein einziges Mal mit mir gespielt? Aber vielleicht hätte all das anderen Eltern auch passieren können. Für euch war ich wenigstens ein Wunschkind. Wenn ich davon auch zwanzig Jahre nichts gemerkt habe, sondern erst heute, wo es verdammt spät ist.«
»Wenn meine Mutter den Vorhang zur rechten Seite schmiß und wie so ein Dragoner aus dem Geschäft raus gefegt kam und ich im Weg war, dann klatsch! klatsch! klatsch! kriegte ich ein paar ins Gesicht. Einfach weil ich im Weg war, das war oft genug der einzige Grund. Ein paar Minuten später war ich plötzlich der liebe Junge, den man auf den Arm nehmen und küssen muß. Die hat sich dann gewundert, daß ich mich sträubte und Angst hatte. Schon als ganz kleiner Junge hatte ich Angst vor dieser Frau, genauso, wie vor meinem Vater, aber von meinem Vater habe ich noch weniger gesehen. Ich frage mich heute nur, wie er das ausgehalten hat.
Er war manchmal von morgens um vier bis abends um zehn oder elf Uhr ununterbrochen am Arbeiten, meistens in der Wurstküche. Den habe ich tagelang überhaupt nicht gesehen, und wenn ich ihn hörte oder sah, dann nur wie er durch die Gegend gejagt ist, wie er brüllte. Aber als ich Wickelsäugling war und die Windeln vollmachte, er ist derjenige gewesen, der sich um mich kümmerte. Er hat nämlich selber erzählt: >Ich bin derjenige gewesen, der immer die Windeln waschen und wechseln mußte. Meine Frau hat es nie gemacht. Sie konnte das nicht, sie konnte sich nicht dazu überwinden^ Ich habe nie die Absicht, meine Mutter mies zu machen. Ich habe meine Mutter gern, ich liebe meine Mutter, aber ich glaube nicht, daß sie ein Mensch ist, der irgendeiner besonderen Einsicht fähig ist. Meine Mutter muß mich sehr lieben. Ich finde es wirklich frappierend, sonst würde sie nicht alles tun, was sie für mich tut. Früher habe ich viel vor die Nase gekriegt. Kleiderbügel hat sie an mir kaputtgeschlagen, wenn ich z. B. die Schularbeiten nicht richtig oder nicht schnell genug machte.
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Das mit dem Baden hat sich so eingebürgert. Meine Mutter hatte mich immer gebadet. Sie hat nie damit aufgehört, und ich habe nie gemeckert, obwohl ich gerne mal gesagt hätte: <Nun, Gott....> Aber ich weiß es nicht, es ist genau so gut möglich, daß ich das bis %um Schluß als selbstverständlich ansah. Auf jeden Fall mein Vater hätte nicht reinkommen dürfen. Da hätte ich geschrien. Bis ich neunzehn war und verhaftet wurde, war das so: Ich habe mir selber die Füße und die Hände gewaschen. Meine Mutter hat mir den Kopf, den Hals und den Rücken gewaschen. Das wäre vielleicht normal gewesen, aber über den Bauch ist sie auch gegangen, bis unten hin, und auch die Oberschenkel, also praktisch von oben bis unten alles runter. Man kann durchaus sagen, daß sie viel mehr machte als ich. Ich habe meistens überhaupt nichts gemacht, obwohl sie sagte: >Wasche Dir die Hände und Füße.< Aber ich war meistens ziemlich faul. Weder meine Mutter noch mein Vater hat mir jemals gesagt, ich sollte das Geschlechtsteil unter der Vorhaut sauberhalten. Meine Mutter hat mir das beim Baden auch nicht gemacht.
Ob ich das Ganze absonderlich fand? Das ist ein Gefühl, das periodisch für Sekunden oder Minuten aufkommt und vielleicht nahe daran ist, durchzubrechen, aber es kommt nicht ganz bis zur Oberfläche. Ich habe das empfunden, aber nicht direkt. Ich habe das nur indirekt empfunden, wenn man etwas überhaupt indirekt empfinden kann.
Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals spontan zärtlich mit meiner Mutter war, daß ich sie in den Arm nahm und versuchte, mit ihr zu schmusen. Ich kann mich dunkel daran erinnern, daß sie mich mal abends beim Fernsehen, wenn ich im Bett zwischen meinen Eltern lag, so genommen hat, aber das mag in vier Jahren zweimal vorgekommen sein, und ich habe das auch eher abgewehrt. Meine Mutter war nie besonders glücklich darüber, aber ich habe immer so eine Art Horror vor ihr gehabt. Ich weiß nicht, wie man das nennen soll, vielleicht eine Ironie des Schicksals, oder noch etwas trauriger. Wenn ich als kleiner Junge von meiner Mutter träumte, entweder verkaufte sie mich oder sie kam mit dem Messer auf mich los. Das zweite ist auch später leider Gottes wahr geworden.
Das war 1964 oder 1965. Ich glaube, es war ein Dienstag, meine Mutter war damals nur dienstags und donnerstags in Katernberg im Geschäft. In der Mittagszeit wurden die Fleischstücke umgepackt und die Theken abgewaschen. Meine Mutter hat eine
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Hälfte abgewaschen und ich die andere. Die Messer wurden auch abgewaschen, sie standen in einem Eimer. Ich sagte, ich sei fertig aber sie hatte ihren schlechten Tag und sagte: >Du bist noch lange nicht fertigk >Doch<, sagte ich, >guck dir es an.< Sie sagte: >Guck dir bloß die Spiegel an, die mußt du alle noch mal machen.< Ich sagte: >Ich werde die auch nicht noch mal machen, weil sie schon schön blank sind.< Sie stand hinten am Spiegel. Ich stand drei oder vier Meter von ihr weg. Sie bückte sich in den Eimer. Ich denke, was ist jetzt los? Dann holte sie ein schönes, langes Metzgermesser raus und warf es auf mich zu, etwa in Schulterhöhe. Ich weiß nicht mehr, ob es an einer Waage abprallte oder wo, aber auf jeden Fall landete es auf einem Brett. Wenn ich nicht im letzten Moment ausgewichen hätte, hätte sie mich damit getroffen.
Ich habe steif gestanden wie ein Brett. Ich wußte überhaupt nicht, wo ich war. Es war irgendwie so unwirklich. Das war eine Sache, die man sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Dann kam sie auf mich zu, spuckte mir ins Gesicht, und fing an, zu schreien, daß ich ein Stück Scheiße wäre. Dann schrie sie noch: >Ich werde Herrn Bitter< — Leiter des Essener Jugendamts — >anrufen, dann kann er dich gleich abholen, damit du hinkommst, wo du hergekommen bist, denn dort gehörst du hin!< Ich bin in die Küche zur Verkäuferin, Frau Ohskopp, gelaufen, sie wusch die Sachen vom Mittagessen. Ich stellte mich an den Schrank und hielt mich da fest. Ich sagte: >Sie hat ein Messer nach mir geworfen.> - <Du spinnst>, sagte sie, >du bist nicht gescheit.>
Ich bin die Treppe in den Lokus runtergelaufen und habe mich hingesetzt und wie ein Schloßhund geheult. Als ich dann wieder raufging, lief meine Mutter in der Küche herum und hatte das Telefonbuch aufgeschlagen. Wahrscheinlich hat sie tatsächlich die Nummer von Herrn Bitter gesucht. Eine ganze Zeitlang hat sie mit mir nicht gesprochen. Anscheinend meinte sie, das ist ein böser Mensch, der sich mit einem Messer bewerfen läßt und einfach zur Seite springt, ich weiß es nicht.«
»Sie sollten meinen Vater mal hören! Er hat ein ganz außergewöhnliches Organ, eine echte Oberfeldwebel-, Schirrmeister-, Kommißstimme. Furchtbar! Es kann verschiedene Ursachen geben — seine Frau, sonst irgendetwas, das ihm nicht gefällt. Manchmal gab es ein ganz furchtbares Gebrüll, aber ich bin überzeugt, daß er das nicht beileibe selber so empfindet. Er kann nicht anders. Als Kind war das für mich grauenhaft. Ich habe viele solche Erinnerungen.
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Er hatte immer Kommandobefehle und Rügen zu verteilen. Er kann halt nicht anders, ich sagte es ja schon öfters. Aber er hat verdammt viel um den Kopf, und so wollen wir es ihm nicht übelnehmen.
Im ersten Prozeß hat der Vorsitzende meinem Vater gesagt: <Herr Bartsch, wie ist das gewesen, da im Heim in Marienhausen soll so viel geschlagen worden sein, da soll es so brutal gewesen sein.> Mein Vater hat geantwortet, wörtlich: <Na, schließlich ist er ja nicht totgeschlagen worden.> Das war eine deutliche Antwort.
Meine Eltern waren in der Regel tagsüber für mich nie erreichbar. Natürlich rauschte mal ab und zu meine Mutter im Eilzugstempo an mir vorbei, aber sie war verständlicherweise für ein Kind nicht ansprechbar. Den Mund aufzumachen wagte ich kaum, denn ich stand überall im Wege, und das, was man Geduld nennt, hat meine Mutter nie gezeigt. Es ist oft passiert, daß ich Schläge bekam, aus dem einfachen Grund, weil ich sie etwas fragen oder bitten wollte und ihr dabei im Weg war.
Ich habe sie innerlich nie verstehen können. Ich weiß, wie sehr sie mich liebte und noch liebt, aber ein Kind, so dachte ich immer, muß das auch spüren. Nur ein Beispiel (es ist keinesfalls ein Einzelfall, so etwas habe ich oft erlebt): Meine Mutter fand absolut nichts dabei, mich in einer Minute in den Arm zu nehmen und zu küssen, und in der nächsten Minute sah sie, daß ich aus Versehen die Schuhe anbehalten hatte, nahm einen Kleiderbügel aus dem Schrank und zerschlug ihn auf mir. In dieser Art etwa geschah oft etwas, und jedesmal zerbrach irgend etwas in mir. Diese Behandlung, diese Dinge habe ich nie vergessen können und werde es nicht können, hier stehe ich und kann nicht anders. Mancher würde sagen, ich sei undankbar. Das stimmt wohl kaum, denn dies alles ist nicht mehr und nicht weniger als der Eindruck, der erlebte Eindruck, den ich habe, und die Wahrheit sollte eigentlich besser sein als fromme Lügen.
Meine Eltern hätten gar nicht erst heiraten sollen. Wenn zwei Menschen, die kaum Gefühle zeigen können, eine Familie gründen, so muß es meiner Ansicht nach irgendein Unglück geben. Es hieß immer: >Mund haken, du bist der Jüngste, du hast sowieso nichts zu sagen, sprich nicht als Kind, wenn du nicht gefragt bist.<«
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»Am traurigsten bin ich, wenn ich zu Hause bin, wo alles so steril ist, daß man bald auftreten muß nur auf Zehenspitzen, ist ja alles sooo sauber, wenn es Heiligabend ist, und ich gehe runter ins Wohnzimmer. Viele Geschenke sind da für mich, ist ja ganz toll, und wenigstens an diesem Abend beherrscht meine Mutter einigermaßen ihr Wechselbad-Temperament, so daß man meint, vielleicht kannst du heute abend mal deine (also meine) eigene Schlechtigkeit etwas vergessen, aber es knistert irgendwie Spannung in der Luft, so daß man weiß: es wird ja doch wieder Scheiße; wenn man wenigstens ein Weihnachtslied singen könnte, und die Mutter sagt: >Nun sing doch mal ein Weihnachtslied!<, und ich sage: >Ach, laß doch, kann ich nicht, bin ich doch auch viel zu groß für<, aber denken tue ich: >Kindermörder singt Weihnachtslieder, da soll man nicht verrückt werden.<
Ich packe meine Geschenke aus und >freue< mich, zumindest tue ich so. Mutter packt ihre Geschenke aus, die von mir, und freut sich wirklich. Inzwischen ist das Essen fertig, Hühnersuppe mit dem Huhn drin, und der Vater kommt, zwei Stunden nach mir, er hat bis jetzt gearbeitet. Er wirft Mutter irgendein Haushaltsgerät vor die Füße, ihr kommen die Tränen vor Rührung, und er brummt irgendetwas, das >Fröhliche Weihnachten bedeuten könnte. Er setzt sich an den Eßtisch: >Na, wie ist das, kommt ihr endlich?< Schweigend wird die Suppe gelöffelt, das Huhn rühren wir nicht an.
Kein Wort wird gesprochen während dieser Zeit, nur das Radio spielt leise, wie schon seit Stunden. >Die Hoffnung und Beständigkeit gibt Kraft und Trost zu dieser Zeit. . .< Wir sind fertig mit Essen. Vater setzt sich auf und brüllt uns an: >Prima! Und was machen wir jetzt?<, so laut er kann, richtig gemein hört es sich an. >Nichts machen wir jetzt!< schreit meine Mutter und läuft weinend in die Küche. Ich denke: >Wer straft mich da, das Schicksal oder der liebe Gott?<, weiß aber sofort, daß das so nicht stimmen kann, und der Sketsch fällt mir ein, den ich im Fernsehen gesehen habe: >Dasselbe wie letztes Jahr, Madame?< — dasselbe wie jedes Jahr, James!<
Ich frage leise: >Willst du nicht wenigstens nachschauen, was wir dir geschenkt haben?< — >Nein!< — Er sitzt nur da und stiert mit leerem Blick auf das Tischtuch. Es ist noch keine acht Uhr. Ich habe hier unten nichts mehr zu suchen, mache, daß ich auf mein Zimmer komme, laufe da hin und her, und es ist ernst mit den Gedanken: >Springst du nun aus dem Fenster oder nicht?<
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Warum habe ich die Hölle hier, warum wäre ich besser tot als so was zu erleben? Weil ich ein Mörder bin? Das kann gar nicht ganz stimmen, es war heute nicht anders als jedes Jahr. Dieser Tag war immer am schlimmsten, am meisten natürlich in den letzten Jahren, als ich noch zu Hause war. Da kam an einem Tag alles, aber auch wirklich alles, zusammen.
Natürlich gehört mein Vater (meine Mutter natürlich auch) zu den Menschen, die überzeugt sind, die >Erziehung< der Nazis hätte auch ihr Gutes gehabt. >Selbstverständlich<, möchte ich beinah sagen, habe ich auch meinen Vater schon sagen hören (im Gespräch mit ebenfalls älteren Leuten, die ja nahezu alle so denken!), >da war noch Disziplin, da war Ordnung, die kamen nicht auf dumme Gedanken, wenn sie geschliffen wurden< usw. Ich glaube, daß die meisten jungen Leute so wie ich darauf verzichten würden, sich über Verwandte in puncto Drittes Reich zu erkundigen, weil ja jeder von uns befürchten muß, es käme irgend etwas dabei heraus, das wir lieber gar nicht wissen wollten.
Die Geschichte von ihr und vom Fleischermesser im Laden war mit Sicherheit nach der dritten Tat, aber, nicht ganz so kraß, war ähnliches (natürlich nur mit meiner Mutter) schon vorher vorgekommen. So etwa alle Halbejahr, auch schon vor der ersten Tat. Immer dann, wenn sie mich schlug. Sie wurde immer wütend, wenn ich die Schläge abwehrte. Ich sollte so quasi strammstehen, um die Prügel zu empfangen. So mit sechzehn-einhalb bis neunzehn Jahren, wenn sie mich da schlagen wollte und hatte etwas in der Hand, da habe ich es ihr dann einfach aus der Hand genommen. Das war für sie so ziemlich das Schlimmste. Sie empfand das als Auflehnung, obwohl es nur Notwehr war, denn sie ist beileibe nicht schwach. Und in den Momenten hätte sie es in Kauf genommen, mich zu verletzen. So etwas merkt man.
Das waren immer Gelegenheiten, bei denen ich entweder irgend etwas gegen ihren Ordnungssinn getan hatte (>Das Vorzimmer ist geputzt, da kommt mir heute keiner rein!<) oder ein Wider-wort gegeben hatte«
(aus Moor, 1972, S. 63-79).
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Ich habe Jürgen Bartsch eine Weile erzählen lassen, ohne ihn zu unterbrechen, um dem Leser etwas von der Atmosphäre einer analytischen Stunde vermitteln zu können. Man sitzt da, hört zu, und wenn man dem Patienten glaubt, ihn nicht erzieht, ihm keine Theorien anbietet, tut sich manchmal mitten im wohlbehüteten Elternhaus eine Hölle auf, von deren Existenz weder die Eltern noch der Patient bisher etwas geahnt haben.
Könnte man sagen, daß Jürgen Bartschs Eltern bessere Eltern gewesen wären, wenn sie gewußt hätten, daß das spätere Verhalten ihres Sohnes ihr eigenes an die Öffentlichkeit tragen wird? Das ist nicht auszuschließen, es ist aber auch denkbar, daß sie aus eigenen, unbewußten Zwängen nicht anders mit ihm hätten umgehen können, als sie es taten. Aber es ist anzunehmen, daß sie, wenn sie besser unterrichtet gewesen wären, ihn nicht aus dem guten Kinderheim in das Internat nach Marienhausen gegeben hätten, ihn nicht gezwungen hätten, dorthin zurückzugehen, nachdem er geflohen war. Was Jürgen Bartsch in seinen Briefen an Paul Moor über Marienhausen erzählt, und was durch die Aussagen der Zeugen im Prozeß davon ans Licht kam, zeigt, wie sehr die »Schwarze Pädagogik« noch unsere Gegenwart beherrscht. Hier einige Zitate:
»Marienhausen war, im Vergleich dazu, und nicht nur PaPüs wegen, die Hölle, wenn auch eine katholische, das macht sie nicht besser. Ich denke da nur an die stete Schlägerei im Priesterrock, ob nun in der Schule, beim Chor, oder, auch da machte man sich nichts daraus, in der Kirche. An die sadistischen Strafen (stundenlang Strammstehen im Schlafanzug im Kreis im Hof, bis der erste zusammenbricht), an die verbotene Kinderarbeit bei schwerer Hitze auf dem Feld, wochenlang nachmittags (Heuwenden, Kartoffellesen, Rübenziehen, Stockschläge für langsame Kinder), die gnadenlose Verteufelung der (für die Entwicklung notwendigen!) ach so bösen >Schweinereien< unter Jungen, das unnatürliche >Silentium< beim Essen, ab bestimmter Uhrzeit usw., und die verwirrenden, unnatürlichen Sprüche gegenüber Kindern, etwa: >Wer eines unserer Küchenmädchen auch nur anschaut, bekommt PrügelU (S. 105). Der Diakon Hamacher hat mir mal abends im Schlafsaal (ich hatte gesprochen, und es herrschte abends strenges Silentium)
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eine gewischt, daß ich unter ein paar Betten entlanggerutscht bin. Kurz davor hatte der >Pater Katechet< ein großes Tafellineal auf meinem Hinterteil zerschlagen und verlangte allen Ernstes, ich solle es bezahlen.
Einmal in der sechsten Klasse habe ich Grippe gehabt und lag auf der Krankenstation beim Katecheten. Er war nicht nur Religionslehrer, sondern auch Sanitäter. Neben mir lag ein Junge, der hohes Fieber hatte. Der Katechet kam rein, steckte dem das Thermometer irgendwohin, ging raus, kam nach ein paar Minuten wieder, holte das Thermometer raus, sah es sich an, und dann hat er den Jungen ganz jämmerlich verprügelt. Der Junge, der immerhin schweres Fieber hatte, winselte und schrie. Ich weiß nicht, ob der Junge überhaupt etwas davon mitbekommen hat. Auf jeden Fall tobte er ganz wild rum, der Katechet, und brüllte: >Er hat das Thermometer an die Heizung gehalten!< - wobei er aber vergaß, daß gar kein Winter war, daß die Heizung gar nicht an war« (S. 106).
Das Kind muß hier lernen, Absurditäten und Launen der Erzieher widerspruchslos und ohne Gefühle von Haß hinzunehmen und zugleich die Sehnsucht nach körperlicher und seelischer Nähe eines Menschen, die diesen Druck erleichtert hätte, aus sich zu verdammen und abzutöten. Das ist eine übermenschliche Leistung, die man nur von Kindern fordert, aber nie von Erwachsenen erwartet.
»Erstens hat PaPü gesagt: <Wenn wir bloß zwei zusammen erwischen!> Und wenn das dann geschah, dann erstmal die übliche Tracht Prügel, bloß wahrscheinlich noch schlimmer als üblich, und das will schon etwas heißen. Dann natürlich sofort, am nächsten Tag, rausgeschmissen. Mein Gott, vorm Rausschmiß hatten wir weniger Angst als vor diesen Prügeln. Und dann die üblichen Sprüche in dem Zusammenhang, wie man solche Jungs erkennen könnte usw., also ungefähr, wer feuchte Hände hat, ist homosexuell und macht Sauerei, und wer solche Sauerei macht, ist schon ein Verbrecher. Praktisch in diesem Ton ist uns das gesagt worden, und vor allen Dingen, daß eben diese verbrecherischen Schweinereien direkt nach Mord kommen — ja, sogar mit denselben Worten: direkt nach Mord. PaPü sprach fast jeden Tag davon, es wäre ja nicht so, als ob die Versuchung nicht auch einmal an ihn selbst herantreten könne.
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Er sagte, daß es an sich etwas Natürliches wäre, daß sich, wie er sich ausdrückte, >das Blut staut<. Ich fand das immer einen fürchterlichen Ausdruck. ... Er hätte dem Satan noch nie nachgegeben, und er war stolz darauf. Das hörten wir praktisch jeden Tag, nicht im Unterricht, sondern immer zwischendurch. Morgens um sechs oder halb sieben standen wir immer auf. Strengstes Silentium. Dann stillschweigend vorbereitet, immer in Doppelreihe, ganz ordentlich, die Treppe runter und in die Kirche rein, dann Messe feiern. Aus der Messe raus, immer noch in Stillschweigen und in Doppelreihen (S. 108 f.). Persönlicher Kontakt, Freundschaften als solche waren verboten. Daß ein Junge allzuhäufig mit einem anderen spielen würde, das war verboten. Bis zu einem bestimmten Grad konnte man das umgehen, weil sie auch ihre Augen nicht überall haben konnten, aber es war eben verboten. Sie dachten, Freundschaft als solche sei verdächtig, weil jemand, der sich einen richtigen Freund anschaffen würde, er würde ihn nun eben in die Hose fassen. Sie haben sofort hinter jedem Blick etwas Sexuelles gewittert.
Man kann Kindern schon mit Schlägen einiges einpauken, das ist klar. Das bleibt auch drin. Es wird heute oft bestritten, aber wenn es unter richtigen Umständen vonstatten geht, wenn man weiß, daß man es behalten muß, dann bleibt es auch drin, und vieles ist auch bis heute drin gehlieben (S. 111).
Wenn PaPü mal etwas wissen wollte, wer irgend etwas gemacht hätte, hat er uns runtergejagt in den Schulhof zum Dauerlauf, so lange, bis die ersten keine Luft mehr bekamen und zusammenbrachen.
Er erzählte sehr oft (oder auch etwas öfter) in allen Einzelheiten von grausamen Massenmorden an Juden im Dritten Reich und zeigte uns auch viele Bilder davon. Er schien es nicht ungern zu tun (S. ii 8).
Gern hat PaPü im Chor wahllos darauf geschlagen, wen er erwischen konnte, und hatte dabei Schaum vor dem Mund. Oft ging der Stock kaputt, wenn er prügelte, und auch dabei die unverständliche Raserei und der Schaum in den Mundwinkeln« (S. 120).
Der gleiche Mann, der immer vor der Sexualität warnt und mit Maßnahmen droht, lockt Jürgen in sein Bett, als das Kind krank ist:
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»Er wollte sein Radio wiederhaben. Die Betten standen ziemlich weit auseinander. Ich bin aufgestanden, mit meinem Fieber, und habe das Radio rübergebracht. Und nun hieß es auf einmal: <Wenn du schon einmal da bist, nun komm gleich ins Bett.>
Ich habe mir immer noch nichts dabei gedacht. Wir sind erst mal eine gewisse Zeitlang nebeneinander gelegen, bis er mich an sich drückte und seine Hand hinten in meine Hose hineinschob. Das war an sich neu, aber, alles in allem, auch nicht so neu. Morgens auf der Empore, ich weiß nicht mehr wie oft, es kann viermal, es kann auch siebenmal gewesen sein, als wir nebeneinander saßen, hat er immer mal so nebenbei irgendwelche Bewegungen gemacht, so daß er an meine kurze Hose kam. Da im Bett schob er seine Hand hinten in die Hose meines Schlafanzugs hinein und >streichelte< mich. Dasselbe tat er auch vorne und versuchte, bei mir zu onanieren, aber dies ging wohl darum nicht, weil ich Fieber hatte (S. 120). Ich weiß nicht mehr, mit welchen Worten er das sagte, aber auf jeden Fall hat er mir gesagt, er würde mich schon fertigmachen, wenn ich die Schnauze aufreißen würde« (S. 122).
Wie schwer ist es für ein Kind, aus dieser Situation ohne Hilfe herauszukommen. Und doch wagt Jürgen die Flucht, die ihn noch deutlicher seine hoffnungslose Lage, seine Einsamkeit in der ganzen Welt, spüren läßt:
»In Marienhausen, vor der Sache mit PaPü, hatte ich eigentlich Heimweh nie gekannt, aber auf einmal, da, wie mich meine Eltern nach Marienhausen zurückbrachten, da habe ich ganz furchtbares Heimweh gehabt. Ich hatte viel mit PaPü zu tun, und ich konnte mir nicht vorstellen, noch dazubleiben. Nun war ich weg von Marienhausen und konnte mir nicht vorstellen, wieder zurückzugehen. Auf der anderen Seite habe ich aber damit gerechnet: Wenn du jetzt nach Hause reingehst, bekommst du eine fürchterliche Tracht Prügel. Deswegen hatte ich Angst. Ich konnte weder nach vorne noch ^urück. Neben der Siedlung ist ein großer Wald, und da bin ich reingegangen. Dort habe ich mich praktisch von nachmittags bis zur Dämmerung rumgetrieben. Nun auf einmal war meine Mutter in dem Wald. Jemand hatte mich wahrscheinlich gesehen. Hinter einem Baum habe ich sie gesehen. Sie rief: <Jürgen? Jürgen? Wo bist du?> Und so bin ich mit ihr gegangen. Das große Geschimpfe und Geschrei ging natürlich sofort los.
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Meine Eltern haben dann sofort nach Marienhausen telefoniert. Ich habe ihnen nichts erzählt. Tagelang haben sie mit Marienhausen telefoniert, dann kamen sie zu mir und sagten: >Also, sie haben dir noch eine Chance gegeben! Du kommst wieder zurück!< Ich habe natürlich gejammert und geheult: >Bitte, bitte, ich will nicht zurück!> Aber wer meine Eltern kennen würde, wüßte dann, daß da nichts zu machen war« (S. 123).
Jürgen Bartsch schildert Marienhausen nicht nur aus der eigenen Perspektive, er beschreibt z.B. das Schicksal eines Kameraden:
»Er war ein guter Kamerad. Lange vor mir war er schon in Marienhausen. Aus Köln war er, und er war der Kleinste in unserer Klasse. Auf sein >Kölle< ließ er nichts kommen. Wie oft er sich gerauft hat, weil jemand seine Stadt beleidigt hatte, ich kann es nicht sagen. Weil es keine >Stadt< gibt, sondern nur Menschen, die jemandem etwas bedeuten, heißt es wohl, daß er stets von Heimweh geplagt war.
Er war auch länger dort als ich. Im Chor kam er, da er nun wirklich der Kleinste war, niemals umhin, in der ersten, vordersten Reihe zu stehen, und so quasi bei jeder Probe sein Teil an Schlägen in die Nieren und ins Gesicht zu empfangen. O Gott, mehr als sein Teil, denn es gab auch die letzte Reihe, die verhältnismäßig geschützt war. Wie oft er getreten und geschlagen wurde, ich kann es nicht sagen. Es soll hier keine Heldenverehrung stattfinden, die würde er uns nie verzeihen. Denn er war kein Held und wollte keiner sein. Hatte PaPü oder der dicke Katechet ihn in der Mangel, dann schrie er wie kein anderer, dann brüllte er seinen Schmerz hinaus, daß man glauben konnte, die verhaßten, heiligen Mauern stürzten ein. Im Jahre 1960, im Zeltlager in Rath bei Niedeggen, an einem Sommerabend, ließ Pater Pütlitz ihn >entführen<.
Ein Spiel sollte es sein, ein lustiges. Aber Herbert wußte es nicht, weil ihm niemand kundtat. Man schleppte ihn tief in den abendlichen Wald, fesselte und knebelte ihn, steckte ihn in einen weißen Schlafsack und ließ ihn liegen. Er lag bis Mitternacht. Angst, Bitten, Verzweiflung, Einsamkeit, es ist müßig. Was er gefühlt hat, ich kann es nicht sagen. Nach Mitternacht wurde er ausgelacht, Spott und Hohn, ein Spiel, ein lustiges.
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Als er ein paar Jahre von Marienhausen fort, aber noch lange nicht erwachsen war, stürzte er sich bei einer Bergtour zu Tode. Er wurde geboren, um geschlagen und gequält zu werden und <sodann> zu sterben. Er war der Kleinste in unserer Klasse. Er hieß Herbert Grewe. Und er war ein guter Kamerad« (S. 126).
Marienhausen ist nur eines der vielen Beispiele.....:
»Anfang 1970 ist im Don-Bosco-Heim in Köln eine Art Skandal gewesen, der durch Presse und Rundfunk ging. Die Zustände, die damals in Marienhausen niemanden aufregten, haben jetzt das Jugendamt von Köln dazu bewegt, alle seine Kinder vom Kölner Don-Bosco-Heim abzuziehen, angeblich weil sie nicht mehr verantworten können, ihre Kinder in so einem Heim zu belassen. Die Lehrer sollen die Kinder die Treppe runtergeprügelt haben, mit Schuhen auf ihnen rumgetrampelt sein, sie mit dem Kopf in den Lokus gestoßen haben usw., dieselben Scherze also, die sie mit uns in Marienhausen machten. Genau dasselbe, und auch ein Don-Bosco-Heim, von den guten Salesianer-Patres geleitet. Es stand auch in den Berichten, daß vier Lehrer sich laufend an den ihnen Anvertrauten vergangen hätten. Pater Pütlitz war nach 1960 einige Jahre Erzieher genau in diesem Kölner Heim« (S. 130).
In dieser Hölle erlebt Jürgen Bartsch auch etwas Positives. wofür er dankbar ist: zum ersten Mal ist er nicht der einzige Prügelknabe wie zu Hause und in der Schule. Hier gibt es die Solidarität »den sadistischen Lehrern gegenüber«:
»Die gute Seite bedeutete für mich so viel, daß ich auch vielleicht noch Schlimmeres in Kauf genommen hätte. Die Hauptsache bleibt, das Wunderbare erlebt zu haben, nun einmal nicht ausgeschlossen zu sein. Es gab eine einmalige Solidarität unter uns Schülern den sadistischen Lehrern gegenüber. Ich habe mal ein arabisches Sprichwort gelesen: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Sie müßten das miterlebt haben, das ungeheuerliche Solidaritätsgefühl, das Zusammenschließen von uns. Die Erinnerung soll manches hochheben, aber ich glaube wirklich nicht, daß ich das tue. Da war ich einmal kein Außenseiter. Wir hätten uns alle lieber in Stücke schlagen lassen, als einen Kameraden zu verraten. Das war geradezu unwahrscheinlich« (S. 131).
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Die Verfolgung der »bösen Triebe« setzt sich noch in der Psychiatrie fort, die Bartsch mit einer Kastration, an der er dann, 1977, stirbt, zu helfen hofft, mit der Begründung, daß er seinen »zu starken Trieb« nicht beherrschen könne. Diese Idee ist nahezu grotesk, wenn man bedenkt, daß Jürgen bereits mit 11 Monaten trocken war. Es muß ein besonders begabtes Kind gewesen sein, dem diese Leistung so früh, sogar in einem Spital, wo eine feste Bezugsperson fehlte, gelungen ist. Damit bewies Bartsch, daß er zur »Triebbeherrschung« in hohem Maße fähig war. Aber gerade darin lag sein Verhängnis. Hätte er sich nicht so gut und so lange beherrscht, dann hätten seine Pflegeeltern ihn vielleicht gar nicht adoptiert oder an jemanden weggegeben, der ihm mehr Verständnis entgegengebracht hätte.
Jürgens Begabung half ihm zunächst, sich den Gegebenheiten im Dienste des Überlebens anzupassen: alles schweigend über sich ergehen zu lassen, gegen die Einsperrung im Keller nicht zu rebellieren und doch noch gute Leistungen in der Schule zu vollbringen. Aber dem Ausbruch der Gefühle in der Pubertät waren seine Abwehrmechanismen nicht mehr gewachsen. Ähnliches können wir in der ganzen Drogenszene beobachten. Man wäre versucht zu sagen »zum Glück«, wenn die Folgen dieses Zusammenbruchs nicht die Fortsetzung der Tragik mit sich brächten:
»Natürlich habe ich des öfteren mal zu meiner Mutter gesagt: >Warte nur, bis ich einundzwanzig bin!< Soweit habe ich natürlich gewagt, etwas zu sagen. Dann hat meine Mutter natürlich gesagt: >Ja, ja, stell dir mal vor, einmal bist du sowieso zu dumm dazu, woanders zu existieren als bei uns. Und dann, wenn du wirklich nach draußen kommen würdest, dann wirst du schon sehen, du wirst nach zwei Tagen wieder hier sein.<
Ich habe das da in dem Moment geglaubt, wie sie das sagte. Ich hätte es mir selbst nicht zugetraut, länger als zwei Tage draußen allein zu existieren. Warum, weiß ich nicht. Und ich wußte genau, daß ich mit einundzwanzig Jahren nicht weggehen würde. Das war mir sonnenklar, aber es mußte mal ein klein wenig Luft abgelassen werden. Aber daß ich das nun wirklich absolut ernst ins Auge gefaßt hätte, ist völlig absurd. Das hätte ich niemals getan. Als ich im Beruf anfing, habe ich nicht gesagt: >Das gefällt mir<, ich habe auch nicht gesagt: >Das ist grauenhafte Ich habe an sich sehr wenig darüber nachgedacht« (S. 147).
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So wurde jede Hoffnung auf ein eigenes Leben bei diesem Menschen im Keime erstickt. Wie ist das anders zu bezeichnen denn als Mord an der Seele? Mit dieser Art von Mord hat sich die Kriminalistik bisher nie beschäftigen, ja sie nicht einmal wahrnehmen können, weil sie als ein Bestandteil der Erziehung völlig legalisiert ist. Erst die letzte einer langen Kette von Handlungen ist vor dem Gericht strafbar, und sie schildert oft minutiös genau, aber für den Täter unbewußt, die ganze leidvolle Vorgeschichte des Verbrechens.
Die genauen Beschreibungen seiner »Taten«, die Jürgen Bartsch an Paul Moor richtet, zeigen, wie wenig diese Verbrechen im Grunde mit dem »Sexualtrieb« zu tun haben, obwohl Jürgen Bartsch vom Gegenteil überzeugt war und sich schließlich aus diesem Grund zur Kastration entschloß. Der Analytiker kann aus diesen Briefen einiges über den narzißtischen Ursprung einer sexuellen Perversion erfahren, etwas, das in der Fachliteratur immer noch nicht genügend bearbeitet ist.
Jürgen Bartsch versteht es eigentlich selber nicht und fragt sich mehrmals, warum sein Sexualtrieb von dem, was da geschah, getrennt war. Es gab Kameraden in seinem Alter, die ihn angezogen haben, die er liebte und mit denen er sich eine Freundschaft gewünscht hätte, aber alles das unterscheidet er deutlich von dem, was er mit den kleinen Kindern machte. Er hätte auch kaum bei ihnen onaniert, schreibt er. Hier inszenierte er die Situation einer tiefen Demütigung, Bedrohung, Vernichtung, der Würde, Entmachtung und Ängstigung eines kleinen Jungen in Lederhosen, der er einst gewesen war. Es erregte ihn besonders, in die verängstigten, gefügigen, hilflosen Augen des Opfers zu blicken, in denen er sich selbst begegnete und mit dem er die Vernichtung seines Selbst in großer Erregung immer wieder durchspielte — diesmal nicht mehr als hilfloses Opfer, sondern als der mächtige Verfolger.
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Da das erschütternde Buch von Paul Moor vergriffen ist, werde ich hier längere Partien aus Bartschs Schilderungen seiner Taten zitieren. Seine ersten Versuche machte er mit Axel, einem Nachbarjungen.
»Dann, ein paar Wochen später, war es genau dasselbe. >Komm mit in den Wald<, sagte ich, und Axel meinte: >Nein, da kriegst du wieder deinen Rappel!< Aber ich habe ihn doch mitgenommen, weil ich ihm versprach, ihm nichts zu tun. Aber ich habe dann doch wieder den Rappel bekommen. Ich habe den Jungen wieder mit Gewalt restlos nackt ausgezogen, und dann hatte ich plötzlich blitzartig einen teuflischen Einfall. Ich schrie ihn wieder an: >So wie du jetzt bist, legst du dich jetzt auf meinen Schoß, mit dem Po nach oben! Mit den Beinen darfst du strampeln, wenn es weh tut, aber Arme und alles andere müssen ganz still sein! Ich schlage dir nämlich jetzt dann dreizehn Schläge auf den Hintern und einer immer fester als der andere! Wenn du nicht willst, bring ich dich um!< Das >Umbringen< war damals noch eine leere Drohung, zumindest war ich selbst davon überzeugt! >Willst du?!<
Er wollte — was blieb ihm auch anders übrig? Ich tat, nachdem er sich mit dem Po nach oben auf meinen Schoß gelegt hatte, genau das, was ich gesagt hatte. Ich schlug und schlug, immer fester, und der Junge strampelte wie verrückt mit den Beinen, wehrte sich ansonsten aber nicht. Ich hörte nicht bei dreizehn auf, sondern als meine Hand so wehtat, daß ich nicht mehr schlagen konnte.
Danach dasselbe: tiefe Ernüchterung, das Gefühl unglaublicher Erniedrigung vor sich selbst und jemandem, den man doch so sehr mag, das heulende Elend sozusagen. Axel weinte übrigens nicht, er war auch danach noch nicht einmal >übertrieben< ängstlich. Er war nur lange sehr, sehr still.
>Schlag mich<, bat ich ihn. Er hätte mich totschlagen können, ich hätte mich nicht gewehrt, aber er wollte nicht. Am Ende war ich es, der heulte. >Jetzt willst du sicher nichts mehr von mir wissen<, sagte ich ihm auf dem Wege nach Hause. Keine Antwort.
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Am nächsten Tag, nachmittags, kam er doch wieder zu meiner Tür herein, aber irgendwie leiser, vorsichtiger als sonst. >Bitte -nicht mehr<, sagte er nur. Sie werden es nicht glauben, ich habe es auch zuerst nicht geglaubt, aber er trug mir nichts nach! Wir haben noch oft zusammen gespielt, eine Zeitlang, bis er fortzog, aber soweit ich weiß, habe ich mich bei dem zuletzt erzählten Geschehnis selber derart vor mir selbst erschreckt, daß ich eine Weile Ruhe hatte. Eine >kleine Weile<, wie es schon in der Bibel steht« (S. 135).
»Über die schlimmsten Dinge kann ich nur sagen, daß ich stets das Gefühl hatte, ab einem bestimmten Zeitpunkt (etwa dreizehn oder vierzehn Jahren), keinen direkten Einfluß mehr darauf zu haben, wirklich nicht anders zu können. Gebetet habe ich und gehofft, daß wenigstens dies etwas nützte, aber auch das nützte nicht.«
»Sie waren alle so klein, viel kleiner als ich. Sie haben alle solche Angst gehabt, daß sie sich gar nicht gewehrt haben« (S. 137). »Bis 1962 ging das nur um das Ausziehen und das Befühlen und so. Später, als das Töten dazu kam, da war ziemlich sofort auch das Zerschneiden dabei. Zuerst habe ich immer an Rasierklingen gedacht, aber nach der ersten Tat habe ich dann auch langsam an Messer, an unsere Messer gedacht« (S. 139).
Als Zwischenbemerkung ist es wichtig festzuhalten:
»Wenn ich jemanden persönlich liebe, wie ein Junge ein Mädchen lieben würde, ist das eben mehr, als wenn er meinen Idealvorstellungen als Opfer meines Triebes entspricht. Es ist nicht, daß ich mich da nun bemühen müßte, mich da irgendwie zurückzuhalten, das ist Quatsch. In so einem Fall fällt der Trieb einfach automatisch aus« (S. 155).
Ganz anders war er mit den kleinen Jungen:
»In dem Moment wäre es mir sehr lieb gewesen, wenn der Junge sich gewehrt hätte, obwohl die Hilflosigkeit der Kinder im allgemeinen für mich ein Anreiz war. Aber ich war ehrlich überzeugt, daß der Junge keinerlei Chancen gegen mich gehabt hätte.
Frese habe ich versucht zu küssen, aber das gehörte zu keinerlei Plan. Das kam irgendwie aus der Situation heraus. Ich weiß nicht wie, von Sekunde zu Sekunde war der Wunsch da.
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Ich dachte, daß das zwischendurch mal ganz toll wäre. Das war für mich etwas Neues. Viktor und Detlef hatte ich niemals geküßt. Wenn ich heute sage, er wollte geküßt werden, würde mir jeder sagen: >Du Schwein, das kann dir sonst wer glauben!< — aber das ist tatsächlich wahr. Es ist meiner Ansicht nach bloß dadurch erklärbar, daß ich ihn vorher so furchtbar geschlagen hatte. Wenn ich mal versuchte, mich in seine Lage zu versetzen, kann ich mir nur vorstellen, daß es für ihn einzig und allein darauf ankam, was schlimmer war, was weher tat. Ich meine, geküßt zu werden von jemandem, der mir abscheulich ist, ist mir immer noch lieber, als wenn derjenige mir von hinten eines in die Hoden tritt. Aus dem Sinn ist das erklärlich. Aber damals war ich etwas verblüfft. Er sagte: >Weiter! Weiter!< Dann habe ich schließlich weitergemacht. Es wird richtig sein, daß es ihm allein darauf ankam, was nun leichter zu ertragen war« (S. 175).
Es fällt auf, daß Jürgen Bartsch, der so offen und ausführlich erzählt, wie er die Kinder mißhandelt hat, obwohl er weiß, welche Gefühle das in anderen weckt, sehr ungern, knapp, ungenau und nur gezwungenermaßen die Erinnerungen preisgibt, in denen er das hilflose Opfer war. Mit acht Jahren wurde er von seinem 13jährigen Vetter sexuell verführt und später, mit 13, im Bett seines Lehrers und Erziehers.
Hier spürt man besonders kraß die Diskrepanz zwischen der subjektiven und der sozialen Realität. Im Wertsystem des kleinen Jungen erlebt sich Jürgen Bartsch in den Mordszenen als der Mächtige mit einem starken Selbstbewußtsein, obwohl er weiß, daß ihn alle dafür verdammen. In den anderen Szenen kommt aber der abgewehrte Schmerz des gedemütigten Opfers hoch und löst eine unerträgliche Scham in ihm aus. Das ist u.a. auch der Grund dafür, daß so viele Menschen sich an die Schläge ihrer Kindheit entweder gar nicht oder nur ohne die dazugehörenden Gefühle, d.h. ganz gleichgültig und »cool« erinnern können.
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Wenn ich hier die Kindheitsgeschichte Jürgen Bartschs mit seinen Worten erzähle, dann tue ich das nicht, um ihn von Schuld zu »exkulpieren«, wie es die Richter der Psychoanalyse vorwerfen, auch nicht, um seine Eltern zu beschuldigen, sondern um zu zeigen, daß jede einzelne Handlung einen Sinn hatte, den man jedoch nur entdecken kann, wenn man vom Zwang, den Zusammenhang zu übersehen, frei wird.
Ich war von den Zeitungsberichten über Jürgen Bartsch zwar erschüttert, aber nicht moralisch entrüstet, weil ich weiß, daß das, was Jürgen Bartsch getan hat, bei Patienten oft in Form von Phantasien auftaucht, wenn sie die Möglichkeit haben, ihre verdrängten, frühkindlichen Rachegefühle ins Bewußtsein kommen zu lassen (vgl. S. 236). Aber gerade weil sie die Möglichkeit haben, darüber zu sprechen und ihre Gefühle von Haß, Wut und Rachebedürfnis jemandem anzuvertrauen, müssen sie die Phantasien nicht in die Tat umsetzen. Diese Möglichkeit hatte Jürgen Bartsch nicht im geringsten. Er hatte im ersten Lebensjahr keine feste Bezugsperson, dann durfte er bis zum Schulalter nie mit anderen Kindern spielen, auch die Eltern spielten nie mit ihm, in der Schule wurde er schnell zum Prügelknaben.
Es ist verständlich, daß sich ein so isoliertes und zu Hause mit Prügeln zum Gehorsam erzogenes Kind in der Gemeinschaft der Gleichaltrigen nicht durchsetzen konnte. Er hatte entsetzliche Ängste und wurde deshalb um so mehr von den Kindern verfolgt. Die Szene nach der Flucht aus Marienhausen zeigt die grenzenlose Einsamkeit dieses Jugendlichen zwischen seinem »wohlbehüteten« bürgerlichen Zuhause und dem frommen Internat. Das Bedürfnis, zu Hause alles zu erzählen, und das Wissen, daß niemand ihm glauben würde, die Angst, sich bei den Eltern zu melden, und die Sehnsucht, sich dort ausweinen zu dürfen — ist es nicht die Situation Tausender von Jugendlichen?
Im Heim hält sich Jürgen, als braves Kind seiner Eltern, an die dortigen Verbote, deshalb reagiert er mit Verwunderung und Wut, als ein ehemaliger Schulkollege im Prozeß erzählt, er hätte »selbstverständlich« mit einem anderen Knaben geschlafen. Es gab also die Möglichkeit, Verbote zu umgehen, aber nicht für Kinder, die bereits im Säuglingsalter unter Lebensbedrohung Gehorsam hatten lernen müssen.
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Diese Kinder sind dankbar, als Ministranten dienen zu dürfen und wenigstens so dem Priester, irgendeinem Lebewesen, näherzukommen. Die Kombination von Gewalttätigkeit und sexueller Erregung, die das als Eigentum benützte ganz kleine Kind bei seinen Eltern erlebt, kommt sehr oft in Perversionen und im delinquenten Verhalten zum Ausdruck. Auch in den Mordtaten von Jürgen Bartsch spiegeln sich viele Elemente seiner Kindheit mit erschreckender Genauigkeit wider:
i. Das unterirdische Versteck, in dem er die Kinder umbringt, erinnert an Bartschs Beschreibungen des Eingesperrtseins im Keller mit Gittern und an die drei Meter hohen Mauern.
2. Den Taten ging das »Suchen« voraus. Auch er wurde vor der Adoption gesucht und später (nicht schnell, sondern langsam) am Leben gehindert.
3. Er hat die Kinder mit dem Messer, »mit unserem Messer«, wie er schreibt, aufgeschnitten.
4. Er war erregt, als er in ihre erschrockenen und hilflosen Augen geschaut hat. In diesen Augen begegnete er sich selbst mit den Gefühlen, die er hatte unterdrücken müssen. Zugleich erlebte er sich in der Rolle des verführenden erregten Erwachsenen, dem er einst ausgeliefert war.
In den Mordtaten von Jürgen Bartsch drückt sich Mehrfaches aus:
der verzweifelte Versuch, im Verborgenen die verbotene »Triebbefriedigung« dem Schicksal abzutrotzen;
die Abfuhr des aufgestauten und in der Gesellschaft verpönten Hasses auf die Eltern und die Heimerzieher, die ihm das Lebendige zu leben verboten und nur an seinem »Benehmen« interessiert waren;
die Inszenierung des Ausgeliefertseins an die Gewalttätigkeit der Eltern und Erzieher, die nun auf den kleinen Jungen in kurzen Lederhosen (wie Jürgen Bartsch als Kind sie trug) projiziert wurde;
die zwanghafte Provokation des Abscheus und Ekels in der Öffentlichkeit, den seine Mutter einst empfunden hatte, als Jürgen im zweiten Lebensjahr wieder einnäßte und einkotete.
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Im Wiederholungszwang wird — wie bei vielen Perversionen — der Blick der frühen Mutter gesucht. Jürgen Bartschs »Taten« geben nun in der Öffentlichkeit Anlaß zum (begründeten) Entsetzen, wie z. B. die Provokationen Christianes, die im Grunde ihren unberechenbaren Vater zu manipulieren versuchten (vgl. Seite 136), den Hauswärtern, den Lehrern und den Polizisten reale Schwierigkeiten und Kränkungen verursachten.
Wer das Motiv zu Kindermorden nur im »krankhaften Sexualtrieb« sehen möchte, wird vielen Gewaltakten unserer Zeit Verständnis- und hilflos gegenüberstehen. Ich berichte hier kurz von einem Fall, in dem die Sexualität keine besondere Rolle spielt, der aber die Geschichte der eigenen Kindheit in tragischer Weise deutlich widerspiegelt.
»Die Zeit« vom 27.7.1979 bringt einen Artikel über die elfjährige Mary Bell, die 1968 wegen Totschlags in zwei Fällen vom englischen Gericht zu lebenslänglicher Anstaltsverwahrung verurteilt wurde. Sie ist heute 22, sitzt im Gefängnis und bekam bis jetzt keine psychotherapeutische Behandlung. Ich zitiere aus diesem Bericht:
Zwei kleine Jungen, drei und vier Jahre alt, sind ermordet worden. Der Vorsitzende der Kammer in Newcastle fordert die Angeklagte auf, aufzustehen. Die Kleine erwidert, sie stehe schon. Mary Bell, wegen Kindesmordes in zwei Fällen angeklagt, ist ganze elf Jahre alt.
Am 26. Mai 1957 gebar die 17jährige Betty Mc C. im Dilston Hall Hospital, Corbridge, Gateshead, das Kind Mary. »Nehmt das Vieh von mir weg«, rief Betty angeblich, und sie zuckte zurück, als ihr das Baby ein paar Minuten nach der Geburt in den Arm gelegt wurde.
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Als Mary drei Jahre alt war, ging ihre Mutter Betty mit ihr eines Tages spazieren — von Bettys stutziger Schwester heimlich verfolgt. Betty brachte Mary zu einer Adoptionsagentur. Aus dem Zimmer, wo die Unterredungen stattfanden, kam eine weinende Frau heraus und sagte, daß man ihr kein Baby geben wollte, weil sie zu jung sei und nach Australien auswanderte. Betty sagte ihr: »Ich habe die da zur Adoption hergebracht. Nehmen Sie sie.« Damit schob Betty die kleine Mary der Fremden hin und ging. [....] In der Schule fiel Mary auf: Jahrelang schlug, stieß und kratzte sie andere Kinder. Sie erwürgte Tauben, ihren kleinen Cousin stieß sie von einem Luftschutzbunker zweieinhalb Meter tief auf einen Betonboden hinunter. Am Tage darauf drückte sie auf einem Spielplatz die Hälse von drei kleinen Mädchen zusammen. Mit neun Jahren kam sie in eine neue Schule, wo zwei Lehrer, die Mary unterrichteten, später erklärten: »Es ist besser, wenn man nicht zu genau in ihrem Leben und ihren Verhältnissen stöbert.«
Später erzählte eine Polizeibeamtin, die Mary während der Untersuchungshaft kennenlernte: »Sie langweilte sich. Sie stand am Fenster, beobachtete eine Katze, die die Regenrinne heraufkletterte, und fragte, ob sie sie hereinnehmen dürfte . . . Wir öffneten das Fenster, und sie hob die Katze herein und begann, mit ihr mit einem Wollfaden auf dem Fußboden zu spielen . . . Dann blickte ich auf und sah zuerst, daß sie die Katze an der Haut im Nacken hielt. Aber dann wurde mir klar, daß sie die Katze so fest hielt, daß das Tier nicht atmen konnte und seine Zunge heraushing. Ich sprang hin und riß ihr die Hände weg. Ich sagte: >Du darfst das nicht tun, du tust ihr weh.< Sie antwortete: >Ach, sie spürt das nicht, und jedenfalls mag ich kleinen Dingern weh tun, die sich nicht wehren können.«
Einer anderen Beamtin erzählte Mary, sie würde gerne Krankenschwester werden — »weil ich dann Nadeln in die Menschen stechen könnte. Ich tue den Menschen gern weh.« Marys Mutter Betty heiratete im Laufe der Zeit Billy Bell, kultivierte aber nebenbei einen ziemlich speziellen Kundschaftskreis. Nach Marys Prozeß klärte Betty einen Polizeibeamten über ihre »Spezialität« auf: »Ich peitsche sie«, sagte sie in einem Ton, aus dem die Verwunderung darüber herauszuhören war, daß er es nicht wußte. »Aber ich habe die Peitschen immer vor den Kindern versteckt.«
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Das Verhalten von Mary Bell läßt gar keinen Zweifel daran, daß ihre Mutter, die sie mit 17 gebar und ablehnte, die das Auspeitschen als Beruf ausübte, ihr eigenes Kind in der gleichen Art gequält, bedroht und wahrscheinlich umzubringen versucht hat, wie Mary das mit der Katze und den zwei kleinen Kindern tat; aber es gibt kein Gesetz, das ihr das verboten hätte.
Eine psychotherapeutische Behandlung ist nicht billig, das wird ihr oft vorgehalten. Aber ist es billiger, ein 11 jähriges Kind sein ganzes Leben lang einzusperren? Und was soll daraus werden? Ein Kind, das so früh mißhandelt wurde, muß auf irgendeine Art das ihm geschehene Unrecht, den an ihm begangenen Mord erzählen können. Wenn es niemanden hat, findet es die Sprache nicht und kann es nur erzählen, indem es das tut, was ihm angetan wurde. Damit weckt es bei uns Entsetzen. Das Entsetzen müßte aber dem ersten Mord gelten, der im Geheimen und unbestraft verübt wurde, dann könnten wir dem Kind vielleicht doch helfen, seine Geschichte bewußt zu erleben und sie nicht mehr in gefährlichen Inszenierungen erzählen zu müssen*
Die Mauern des Schweigens
Ich habe die Geschichte von Jürgen Bartsch beschrieben, um am konkreten Material zeigen zu können, wie uns die Einzelheiten einer Mordinszenierung Schlüsse zum Verständnis des Seelenmordes in der Kindheit geben können. Je früher dieser Seelenmord stattfindet, um so schwerer ist er für den Betroffenen faßbar, um so weniger mit Erinnerungen und Worten belegbar und deshalb auf Inszenierungen angewiesen, wenn er sich mitteilen will.
* Während ich die Fahnenabzüge dieses Buches lese, erfahre ich aus der Zeitung, daß Mary Bell das Gefängnis verlassen darf, inzwischen »eine anziehende Frau geworden« sei und »den Wunsch habe, in der Nähe ihrer Mutter zu wohnen«.
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Aus diesem Grund ist mein Interesse auf die frühesten Erlebnisse gerichtet, wenn ich die tieferen Wurzeln einer Delinquentenlaufbahn verstehen möchte. Trotz dieses Interesses geschah mir folgendes: Nachdem ich das ganze Kapitel fertig geschrieben und die von mir angestrichenen Stellen im Buch nochmals kontrolliert hatte, stellte ich fest, daß ich die für mich wichtigste Stelle übersehen hatte. Es war das Zitat über das Schlagen des Säuglings.
Das Übersehen dieser Stelle, die doch für mich als Bestätigung meiner These eine so wichtige Bedeutung hatte, zeigte mir, wie schwer es uns fällt, uns einen von der Mutter geschlagenen Säugling vorzustellen, dieses Bild nicht abzuwehren und seine Konsequenzen emotional voll zuzulassen. Das wird der Grund dafür sein, warum sich auch Psychoanalytiker so wenig mit diesen Tatsachen befassen und warum die Folgen solcher Kindheitserlebnisse noch so wenig untersucht worden sind.
Man würde mein Anliegen mißverstehen und verdrehen, wenn man aus diesem Kapitel eine Beschuldigung von Frau Bartsch herauslesen würde. Ich möchte gerade von jedem Moralisieren freikommen und nur auf die Ursachen und Wirkungen hinweisen, daß nämlich geschlagene Kinder weiterschlagen, bedrohte bedrohen, gedemütigte weiter demütigen und an der Seele getötete weiter töten.
Was die Moral anbetrifft, so müßte man sagen, daß keine Mutter ihren Säugling ohne Grund schlägt. Da wir nichts über die Kindheit von Frau Bartsch wissen, bleiben diese Gründe im Dunkeln. Aber sie bestehen zweifellos, genauso wie die Gründe von Alois Hitler. Eine Mutter, die ihren Säugling schlägt, zu verurteilen und die ganze Sache von sich wegzuschieben, ist zwar leichter, als die Wahrheit zuzulassen, zeugt aber von einer sehr zweifelhaften Moral. Denn unsere moralische Entrüstung isoliert die ihre Säuglinge mißhandelnden Eltern noch mehr und vergrößert ihre Not, die sie zu diesen Gewalttätigkeiten bringt. Diese Eltern stehen unter einem Zwang, das Kind als Ventil zu gebrauchen, gerade weil sie ihre eigene wirkliche Not nicht verstehen können.
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Dies als Tragik zu begreifen, heißt aber wiederum nicht, daß man schweigend zusehen sollte, wie die Eltern ihre Kinder seelisch und körperlich kaputtschlagen. Es müßte eigentlich selbstverständlich sein, daß man diesen Eltern das Recht auf die Betreuung ihrer Kinder entzieht und ihnen eine psychotherapeutische Behandlung anbietet.
Die Idee, über Jürgen Bartsch zu schreiben, stammt nicht von mir. Eine mir bisher unbekannte Leserin des Dramas schrieb mir einen Brief, aus dem ich hier mit ihrer Erlaubnis zitiere.
»Bücher helfen zwar nicht, Gefängnisse aufzubrechen, aber es gibt Bücher, die den Mut stärken, mit neuer Kraft an Gefängnistüren zu rütteln. Dies Ihr Buch ist für mich so eins.
An einem Punkt Ihres Buches sprechen Sie über körperliche Züchtigung an Kindern (ich finde die Stelle gerade nicht und kann mich nicht konkret darauf beziehen) und sagen, daß Sie über Deutschland keine Aussage machen können, weil Sie sich da nicht auskennen.* Ich möchte Sie da beruhigen und Ihre schlimmsten Ahnungen bestärken. Glauben Sie, die KZs der Nazizeit wären möglich gewesen, wenn nicht physischer Terror im Sinne von Schlägen mit Stöcken, Ausklopfern, Rohrstöcken, Riemenpeitschen in deutschen Kinderstuben die Regel gewesen wären?
Ich selbst bin jetzt 37 Jahre, Mutter von 3 Kindern und versuche immer noch mit sehr wechselndem Erfolg, die seelisch verheerenden Folgen dieser elterlichen Strenge zu bewältigen, und wenn nur, damit meine Kinder freier aufwachsen können. In einem <Heldenkampf> von nun fast 4 Jahren gelingt es mir nicht, den aggressiv strafenden Vater aus meiner inneren Struktur zu vertreiben, bzw. ihn zu vermenschlichen.
Sollte es eine Neuauflage Ihres Buches geben, dann dürfen Sie, glaube ich, Deutschland wohl an die oberste Stelle stellen, was Kindsmißhandlung anbelangt.
* Hier ist der Gedanke aus meinem Buch nicht ganz sinngemäß wiedergegeben worden (vgl. AM: Das Drama, S. 121).
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Auf unseren Straßen sterben die meisten Kinder in allen europäischen Ländern, und was in unseren Kinderzimmern von Generation zu Generation weitergegeben wird, liegt hinter einer dicken Mauer von Schweigen und Abwehr. Und die, die aus innerer Not heraus gezwungen werden, durch eine Analyse gestärkt, hinter die Mauern zu blicken, werden schweigen, weil sie wissen, daß keiner ihnen glauben wird, was sie dort gesehen haben.
Damit Sie nicht falsche Schlüsse ziehen: ich habe meine Prügel nicht in einer Asozialen-Siedlung bezogen, sondern in den wohlgeordneten Verhältnissen eines »harmonischen Elternhauses« der gehobenen Mittelklasse. Mein Vater ist Pfarrer.«
Die Autorin dieses Briefes machte mich auf das Buch von Paul Moor aufmerksam, und ihr verdanke ich die Beschäftigung mit diesem Schicksal, von dem ich vieles gelernt habe. Auch bei dieser Gelegenheit erfuhr ich etwas über meine eigene Abwehr. Ich hatte ja seinerzeit vom Jürgen Bartsch-Prozeß gehört, war aber dieser Geschichte nicht weiter nachgegangen. Erst der Brief dieser Leserin brachte mich auf einen Weg, auf dem ich keine andere Wahl mehr hatte, als ihn zu Ende zu gehen.
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Auf diesem Weg erfuhr ich auch, wie wenig die Annahme stimmt, daß Kinder in Deutschland mehr mißhandelt werden als in anderen Ländern. Manchmal fällt es uns sehr schwer, eine allzu erdrückende Wahrheit zu ertragen, und wir müssen sie daher mit Hilfe von Illusionen abwehren. Eine häufige Form der Abwehr ist die zeitliche und räumliche Verschiebung. So können wir uns zum Beispiel leichter vorstellen, daß Kinder in den vergangenen Jahrhunderten oder in entfernten Ländern mißhandelt werden oder wurden, nur nicht bei uns, hier und jetzt.
Es gibt auch die andere Hoffnung: Wenn sich ein Mensch, wie z.B. die oben zitierte Leserin, so mutig dazu entscheidet, der Wahrheit seiner Geschichte nicht mehr auszuweichen, sich ihr im Namen seiner Kinder voll zu stellen, möchte er vielleicht wenigstens den Glauben behalten, daß die
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Wahrheit nicht überall so bedrückend ist, daß es in anderen Ländern, zu anderen Zeiten, besser, humaner zuging als in seiner nächsten Nähe. Ohne jegliche Hoffnung könnten wir kaum leben, und möglicherweise setzt die Hoffnung ein gewisses Maß an Illusionen voraus.
Im Vertrauen darauf, daß der Leser sich die Illusionen, die er braucht, wird bewahren können, möchte ich einige Angaben über die noch heute in der Schweiz (nicht nur in Deutschland) geduldete und mit Verschweigen geschützte Erziehungsideologie machen. Ich zitiere nur einige Beispiele aus einer umfangreichen Dokumentation des »Sorgentelephons« in Aefligen, Kanton Bern/Schweiz, die an über 200 Zeitungen geschickt wurde, von denen nur zwei den hier beschriebenen Tatsachen je einen Artikel widmeten.*
5.2., Aargau: 7jähriger Knabe wird von seinem Vater arg mißhandelt (Schläge mit Fäusten, Geißel, einschließen usw.) Nach Aussage seiner Mutter wird sie ebenso geschlagen. Grund: Alkohol und finanzielle Engpässe.
St. Gallen: 12jähriges Mädchen hält es zu Hause nicht mehr aus, seine Eltern schlagen es jedesmal mit dem Lederriemen, wenn etwas passiert ist.
Aargau: 12jähriges Mädchen wird von seinem Vater mit den Fäusten verboxt und mit dem Hosengürtel verdrescht. Grund: Es darf keine Freunde haben, denn der Vater will die Tochter für sich allein.
7.2., Bern: 7jähriges Mädchen ist von zu Hause ausgerissen. Grund: Seine Mutter schlägt es als Strafe immer mit dem Teppichklopfer. Nach Aussagen der Mutter dürfe man Kinder, bis sie schulreif sind, schlagen, denn bis zu der Zeit würde dies den Kindern seelisch nicht schaden.
8. 2., Zürich: 15jähriges Mädchen wird von seinen Eltern sehr streng gehalten. Zur Strafe zerrt man es an den Haaren oder »schraubt« gleichzeitig beide Ohrläppchen. Seine Eltern sind der Ansicht, die Tochter müsse streng an die Kandare genommen werden, denn das Leben sei hart und diese Härte müsse ein Kind als Kind spüren, später würde es sonst nur weich.
* Beim Korrekturlesen erfahre ich, daß sich inzwischen noch drei Elternzeitschriften entschlossen haben, diese Dokumente zu publizieren.
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14.2., Luzern: Vater legt seinen 14jährigen Sohn mit dem Rücken über die Knie und biegt ihn durch, bis es im Rücken knackt (»Banane machen«). Das ärztliche Attest erkennt eine Gelenkverschiebung im Rückgrat. Grund der Mißhandlung: Sohn hat in einem Supermarkt ein Sackmesser gestohlen.
15.2., Thurgau: 10jähriges Mädchen ist verzweifelt. Als Strafe hat ihr Vater den Hamster vor ihren Augen getötet und zerschnitten.
16.2., Solothurn: 14jähriger Junge erhält absolutes Onanieverbot. Seine Mutter droht, ihm bei Wiederholung das Glied abzuschneiden. Nach Aussagen seiner Mutter kommen alle, die das tun, in die Hölle. Seit sie dasselbe bei ihrem Mann entdeckt habe, ziehe sie alle Register, um diese Schande zu bekämpfen.
Graubünden: Vater schlägt seiner 15jährigen Tochter mit voller Wucht auf den Kopf. Das Mädchen wird bewußtlos. Das ärztliche Attest erkennt einen Riß im Schädel. Grund der Mißhandlung: Tochter kam eine halbe Stunde zu spät nach Hause.
17.2., Aargau: 14jähriger Junge ist todunglücklich, weil er keinen Menschen kenne, mit dem er reden könne. Eigentlich sei er selbst schuld, denn er habe vor anderen Menschen Angst, besonders vor Mädchen.
18.2., Aargau: 13jähriger Junge wird von seinem Onkel zu sexuellen Handlungen gezwungen. Der Junge will sich umbringen, nicht allein wegen der Handlung, sondern mehr, weil er Angst hat, nun homosexuell zu sein. Seinen Eltern darf er nichts sagen, er riskiere nur Schläge.
Basel-Land: 13jähriges Mädchen wurde von seinem Freund (18 Jahre) geschlagen und zum Beischlaf gezwungen. Weil das Mädchen große Angst vor den Eltern hat, will es alles für sich behalten.
Basel: 7jähriger Knabe hat große Angst. Die Angst komme immer gegen Mittag und bleibe bis in den späten Nachmittag. Die Mutter will ihren Sohn nicht zum Psychologen schicken: Sie hätten erstens kein Geld, und er spinne ja nicht. Bedenken hat sie zwar, denn er wollte schon zweimal aus dem Fenster springen.
20.2., Aargau: Vater schlägt seine Tochter und droht, ihr die Augen auszustechen, wenn sie noch länger mit ihrem Freund »ziehe«. Grund: Die zwei sind für zwei Tage abgehauen.
21.2., Zürich: Vater hängt seinen 11jährigen Sohn für 4 Stunden an den Beinen an die Wand. Nachher stülpt er das Kind in ein kaltes Bad. Grund: Er hat in einem Supermarkt etwas gestohlen.
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27.2., Bern: Lehrer gibt immer wieder exemplarisch seinen Schülern Ohrfeigen, wobei der Betroffene nach dem Schlag »Bürzelbaum« machen muß. Der Qualeffekt liegt in der pausenlosen Wiederholung, bis der Schüler liegenbleibt.
29.2., Zürich: 15jähriges Mädchen wird von seiner Mutter seit 6 Jahren geschlagen (mit Besen, Eßbesteck, Elektrokabel). Es ist verzweifelt und will von seiner Mutter weg.
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Innert zweier Jahre, seit das Sorgentelefon besteht, haben die Betreuer(innen) von folgenden Methoden physischer Mißhandlung gehört:
Schlagen: Ohrfeige: häufiges, kräftiges Schlagen mit einer Hand auf das Ohr, mit der Faust, mit dem angewinkelten Daumen.
Sandwichohrfeige: Hier wird mit beiden Händen gleichzeitig geschlagen, mit beiden Fäusten oder mit beiden angewinkelten Daumen.
Hand: abwechselnder, starker Handschlag auf den Körper.
Faust: mit beiden Fäusten abwechslungsweise auf den Körper schlagen.
Doppelfaust: mit beiden Händen, zu Fäusten geschlossen, auf den Körper einschlagen.
Ellbogen: mit den Ellbogen kräftig auf den Körper einhauen.
Arme: mit den Armen und dem Ellbogen abwechslungsweise auf den Körper einschlagen.
Kopfnüsse: geschlagen oder mit Streifschlag, mit dem Ehering geschlagen oder gestreift.
Tatzen: Nicht nur Lehrer schlagen heute noch mit dem Lineal, auch Eltern. Besonders praktisch sind Plastiklineale. Die Tatze wird geschlagen: auf die Handinnenfläche, auf die Handballen, auf die Handrücken, auf die Fingerbeeren, wobei die Finger geschlossen nach oben gehalten werden müssen. Seltener: Tatzen mit den Kanten der Lineale.
Strom: Mit der »brennenden Rute aus der Steckdose« machten schon einige Kinder Erfahrung: durch kurzes Verbinden mit dem Strom oder dadurch, daß die Klinke der Kinderzimmertür unter Strom gesetzt wurde.
Fleischwunden: Schläge, so daß Wunden entstehen: mit bloßer Hand (durch die Fingernägel aufgeschnitten), mit den Fäusten (durch den Ring aufgerissen), mit Gabel, Messer, Messerkante, Löffel, mit dem Stromkabel, mit der Gitarrensaite (ausgeführt wie Peitschenhiebe). Gestochen, so daß Wunden entstehen: mit Nadeln, Stricknadeln, Scheren.
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Brüche: Knochen werden gebrochen durch Wegschleudern, Rückwärts-Wegstoßen, Aus-dem-Fenster-Werfen, Die-Trep-pe-Hinunterstoßen, Die-Treppe-Hinaufwerfen, Zuschlagen der Autotüre, Fußtritt auf den Brustkorb, so daß Rippen brechen, Herumtrampeln auf dem Körper, Die-Faust-auf-den-Kopf-Schlagen (Schädelriß), Handkantenschläge.
Brennen: Brandwunden: brennende Raucherwaren auf dem Körper löschen, brennendes Streichholz auf dem Körper löschen, mit Lötkolben brennen, heißes Wasser nachwerfen, Stromstöße, brennen mit dem Feuerzeug.
Würgen: mit bloßer Hand, Stromkabel, Autofenster (indem das Fenster mit dem Kopf des Kindes dazwischen zugedreht wird).
Quetschungen: Sie treten auf durch: Schlagen, Autotüren-Zuschlagen, wobei Finger, Arme, Beine und der Kopf eines Kindes verletzt werden. Fußtritte, Boxen.
Ausreißen der Haare: büschelweise, vom Kopf, im Nacken, seitlich, an Schnauz und Brust, Bart (bei Jugendlichen).
Hängen: Kinder haben berichtet, ihr Vater habe sie zur Strafe an den Beinen an die Wand gehängt und stundenlang so gelassen. Abdrehen, drehen: das Ohr einzeln »schrauben«, beide Ohren gleichzeitig »schrauben«, Arme hinter dem Rücken drehen und hinaufpressen; massieren mit dem Fingerknorpel: Schläfe, Schlüsselbein, Schienbein, Brustbein, unterhalb der Ohren, über dem Nacken; knicken: Das Kind wird mit dem Rücken über die Knie gelegt und durchgedrückt (»Banane machen«). Blutablassen (selten): Einem iojährigen Kind wurde die innere Ellbogenvene aufgeschnitten und Blut abgelassen, bis es nicht mehr wach sein konnte. Als es ohnmächtig wurde, waren seine Sünden vergeben.Unterkühlen (selten): Kinder werden unterkühlt und in kaltes Wasser getaucht. Das Auftauen verursacht Schmerzen. Tauchen: Kinder, die in der Badewanne spritzen, werden mehrmals ins Wasser getaucht.
Schlafentzug (selten): Ein 11jähriges Mädchen wurde bestraft, indem es während zweier Tage nicht mehr richtig durchschlafen konnte. Alle drei Stunden wurde es geweckt oder im Schlaf ins kalte Wasser getaucht. Auch Bettnässer werden mit Schlafentzug bestraft. Ein Automat im Bett des Kindes weckt es immer, wenn es Wasser gelassen hat. Ein Knabe konnte beispielsweise während dreier Jahre keine Nacht ohne Unterbruch schlafen.
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Seine Nervosität wurde mit Medikamenten »behoben«. Seine Schulleistungen nahmen ab. Nun gab die Mutter ihm die Tabletten nur noch sporadisch. Als Folge war das Kind zunehmend in seinem sozialen Verhalten gestört: wieder ein Grund für körperliche Strafe.
Zwangsarbeit: eine Methode, die eher in ländlichen Gegenden angewendet wird. Zur Strafe muß das Kind: die Nacht durcharbeiten, bis zur Erschöpfung den Keller putzen, eine Woche oder einen Monat lang nach der Schule bis nachts um 23 Uhr arbeiten und ab 5 Uhr morgens (auch sonntags).
Essen: Das Kind muß Erbrochenes wieder essen. Dem Kind wird nach dem Essen der Finger in den Mund gesteckt, um es erbrechen zu lassen. Nachher muß es das Erbrochene wieder essen.
Injektionen: Dem Kind wird eine Kochsalzlösung in den Hintern, in die Arme oder in die Schenkel gespritzt (selten). Ein Zahnarzt hat diese Methode schon angewendet.
Nadeln: Wiederholt haben Kinder berichtet, ihre Eltern nähmen zum Einkauf präparierte Nadeln mit. Wenn die Kinder was aus den Gestellen nehmen wollen, fahren ihnen die Eltern liebevoll über den Kopf und stechen sie kurz in den Nacken.
Tabletten: Um das Problem mit dem Einschlafen zu lösen, erhalten Kinder Schlaftabletten und Zäpfchen in erhöhter Dosis. Ein 13jähriges Kind fühlte sich jeden Morgen benommen und konnte nur noch mühevoll lernen.
Alkohol: In die Schoppen von Kleinkindern werden Bier, Schnaps, Likör gegeben. So schlafen die Kinder besser ein und fallen durch ihr Schreien den Nachbarn nicht lästig.
Bücher (selten): Kinder müssen mit ausgestreckten Armen ein oder zwei Bücher halten, bis sie den »Krampf« haben. Ein Mädchen berichtete, es habe dazu auf einem Holzscheit knien müssen.
Kopffeige: Ein Junge berichtete: Sein Vater hielt den Kopf nahe an den Kopf des Sohnes. Nach kurzer Zeit schlug er ihn kurz und schnell gegen den Kopf des Kindes. Der Vater rühmte sich seiner Technik (Kopffeige), die geübt sein müsse, damit er nicht selbst Schmerzen spüre.
Rückschlagen: Rückschlagen ist eine Methode, einen Unfall vorzutäuschen: Das Kind wird angehalten, etwas Schweres mitzutragen. Während des gemeinsamen Tragens läßt der Erwachsene plötzlich los. Der Rückschlag verletzt oft die Finger, die Hand oder den Fuß, wenn das Gewicht darauffällt.
Foltern: Ein Kind und seine Großmutter meldeten: Der Vater richtete im ehemaligen Kohlenkeller eine Folterkammer ein. Er fesselte das Kind auf einen »Schragen« und peitschte es aus. Je nach Härte der Strafe verwendete er eine spezielle Peitsche. Öfters ließ er das Kind die Nacht über gefesselt.
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Warum haben fast alle Zeitungen, die sich ja hauptberuflich mit der »Gesellschaft« befassen, ausgerechnet diese erschütternden Nachrichten mit Schweigen quittiert? Wer schützt wen und wovor? Warum sollte die Schweizer Öffentlichkeit nicht erfahren, daß unzählige Kinder einem einsamen Martyrium in ihrem schönen Lande ausgesetzt sind? Was wird mit dem Verschweigen erreicht? Könnte es nicht sein, daß es sogar für die mißhandelnden Eltern hilfreich wäre zu erfahren, daß die Not des geschlagenen Kindes, das sie ja selber einst waren, endlich gesehen und ernstgenommen wird?
Wie die Taten von Jürgen Bartsch sind zahlreiche Verbrechen am Kind eine unbewußte Mitteilung an die Öffentlichkeit über die eigene, oft kaum erinnerbare Vergangenheit. Einer, der »nicht merken« durfte, was man mit ihm tat, kann nicht anders erzählen, als indem er das tut, was ihm geschehen ist. Die Medien aber, die sich um die Verbesserung der Gesellschaft bemühen wollen, könnten, so möchte man meinen, diese Sprache verstehen lernen, sobald es ihnen nicht mehr verboten ist, zu merken.
Schlußbemerkungen
Es mag dem Leser sehr seltsam vorkommen, drei Schicksale nebeneinander beschrieben zu sehen, die so verschiedenartig sind. Ich habe sie aber gerade aus diesem Grund ausgesucht und zusammengestellt, denn trotz ihrer Verschiedenheit möchte ich hier Gemeinsamkeiten aufzeigen, die auch für viele andere Menschen gelten können:
1. In allen drei Fällen handelt es sich um eine extreme Destruktivität. Bei Christiane ist sie gegen das Selbst gerichtet, bei Adolf Hitler gegen die realen und vermeintlichen Feinde und bei Jürgen Bartsch gegen kleine Jungen, in denen er immer wieder sich selbst mordet, aber zugleich das Leben anderer Kinder auslöscht.
2. Ich verstehe diese Destruktivität als Entladung des früh aufgestauten, kindlichen Hasses und dessen Verschiebung auf andere Objekte oder auf das Selbst.
3. Alle hier erwähnten drei Kinder wurden schwer mißhandelt und gedemütigt und zwar nicht nur in Ausnahmesituationen. Vom frühesten Alter an war Grausamkeit das Klima, in dem sie aufgewachsen sind.
4. Eine normale, gesunde Reaktion auf eine solche Behandlung wäre bei einem gesunden, normalen Kind eine narzißtische Wut von starker Intensität. Doch im autoritären Erziehungssystem aller drei Familien mußte sie aufs Schärfste unterdrückt werden.
5. Alle diese Menschen hatten in ihrer ganzen Kindheit und Jugend keine erwachsene Person, der sie sich mit ihren Gefühlen, vor allem mit dem Haß, hätten anvertrauen können.
6. Bei allen drei hier beschriebenen Personen bestand ein starker Drang, die erlittenen Erfahrungen der Welt mitzuteilen, sich auf irgendeine Art zu artikulieren. Alle drei zeigen auch eine Begabung, sich verbal auszudrücken.
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7. Da diesen Menschen der Weg einer vertrauensvollen, gefahrlosen, verbalen Kommunikation versperrt war, konnten sie ihre Mitteilungen an die Welt nur in Form von unbewußten Inszenierungen anbringen.
8. Alle diese Inszenierungen vermitteln der Welt das Gefühl des Grauens und Entsetzens, das diese erst heim letzten Akt dieses Dramas aufbringt, nicht aber auf die Nachricht von geschlagenen Kindern.
9. Es gehört zum Wiederholungszwang dieser Menschen, daß es ihnen mit ihren Inszenierungen zwar gelingt, die größte Aufmerksamkeit der Umwelt auf sich zu ziehen, aber schließlich doch in ihr den Untergang zu finden, wie ein regelmäßig geprügeltes Kind, das doch auch eine Art Aufmerksamkeit, aber eine unheilvolle, besitzt. (Christiane ist hier eine Ausnahme, weil ihr in der Pubertät zwei Menschen begegnet sind, mit denen sie sprechen konnte).
10. Alle drei Personen erfuhren Zärtlichkeit nur als Selbstobjekte, als Eigentum ihrer Eltern, aber nie als die Menschen, die sie waren. Die Sehnsucht nach Zärtlichkeit, gepaart mit dem Durchbruch destruktiver Gefühle aus der Kindheit, brachte sie in der Pubertät und Adoleszenz zu ihren verhängnisvollen Inszenierungen.
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Die drei hier beschriebenen Menschen sind nicht nur Individuen, sondern Repräsentanten bestimmter Gruppen. Man kann diese Gruppen besser verstehen (z.B. Drogenabhängige, Delinquenten, Selbstmörder, Terroristen oder auch eine bestimmte Art von Politikern), wenn man ein Einzelschicksal bis in die verborgene Tragik seiner Kindheit verfolgt. Alle Inszenierungen solcher Menschen schreien im Grunde in zahlreichen Varianten nach Verständnis, tun es aber in einer solchen Form, daß sie alles andere, aber sicher kein Verständnis in der Öffentlichkeit ernten können. Das gehört zur Tragik des Wiederholungszwanges, daß man hofft, endlich eine bessere Welt zu finden, als die, die man als Kind vorgefunden hat, und im Grunde immer wieder die gleichen Konstellationen schafft.
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Wenn man über die erlittene Grausamkeit nicht erzählen kann, weil sie so früh erfahren wurde, daß das Gedächtnis nicht mehr hinreicht, dann muß man Grausamkeit demonstrieren. Christiane tut es in ihrer Selbstzerstörung, die andern, indem sie sich Opfer suchen. Wenn man Kinder hat, bieten sich diese Opfer von selbst an, und die Demonstration kann straflos und von der Öffentlichkeit unbemerkt und unbeachtet erfolgen. Wenn man aber keine Kinder hat, wie im Falle von Hitler, kann sich der unterdrückte Haß auf Millionen von Menschen ergießen und sowohl die Opfer wie die Richter stehen angesichts einer solchen Bestialität ahnungslos da.
Seit Hitlers Idee, Menschen wie Ungeziefer zu vernichten, sind einige Jahrzehnte vergangen, und die technischen Mittel, die dazu notwendig waren, sind inzwischen sicherlich ungemein perfektioniert worden. Um so wichtiger wäre es, ein Stück weit mit dieser Entwicklung Schritt zu halten und zu verstehen, woher ein Haß von dieser Intensität und Unersättlichkeit wie der von Hitler stammen könnte. Denn alle historischen, soziologischen, ökonomischen Erklärungen in Ehren — der Funktionär, der den Gashahn aufdreht, um Kinder zu ersticken, und derjenige, der sich das ausgedacht hat, sind Menschen und waren einmal Kinder. Solange die Öffentlichkeit keinen Sinn dafür entwickelt, daß täglich unzählige Seelenmorde an Kindern begangen werden, an deren Folgen die Gesellschaft zu leiden haben wird, tappen wir im dunklen Labyrinth — trotz aller gutgemeinten Abrüstungspläne.
Als ich diesen ganzen Teil des Buches konzipiert habe, ahnte ich nicht, daß er mich an die Fragen der Friedensforschung heranbringen würde. Ich hatte nur das Bedürfnis, Eltern zu vermitteln, welche Erfahrungen ich in meiner 20jährigen psychoanalytischen Praxis mit der Pädagogik gemacht hatte.
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Da ich nicht über meine Patienten berichten wollte, wählte ich Menschen, die sich bereits selbst der Öffentlichkeit vorgestellt hatten. Doch das Schreiben gleicht einer abenteuerlichen Reise, von der man bei ihrem Antritt nicht weiß, wohin sie einen führt. Wenn ich mich also auf das Gebiet der Friedensforschung begab, dann nur als ein Vorüberreisender, denn diese Fragen überschreiten bei weitem meine Kompetenz. Aber die Beschäftigung mit dem Leben Hitlers, der psychoanalytische Versuch, aus der Erniedrigung und Demütigung seiner Kindheit seine späteren Taten zu verstehen, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Sie brachte mich notgedrungen auf die Fragen der Friedensforschung.
Was sich daraus ergab, hat sowohl einen pessimistischen als auch einen optimistischen Aspekt:
Als pessimistisch bezeichne ich den Gedanken, daß wir viel mehr, als es unserem Stolz angenehm wäre, von einzelnen Individuen (nicht nur von Institutionen!) abhängig sind, die sich der Masse bemächtigen können, sobald sie deren Erziehungssystem repräsentieren. Menschen, die bereits als Kinder »pädagogisch« manipuliert worden sind, merken es als Erwachsene nicht, was man alles mit ihnen machen kann.
Die Führergestalten, in denen die Masse den Vater sieht, sind im Grunde (wie auch der einzelne autoritäre Vater) das sich rächende Kind, das die Masse für seine Zwecke (die Rache) braucht. Und diese zweite Abhängigkeit, die Abhängigkeit des »Großen Führers« von seiner Kindheit, von der Unberechenbarkeit des nichtintegrierten, immensen Haßpotentials in seinem Innern ist wohl die größte Gefahr.
Der optimistische Aspekt dieser Untersuchung darf aber auch nicht übersehen werden. In allem, was ich in der letzten Zeit über die Kindheiten von Verbrechern, ja auch Massenmördern gelesen habe, konnte ich nirgends die Bestie, das böse Kind finden, das die Pädagogen zum »Guten« erziehen zu müssen meinen. Ich fand überall einfach wehrlose Kinder, die von den Erwachsenen im Namen der Erziehung und oft im Dienste höchster Ideale mißhandelt worden waren.
Mein Optimismus beruht also auf der Hoffnung, daß die Öffentlichkeit die Verschleierung der Mißhandlung im Dienste der Erziehung nicht mehr zulassen wird, sobald sie einmal erkannt hat: 1. daß diese Erziehung im Grunde nicht zum Wohle des Kindes stattfindet, sondern um Bedürfnisse der Erzieher nach Macht und Rache zu befriedigen; und 2. daß nicht nur das einzelne mißhandelte Kind, sondern, in den Konsequenzen, wir alle als Opfer davon betroffen werden können.
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