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Vorwort

 

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Im Unterschied zum Tier, das in der Regel kurze Zeit nach der Geburt eigenständig ist, bleibt das menschliche Neugeborene lange, sehr lange auf Hilfe angewiesen. Es kommt als ein Bündel von Bedürfnissen zur Welt und braucht unbedingt die Wärme menschlicher Arme, wachsamer Augen und liebkosender Berührungen. Brutkästen und elektrische Wärme sind nur ein sehr unzulänglicher Ersatz dafür, und die Berührung mit kalten Instrumenten kann eine Folter sein.

Das Baby braucht die Gewißheit, daß es in jeder Situation beschützt wird, daß sein Kommen erwünscht war, daß sein Schreien gehört, seine Blicke beantwortet und seine Angst beruhigt werden. Es braucht die Sicherheit, daß sein Hunger und Durst gestillt, sein Körper liebevoll gepflegt und seine Not niemals ignoriert werden.

Ist das zuviel verlangt? Unter Umständen viel zuviel, eine große Bürde, unter anderen Umständen hingegen eine Freude und Bereicherung. Das hängt ganz davon ab, was die Eltern selbst einst erfuhren und was sie zu geben haben. Doch dessen ungeachtet – jedes Kind ist auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse angewiesen, weil es sich selbst nicht helfen kann. 

Es kann zwar schreien, um Hilfe herbeizurufen, aber es ist ganz davon abhängig, daß seine Umgebung den Schrei hört, ihn ernstnimmt, die dahinterliegenden Bedürfnisse erfüllt und nicht die Schreie haßerfüllt bestraft oder sie gar mit Hilfe von Beruhigungsmitteln verhindert.

Die einzige Möglichkeit zur Selbsthilfe, die einem Baby übrigbleibt, wenn sein Schrei nicht erhört wird, ist die Verdrängung der Schmerzen, was eine Verstümmelung der eigenen Seele bedeutet. Denn dadurch wird seine Fähigkeit zu fühlen, wahrzunehmen und sich zu erinnern, gestört.

Wenn diese angeborene Fähigkeit nicht weiter entwickelt werden kann, weiß man später zum Beispiel nicht, was es heißt, schutzlos zu sein, und ist nicht in der Lage, seinem Kind den Schutz und die Liebe zu geben, die dieses ebenfalls dringend brauchen wird. Eltern, die niemals Liebe erfahren haben, die auf Kälte, Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Blindheit gestoßen sind, als sie zur Welt kamen, und deren ganze Kindheit und Jugend in dieser Atmosphäre verlief, können Liebe nicht schenken – wie sollten sie auch, wenn sie doch gar nicht wissen, was Liebe ist und sein kann? 

Trotzdem werden ihre Kinder überleben. Und wie die Eltern werden auch sie sich nicht daran erinnern, welchen Qualen sie einst ausgesetzt waren, weil sowohl all diese Qualen als auch die dazugehörenden Bedürfnisse verdrängt, das heißt aus dem Bewußt­sein vollständig verbannt worden sind.

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Wenn ein Mensch in eine kalte, gleichgültige Welt hineingeboren wird, betrachtet er diese als die einzig mögliche. Das, was er später glaubt, vertritt, für richtig hält, ist auf diesen ersten prägenden Erfahrungen aufgebaut. Daß dieser Preis des Überlebens nicht nur für einen einzelnen Menschen viel zu hoch ist, sondern sich auch als die größte Gefahr für die ganze Menschheit entpuppt, läßt sich heute bereits nachweisen.  

Tierexperimente haben schon in den fünfziger Jahren gezeigt: Affen, die man nach der Geburt von ihren Müttern trennte und mit Mutterattrappen aus Stoff aufzog, zeigten keine mütterlichen »Instinkte«, wenn sie selbst später Junge zur Welt brachten. Und es liegen bereits Statistiken vor, die klare Zusammenhänge zwischen frühen Verwahr­losungen und Mißhandlungen und der späteren Gewalt­tätigkeit eines Menschen eindeutig beweisen (vgl. z.B. Newsletter of the American Psychological Association, Dez. 1985). 

Warum werden kaum Schlüsse aus diesen Statistiken gezogen? Die Verdrängung der einst erlittenen Qualen und deren Preis macht die Menschen taub für die Schreie der Kinder und blind für die offensichtlichen Zusammenhänge. So werden die aus den Statistiken klar ersichtlichen Fakten ignoriert, um den Durchbruch der einst verdrängten Schmerzen, um die Erkenntnis der Wahrheit zu verhindern.

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Mitten im verschneiten Paris im kalten Januar 1987 stieß ein Clochard auf einen Plastiksack mit einem schreienden Neugeborenen. Die Eltern hatten es nicht behalten wollen und es seinem Schicksal überlassen. Der arabische Clochard, der es nicht wie andere Passanten eilig hatte, in eine warme Wohnung zu kommen, weil er gar keine besaß, hat dem Kind das Leben gerettet. Hätte er dem Schreien des Kindes kein Gehör geschenkt oder wäre es nicht in der Lage gewesen, seine Not zu signalisieren, wäre es erfroren. Ein Neugeborenes kann sogar einige Tage alleine und ohne Nahrung überleben. Dies bewies ein Kind, das man schreiend nach dem Erdbeben in Mexico-City 1985 in den Ruinen fand.

Diese große Anpassungsfähigkeit des Neugeborenen an unsere grausame Welt und seine Zähigkeit haben die Menschheit schon seit jeher dazu verleitet zu glauben, man könne einem kleinen Kind schadlos alles zumuten: es total verwahrlosen lassen, mit Zigaretten seine Haut anbrennen, es schütteln, an die Wand schlagen, anschreien. Bis vor kurzem korrigierte niemand diese Meinung, weil die verletzten Kinder in ihrer Wehrlosigkeit nicht sagen konnten, welchen Qualen man sie aussetzte; ihre Signale wurden nicht wahrgenommen. Und später, als Erwachsene, wußten sie es selbst nicht mehr, oder zumindest war es ihnen nicht so präsent, daß sie es hätten sagen können. Aber irgendwie mußten sie es doch wissen, ihr Gehirn hatte es offenbar gespeichert, denn sie gaben ihre traumatischen Erfahrungen wie in einer Art Wiederholungszwang an ihre Kinder weiter; ebenfalls ohne sich um die Folgen zu kümmern.

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Um diese verborgenen Quellen der Gewalt aufzuzeigen, beschrieb ich in meinem Buch Am Anfang war Erziehung (1980) die Kindheit Adolf Hitlers. Ich wollte zeigen, wie sich im Leben eines Massenmörders die unzähligen Morde widerspiegeln, die an einem Kind begangen wurden. Ich tat es, wie man einen Krankheitserreger beschreibt, um zu verhindern, daß sich eine ansteckende Krankheit infolge Ignoranz weiter ausbreitet. Dies hielt ich deshalb für notwendig, weil sehr viele Menschen noch keine Ahnung davon haben, daß sie Dynamit in unsere Welt legen, wenn sie ihre Kinder körperlich oder nur psychisch mißhandeln. Sie bezeichnen ihr Verhalten als richtig und notwendig. Andere wiederum meinen, dies sei zwar nicht ganz so richtig, aber unumgänglich, weil Kinder manchmal schwierig und die Eltern überfordert seien. Dann »können sie nicht anders« und schlagen zu. Ich halte beide Meinungen für unzutreffend, inhuman und gefährlich.

Es ist schlicht und einfach nicht wahr, daß Menschen fortfahren müssen, unter Zwang ihre Kinder zu verletzen, sie lebenslänglich zu schädigen und damit unsere Zukunft zu zerstören. Als ich 1979 Das Drama des begabten Kindes schrieb und unter dem Einfluß des psychoanalytischen Denkens stand, habe ich das selbst noch geglaubt. 

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Inzwischen weiß ich, daß das nicht so bleiben muß. Ansteckende Krankheiten brauchen sich nicht zu verbreiten, wenn man den Erreger kennt. Verletzungen können ausheilen und müssen nicht weitergegeben werden, vorausgesetzt, man ignoriert sie nicht. Man kann durchaus aus dem Schlaf erwachen. Und in diesem Wachzustand öffnet sich ein Raum für die Mitteilungen unserer Kinder, von denen wir all das lernen können, was wir brauchen, um nie mehr Leben zu zerstören, sondern es, im Gegenteil, zu schützen und sich entfalten zu lassen.

Das eigene Leiden nicht ernst zu nehmen, es zu bagatellisieren oder sogar darüber zu lachen, gehört in unserer Kultur zum guten Ton. Diese Haltung wird sogar als Tugend bezeichnet, und viele Menschen, zu denen ich früher auch gehörte, sind stolz auf ihren Mangel an Sensibilität ihrem eigenen Schicksal und vor allem ihrer Kindheit gegenüber. Warum sich die unheilvolle Ansicht, diese Haltung sei erstrebenswert, so hartnäckig behaupten konnte und welche tragischen Verhältnisse sie zuzudecken hilft, versuchte ich in meinen Büchern aufzuzeigen. 

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Menschen aus verschiedenen Ländern erzählen mir immer wieder mit großer Erleichterung, daß sie nach der Lektüre des Drama des begabten Kindes zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Mitgefühl für das mißbrauchte oder gar geschlagene Kind empfanden, das sie einst gewesen waren. Sie sagen, daß sie sich selbst jetzt mehr als früher respektieren und ihre Bedürfnisse und Gefühle besser, genauer wahrnehmen können. »Sie haben mein Leben in diesem Buch beschrieben, woher haben Sie es gewußt?« höre ich häufig.

Woher habe ich es gewußt? Die Antwort auf diese Frage fällt mir heute nicht mehr schwer. Heute weiß ich es: Es waren nicht die Bücher, nicht meine Lehrer, nicht mein Philosophiestudium, nicht meine Ausbildung zur Psychoanalytikerin, die mir dieses Wissen vermittelten. Im Gegenteil: Ihre mystifizierende Begriffsbildung, ihre Abwendung von der Realität hinderten mich allzu lange, die Wahrheit zu erkennen. Es war überraschenderweise nur das einst zur Sprachlosigkeit verurteilte, mißbrauchte, ausgebeutete und versteinerte Kind in mir, das schließlich seine Gefühle und damit seine Sprache gefunden hat und mir in Schmerzen seine Geschichte erzählte. Diese Geschichte begann ich im Drama des begabten Kindes zu beschreiben, und so viele Menschen erkannten in ihr ihre eigene Geschichte wie in einem Spiegel.

In meinem vierten Buch Bilder einer Kindheit (1985) schilderte ich genauer, wie sich meine Begegnung mit diesem Kind ereignet hat, nachdem es aus seiner Verbannung auftauchte, und wie ich ihm den Schutz bieten konnte, den es brauchte, um seine Schmerzen fühlen und darüber sprechen zu können.

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Die Entdeckung, daß ich ein mißbrauchtes Kind war, daß ich vom Anbeginn meines Lebens unbedingt auf die Bedürfnisse und Gefühle meiner Mutter eingehen mußte und gar keine Chance hatte, meine eigenen zu fühlen, hat mich sehr überrascht. Die Entdeckung meiner damaligen totalen Hilflosigkeit hat mir auch die Macht der Verdrängung gezeigt, die mich mein Leben lang von der Wahrheit fernhielt, und die Ohnmacht der Psychoanalyse, die durch ihre irreführenden Theorien diese Verdrängung noch zementierte. Denn ich hatte zwei Lehranalysen im Rahmen meiner Ausbildung absolviert, ohne daß die Analytikerinnen imstande gewesen wären, an meiner Version der glücklichen Kindheit, die ich angeblich gehabt hatte, zu rütteln.

Erst das spontane Malen, mit dem ich 1975 begann, hat mir den ersten unverfälschten Zugang zu meiner frühen Realität verschafft. In meinen Bildern begegnete ich dem Terror meiner Mutter, dem ich jahrelang ausgeliefert war. Denn niemand in der ganzen Umgebung, auch nicht mein freundlicher Vater, konnte den Mißbrauch eines Kindes, der unter dem Deckmantel der Erziehung begangen wurde, je bemerken und in Frage stellen. Hätte nur ein einziger Mensch damals begriffen, was da vor sich ging, und mich in Schutz genommen, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen. 

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Er hätte mir helfen können, die Grausamkeit zu erkennen und sie nicht jahrzehntelang als etwas Normales und Notwendiges, auf Kosten meines eigenen Lebens, zu dulden.

Dieser Teil meiner Geschichte, dieser Mangel an aufgeklärten Zeugen, mag dazu beigetragen haben, daß ich mit meinen Büchern Menschen informieren möchte, die potentielle Helfer des leidenden Kindes sind. Damit meine ich all jene, die sich nicht scheuen, eindeutig die Partei des Kindes zu ergreifen und es vor dem Machtmißbrauch durch Erwachsene zu schützen. In unserer kinder­feindlichen Gesellschaft sind diese Menschen noch selten, aber ihre Zahl wächst.

Das spontane Malen half mir nicht nur, meine persönliche Geschichte zu entdecken, sondern auch, mich von den gedanklichen Zwängen und Konzepten meiner Erziehung und Ausbildung, die ich als falsch, irreführend und verhängnisvoll erkannte, zu befreien. Je mehr ich lernte, im freien Spiel mit Farben und Formen meinen Impulsen zu folgen, um so schwächer wurden meine Bindungen an ästhetische oder andere Konventionen. Ich wollte keine schönen Bilder malen, nicht einmal gute Bilder zu malen war mir wichtig. Ich wollte nur der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen.

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Dies gelang mir dann, nach 1983, mit Hilfe der Therapie­methode von Konrad Stettbacher, auf die ich in diesem Buch näher eingehen werde. Doch schon vorher begann ich immer deutlicher zu sehen, wie die Konstrukte der Psycho­analyse den Zugang zur Wahrheit versperren. Das versuchte ich in meinen Büchern zu beschreiben, um den Opfern dieser Blockierung zum Sehen zu verhelfen und ihnen wenigstens den mühsamen Weg meines Suchens zu ersparen. Damit erntete ich zwar viel Haß, aber auch viel Dankbarkeit.

Inzwischen hatte ich begriffen, daß ich als Kind mißbraucht worden war, weil meine Eltern ähnliches in ihrer Kindheit erfahren und gleichzeitig gelernt hatten, diesen Mißbrauch als Erziehung zu ihrem Wohl anzusehen. Weil sie – wie auch die Analytiker in meiner Ausbildung – nicht fühlen und folglich nicht verstehen durften, was ihnen einst widerfahren war, konnten sie den Mißbrauch nicht erkennen und gaben ihn ohne die Spur eines schlechten Gewissens an mich weiter.

Ich begriff, daß ich an der Geschichte meiner Eltern und Lehrer, die sie blind gemacht hatte, nicht das geringste zu ändern vermochte. Aber gleichzeitig fühlte ich; daß ich trotzdem versuchen kann und muß, den gegenwärtigen jungen und vor allem den zukünftigen Eltern die Gefahren des Mißbrauchs ihrer Macht aufzuzeigen, sie dafür zu sensibilisieren und sie für die Signale des Kindes hellhörig zu machen.

Dies kann ich tun, wenn ich dem bisher zum Schweigen verurteilten, rechtlosen Opfer, dem Kind, zum Reden verhelfe, wenn ich sein Leiden aus seiner Perspektive heraus beschreibe und nicht aus der des Erwachsenen. Denn gerade von diesem Kind erhielt ich ja lebenswichtige Informationen, Antworten auf Fragen, die in meinem ganzen Studium der Philosophie und Psychoanalyse unbeantwortet geblieben waren und die doch nicht aufhörten, mich mein Leben lang zu beschäftigen. Erst als mir die realen Gründe meiner Kindheitsängste und Schmerzen in vollem Umfang klar wurden, begriff ich, was erwachsene Menschen ihr Leben lang von sich fernhalten müssen und weshalb sie, statt sich mit ihrer Wahrheit zu konfrontieren, zum Beispiel lieber eine gigantische atomare Selbstzerstörung organisieren, ohne deren Absurdität überhaupt wahrzunehmen.

Die Absurdität erhielt für mich Ihre zwingende Logik, nachdem mir dank der Therapie das fehlende Stück, das bisher streng gehütete Geheimnis der Kindheit, zugänglich wurde. Wenn man nämlich dem Leiden des Kindes nicht mehr blind gegenüberstehen muß, begreift man plötzlich, daß wir Erwachsenen es in der Hand haben, unsere Neugeborenen durch unsere Behandlung entweder zu späteren Monstern zu machen oder sie zu verant­wortungs­bewußten, weil fühlenden Menschen heranwachsen zu lassen (vgl. A. Miller 1985, S. 175-179).

In diesem Buch möchte ich versuchen, das in den letzten Jahren gewonnene Wissen mit anderen Menschen zu teilen. Wieweit dies überhaupt gelingen kann, wird sich zeigen. Doch weil ich davon überzeugt bin, daß das Wissen über die Situation des Kindes die Menschen zu einem gewaltigen, dringend notwendigen Umdenken führen kann, möchte ich nichts unver­sucht lassen.

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 Alice Miller (1988) Das verbannte Wissen