Teil 2
Das Erwachen
1 Mein Weg zu mir
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Wie kommt man dahin, wo man schon immer war, ohne es zu wissen? Wie geschieht es, daß aus Verwirrung Klarheit entsteht, aus der Angst vor dem Schmerz die Freiheit, Gefühle zu erleben, aus Bänden von leeren Worten einfache Tatsachen, aus der stetigen Flucht vor sich selbst ein Bei-sich-sein, aus der Blindheit ein Sehen, aus der Taubheit ein Hören, aus der Gleichgültigkeit ein Mitfühlen, aus ignorantem Verbrechen eine wissende Verantwortung, aus Mordgelüsten Ruhe, aus Verkrampfung Gelassenheit, aus Selbstdestruktion Schutz für sich selbst, aus Selbstentfremdung ein Zuhause?
Das alles geschieht nicht durch Willensanstrengung, nicht durch Predigten, nicht mit Hilfe von Theorien und am wenigsten mit Hilfe von Medikamenten. Die Willensanstrengung kann zu einer noch größeren Verkrampfung führen, das Moralisieren zur besseren Verleugnung, und Medikamente und Drogen können dazu beitragen, daß die Ursachen des Leidens für immer unkenntlich bleiben, die Schlüssel zur Wahrheit für immer unauffindbar.
Vor fünfzehn Jahren etwa gab Arthur Janov eine Antwort auf all diese Fragen, indem er sagte: »Es genügt, die Urschmerzen zu fühlen und die primären Bedürfnisse zu entdecken.«
Diese Antwort ist nicht falsch, wenn auch nicht vollständig und nicht präzise genug. Sie informiert auch nicht, wie man dazu kommen kann, die Urschmerzen zu fühlen. Doch nicht aus diesem Grund wurde sie von den meisten Fachleuten belächelt und nicht ernstgenommen. Der Grund lag vielmehr in der Unbequemlichkeit dieser Antwort. Denn vielen Menschen erscheint es einfacher, Medikamente einzunehmen, zu rauchen, Alkohol zu trinken, zu predigen, andere zu erziehen, zu behandeln, Kriege vorzubereiten, als sich der eigenen schmerzhaften Wahrheit auszusetzen.
Für mich war es nicht einfacher. Dank dem Malen befand ich mich auf dem Weg zu meiner Geschichte, und ich wollte auf keinen Fall mehr zurück. Das war mir klar. Trotzdem stand ich vor einer Barriere. Ich wollte wissen, was in meiner frühen Kindheit geschehen war, aber es fehlte mir das nötige Instrumentarium.
Meine Ausrüstung als Psychoanalytikerin konnte mir nicht helfen. Mit dem freien Assoziieren blieb ich im Kreis der intellektuellen Abwehr, im Kreis meiner Gedanken, Vermutungen und Hypothesen, deren Prüfung mir verwehrt war, weil mir blockierte Gefühle den Zugang zur Realität versperrten. Ich las Bücher von Arthur Janov und spürte, daß dieser Mann einen sehr entscheidenden Weg gefunden hatte, aber ich vermißte dort etwas, das ich damals noch nicht benennen konnte.
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Janov beschreibt im »Urschrei«, wie sich einer seiner Patienten plötzlich in Schmerzen wand, als ihm vorgeschlagen wurde, sich den Vater vorzustellen und ihn direkt anzusprechen. Diese Entdeckung war mir zwar nach der Lektüre über Gestalt. Encounter, Reich-Therapie und Bioenergetik nicht ganz neu, aber der lebensgeschichtliche Zusammenhang der frühen Schmerzen bei Janovs Patienten schien mir viel deutlicher hervorzutreten als bei all diesen anderen Therapieformen. Das faszinierte mich, und es leuchtete mir ein, daß das Erlebnis von verdrängten Ereignissen zum Aufgeben von Symptomen führen kann.
Doch wie kommt man zu diesen Erlebnissen, fragte ich mich. Muß man nach Los Angeles fahren? Wenn Janov wirklich eine universelle Wahrheit entdeckt hat, dachte ich, dann müßte die gleiche Gesetzmäßigkeit, die sich in den Berichten seiner Patienten enthüllt, bei mir ebenfalls vorzufinden sein, dann müßte ich sie auch bei mir entdecken können. Aber wie finde ich einen Menschen, der mir dabei hilft, ohne mich mit erzieherischen Meinungen zu irritieren, die er selbst nicht durchschaut?
Ich habe mich auf die Suche nach diesem Menschen gemacht und mit sehr vielen Primärtherapeuten in verschiedenen Ländern gesprochen. Dabei stellte ich fest, daß es bereits viele gab, die andere Menschen sehr schnell in die tiefste Verzweiflung, Ratlosigkeit und Angst der frühen Kindheit versetzen können. Dieser Teil der Janovschen Technik verbreitete sich wie der Wind.
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Aber da dies nicht genügt, da dies noch keine Therapie ist, sondern nur ein Teil davon, zeigte sich in kurzer Zeit, welche Gefahren diese wild entfesselten Kräfte in sich bargen. Das Erlebnis der alten Schmerzen entlastet zwar auf körperlicher Ebene, aber wenn die einzelnen Schritte auf den übrigen Ebenen nicht gemacht werden, lassen sich die Urschmerzen nicht auflösen. Viele Patienten blieben daher in einem perpetuum mobile.
Dazu kam: Wenn die Therapeuten die auftauchenden Realitäten nicht ertragen konnten, setzten sie das ganze einst gelernte Register ihrer Erziehung ein, um ihre Patienten vor den drohenden Gefahren des Suizids oder der Psychose zu bewahren. In ihrer Hilflosigkeit fingen sie an, ihre Primärtherapie mit Transaktionsanalyse oder sogar mit psychoanalytischen Konzepten oder religiösen Inhalten zu kombinieren, und konnten so die viel zu schnell zerstörte Abwehr auf Kosten der Wahrheit wieder herstellen, aber diesmal endgültig. Die so behandelten Patienten hatten es begreiflicherweise eilig, selbst so schnell wie möglich die Gefühle anderer zu dirigieren und so die eigene Hilflosigkeit und das in ihnen entstandene, unaufgelöste Gefühlschaos abzuwehren. Die Möglichkeit, Menschen in kurzer Zeit in Schmerzen zu versetzen und dies als Therapie zu bezeichnen, kann auch ein legales Ventil für unterdrückte sadistische Regungen sein.
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Zudem gab es Menschen, die sich gar nicht als Therapeuten, sondern offen als Gurus ausgaben und Janovs Entdeckung mißbrauchten, um sich durch Manipulation anderer Liebe und viel Geld zu verschaffen. Einmal mit Gefühlen konfrontiert, wurden ihre Anhänger süchtig darauf und blieben lange von dem einzigen Guru abhängig, der ihnen dies ermöglichen konnte. In seinem Interesse lag es, diese Abhängigkeit nicht aufzulösen, um die Quelle seiner Macht nicht preiszugeben.
All diese Beobachtungen weckten in mir Mißtrauen der Primärtherapie gegenüber. Es drohte mir zwar nicht mehr die Gefahr, mich von Erziehungskünsten beeindrucken zu lassen oder gar Sekten anzuschließen. Aber solange ich keinen Primärtherapeuten fand, der ein klares, mir einleuchtendes und mit meinen Erkenntnissen übereinstimmendes Therapiekonzept hatte, schien es mir wahrscheinlich, daß ich in einer Sackgasse steckenbleiben würde, falls ich den Ausweg aus der Gefühlsverwirrung allein nicht fände.
Eine wirkliche Therapie bedeutet für mich zunehmende Unabhängigkeit, und diese Chance sah ich in den Berichten von Janovs Patienten. Daher war es mir zuerst ein Rätsel, weshalb viele von ihnen sich Sekten anschlossen. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Mensch, der gelernt hat, sich zu spüren und seine Geschichte zu verstehen, zum Instrument fremder Interessen werden konnte.
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Doch die Tatsachen konnte ich nicht leugnen. Sprachen sie also gegen diese Therapie? Oder war Janovs Therapie unvollständig? Was war dann das fehlende Stück? Könnte es sein, daß zwar die Technik der Auslösung von Gefühlen erlernbar und vermittelbar ist, daß dies aber bei weitem nicht genügt? Könnte es sein, daß der Erfolg der Therapie immer noch davon abhängt, ob der Patient die in seinen Gefühlen auftauchende Wahrheit über frühere Mißhandlungen ertragen kann oder nicht? Denn etwas im Moment zu spüren, etwas kurze Zeit zu ahnen oder gar intellektuell zu wissen, heißt noch lange nicht, die Wahrheit auf Dauer zu ertragen und sie zu integrieren.
Wenn ich sehe, wie viele Therapeuten die Wahrheit über Kindesmißhandlungen noch leugnen, dann könnte ich mir vorstellen, daß hier ein wichtiger Teil der Antwort auf meine Frage zu suchen ist. Vielleicht muß das zum Fühlen ermutigte Kind in die Sekte flüchten, wenn es den einstigen Terror entdeckt und diese Wahrheit alleine nicht aushält. Damit der Patient der Realität, die in seinen Schmerzen auftaucht, nicht mehr ausweicht, damit er die blockierenden Schuldgefühle auflösen kann, braucht er eine Umgebung, die ohne jegliche Einschränkungen auf der Seite des Kindes ist. Diese Umgebung fand ich nirgends, auch nicht bei Primärtherapeuten, denen ich damals begegnet war.
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Ich fand verschiedene Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, die, sobald ich von der Unschuld des Kindes und der Schuld der Eltern sprach, irgendwann die Eltern verteidigten. Zuerst konnte ich es kaum begreifen, daß ich mit meinen Erkenntnissen alleine stehen sollte, daß sie aber trotzdem wahr sein konnten. Ich dachte: Wenn alle sich darüber einig sind, daß man nur frei wird von Symptomen, wenn man den Eltern verziehen hat, wie kann ich sicher sein, daß ich mich nicht täusche? Alle anderen zusammengenommen müßten doch weit mehr Erfahrungen haben als ich allein. Erst meine neu erwachten Erinnerungen an den Erziehungsterror meiner Mutter gaben mir den Schlüssel. Ich habe begriffen, daß die Übereinstimmung unter den Therapeuten nicht ihren Erfahrungen, sondern ihrer Erziehung entstammt und daß die von ihnen so selbstverständlich und übereinstimmend geforderte Vergebung eindeutig abzulehnen ist, weil sie den Erfolg jeder Therapie zwangsläufig verhindert.
In den vielen Gruppengesprächen, die ich zu diesem Thema führte, kamen fast alle Therapeuten nicht von der Vorstellung los, daß man den Eltern vergeben müsse, um frei von Symptomen zu werden. Wenn ihnen meine Gegenargumente einleuchteten, sagten sie höchstens, sie würden die Verzeihung nicht direkt fordern, aber dem Patienten zeigen, daß er »sich besser fühlen wird«, wenn er verzeihen kann.
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Sie merkten nicht, daß sie auf diese Art eine pädagogische Manipulation ausübten, und dies für einen Zweck, der nur im Dienste der traditionellen Moral steht, aber nicht im Interesse des Patienten, der einst ein verletztes Kind war und an den Ursprung dieser Verletzungen herangehen muß. Er wird das Bewußtsein für das Geschehene nicht erlangen, solange er nicht erkennt, daß die von den Eltern ausgeübte Moral lebensverneinend und lebenszerstörend war. Wenn sich die Therapeuten mit dieser Moral verbünden, treten sie das Erbe der Erzieher an, die sich immer auf die Seite der Erwachsenen und gegen das Kind stellen. Sie verstärken die krankmachende Wirkung der Erziehung und verschleiern dies auch noch, indem sie ihre Tätigkeit »Therapie« nennen.
Selbstverständlich wollten alle Eltern der heutigen Patienten, daß ihnen jede Grausamkeit verziehen wird. Das Kind spürte das sehr genau, und es war seine Hauptsorge, diesen Wunsch zu erfüllen, um die Eltern zufriedenzustellen. Die Verdrängung der Gefühle machte die Versöhnung möglich. Der Preis blieb unbekannt, weil der Zusammenhang zwischen der Verdrängung und den Symptomen so lange unentdeckt blieb.
Da auch die Eltern einst vergeben mußten, halten sie es für selbstverständlich, daß ihnen ihre Kinder ebenfalls alles vergeben. Sie betrachten dies als ihr Recht, und die Kinder fühlen sich schuldig, böse und verdammt, wenn sie abends mit einem Groll auf die Eltern ins Bett gehen.
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Da in den früheren Generationen fast jeder Mensch diese grundlegende Erfahrung gemacht hat, kann man verstehen, daß auch Therapeuten mit größtem Nachdruck, und dies auf der ganzen Welt, die Verzeihung von ihren Patienten fordern. Ich habe die Nachteile dieser Forderung schon in Du sollst nicht merken geschildert, doch inzwischen sind mir die Gefahren dieser Einstellung noch besser bekannt. Solange die Psychoanalyse das Feld der Therapien beherrschte und die Patienten an ihre Gefühle gar nicht herankommen ließ, hatten auch die erzieherischen Forderungen keine gefährliche Wirkung, weil sie im intellektuellen und daher unverbindlichen Rahmen blieben. Doch mit der Entwicklung moderner Therapieformen wurden die bisher blockierten Gefühle der Patienten geweckt und Energien freigesetzt. Die Patienten konnten aber in diesen Gefühlen nicht wirklich begleitet werden und sie nicht auflösen, solange die erzieherische Forderung, nach allen vorübergehend erlaubten Wutausbrüchen den Eltern unbedingt zu verzeihen, der moralische Boden dieser Therapien war.
Ich hörte von einem Menschen, der nach Abschluß einer solchen Therapie seinem sadistischen Vater endlich »alles verziehen« hat und zwei Jahre später aus heiterem Himmel einen unschuldigen Mann umbrachte.
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Diese Information hat meine Vermutung bestätigt: Wenn man in der Therapie die Fähigkeit zu fühlen erlangt hat, wird man nicht immer weniger, sondern immer mehr von dem spüren können, was in der Kindheit geschehen ist und nie bewußt erlebt werden durfte. Durch die zunehmende Vertrautheit mit den eigenen Gefühlen und der eigenen Geschichte kann nach Jahren eine neue Erinnerung auftauchen, die zur Zeit der intensiven Therapie noch nicht zugänglich war. Wenn man die dann erwachende Wut nicht zulassen darf, weil man ja den Eltern in der Therapie bereits verziehen hat, ist man in Gefahr, diese Gefühle auf andere zu verschieben. Da ich unter Therapie eine sensorische, emotionale und gedankliche Entdeckung der einst verdrängten Wahrheit verstehe, sehe ich in der moralischen Forderung nach Versöhnung mit den Eltern eine unumgängliche Blockierung und Lähmung des therapeutischen Prozesses.
Eine ganze Liste erzieherischer Sprüche, die sich als therapeutische Interventionen verstehen, habe ich mir aus Leserbriefen und mündlichen Berichten zusammengestellt. Sie stammen von Lesern, die zum Teil 15 bis 20 Jahre in analytischen Behandlungen waren, sich jetzt in einer großen Not befinden und miqh um Adressen von »nichterzieherischen Psychoanalytikern« bitten. Tragischerweise tun sie es ungeachtet meiner oft geäußerten Meinung, daß die Psychoanalyse als solche in der pädagogischen Denkweise steckengeblieben ist.
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Sehr häufig finden sich in den Berichten folgende Äußerungen der Analytiker:
Das war sicher schwer für Sie, aber es liegt ja so weit zurück. Ist es nicht Zeit, es zu vergessen?
Der Haß tut Ihnen nicht gut, er vergiftet Ihr Leben und verlängert Ihre Abhängigkeit von Ihren Eltern. Erst wenn Sie sich mit Ihren Eltern versöhnen, werden Sie von ihnen frei.
Versuchen Sie auch die positiven Seiten zu sehen: Haben nicht Ihre Eltern, die Sie jetzt als böse bezeichnen, Ihnen das Studium bezahlt? Sind Sie nicht ungerecht?
Ich will Sie nicht zur Vergebung zwingen, aber Sie werden keinen Frieden finden, wenn Sie so unversöhnlich sind, wenn Sie nicht vergeben haben.
Man wird nicht gesund, wenn man andere beschuldigt, man muß die Verantwortung des Kindes auch sehen.
Das Kind ist nicht ein Opfer, sondern Partner in einer Interaktion.
Ihr Vater war damals zu streng mit Ihnen, weil er so überfordert war oder weil er schon krank war; aber er meinte es doch gut mit Ihnen und liebte Sie.
Ohne Strafen, Versagen, Grenzensetzen kann ein Kind die notwendigen Normen nicht lernen, es wäre haltlos, sogar verwahrlost.
Eltern sind auch Menschen, sie können nicht fehlerfrei sein.
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Diese Liste enthält nur wenige Beispiele, sie ließe sich unendlich ausdehnen. All diesen Ausdrücken ist gemeinsam, daß sie irreführend und unwahr sind, aber allgemein als wahr gelten, weil man sie seit jeher kennt. Das Kind mußte glauben, daß die an ihm begangenen Grausamkeiten zu seinem Besten geschahen, und der Erwachsene wird später oft unfähig sein, die Unwahrheit als solche zu erkennen, besonders, wenn er von Menschen irregeleitet wird, die ihm nicht unsympathisch sind, die Erwartungen in ihm wecken und die die gleiche erzieherische Sprache sprechen, an die er von klein auf gewöhnt ist. Es ist nämlich erwiesenermaßen nicht wahr, daß weit zurückliegende Traumen einen Menschen nicht quälen. Das Vergessen hilft dem Kind zu überleben, aber nicht dem erwachsenen Patienten, seine Leiden aufzulösen. Das Kind ist ein wehrloses Opfer und kein gleichberechtigter Partner von Interaktionen. Der verdrängte, unbewußte Haß wirkt zerstörerisch, aber der erlebte Haß ist kein Gift, sondern einer der Wege aus der Falle von Verstellung, Heuchelei oder offener Destruktivität. Und man wird - tatsächlich - gesund, wenn man aufhört, mit Schuldgefühlen die Täter zu schonen, wenn man endlich zu sehen und spüren wagt, was sie getan haben.
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Wie weit die Forderung nach der Selbstbeschuldigung des Kindes gehen kann, zeigt das folgende Beispiel: Ein anerkanntes und geschätztes Mitglied einer Sekte, ein vierzigjähriger Mann, schlug seinen zweijährigen Sohn eine Stunde lang, weil dieser nicht »Entschuldigung« sagen wollte. Später gefragt, ob er nicht merkte, daß das Kind, das stark blutete, bereits eine Weile tot war, sagte er, er hätte erst aufhören dürfen, wenn sich das Kind entschuldigt hätte, denn ein Kind muß lernen, »Entschuldigung« zu sagen, wenn es vor Gott erscheint. Was dieser Vater als Kind bei seinen Eltern gelernt hatte, war unvergleichlich wirksamer als der Anblick seines sterbenden Kindes (vgl. A. Miller 1988a, Kap. 6).
Je mehr mir klar wurde, daß viele der heutigen Therapeuten das Erziehungs System ihrer Eltern auf Kosten der Patienten schützen, um so größer wurde mein Mißtrauen gegenüber Therapien und um so kleiner meine Hoffnung, irgendwann die volle Bestätigung dessen, was ich als wahr erkannt hatte, zu finden.
In dieser Zeit fiel mir das Buch Steinzeit von Mariella Mehr in die Hände, und es ließ mich aufhorchen (M. Mehr 1980). Diese Frau war in der Lage, sehr frühe Erfahrungen aufzuspüren, sie zu erleben, die Wahrheit zu ertragen, und sie schrieb ein Buch ohne erzieherische Floskeln, ohne Lügen, ohne Retuschen, ohne herkömmliche Moral, mit dem Wissen um die unfaßbare Wahrheit ihrer Kindheit.
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Ich hatte gerade mein Manuskript von Du sollst nicht merken abgeschlossen und widmete der Therapie von Mariella Mehr die letzten Seiten. Erst später erkundigte ich mich bei ihr nach dem Namen ihres Therapeuten und nahm Kontakt mit ihm auf. Er hat mir seine Methode erklärt, und ich habe mich entschlossen, sein Instrumentarium an mir selbst zu erproben, weil das Konzept Konrad Stettbachers all dem Rechnung trug, was ich in den letzten Jahren als wahr erkannt habe.
Vor bald hundert Jahren entdeckte Sigmund Freud in den Symptomen seiner Patientinnen und Patienten Folgen verdrängter Kindheitstraumen und verleugnete diese Entdeckung. Sandor Ferenczi stieß fünfzig Jahre später auf das gleiche Phänomen, starb aber, bevor er eine auf dieser Erkenntnis basierende Therapiemethode aufbauen konnte. Ähnlich erging es Robert Fließ weitere dreißig Jahre später und aus dem gleichen Grund. Beide blieben nämlich im Gefängnis psychoanalytischer Konzepte. Es gelang ihnen zwar, ein Fenster dieses Gefängnisses aufzureißen und hinauszuschauen, es gelang ihnen, die Situation des mißhandelten Kindes in ihren Patienten zu sehen, aber es gelang ihnen nicht, ihr eigenes Gefängnis der intellektuellen Abwehr zu verlassen und ein brauchbares Therapiekonzept zu entwickeln.
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Etwa achtzig Jahre nach Freuds Entdeckung beobachtete Arthur Janov bei seinen Patienten, daß Erlebnisse von blockierten Schmerzen zur Aufhebung der Verdrängung und zum Bewußtwerden von frühen Traumen führten, was eine erstaunliche Besserung der Symptomatik bewirkte. Dieses bloße Erlebnis der Primärgefühle nannte Janov bereits Primärtherapie, ohne ein Behandlungskonzept zu beschreiben und ohne je zu erklären, wie der Leser und Hilfesuchende zum Erlebnis seiner blockierten Schmerzen gelangen kann. Man bekam zuweilen den Eindruck, die Hilfesuchenden hätten sich einer Art Vergewaltigung durch den Therapeuten aussetzen müssen. Die Praxis zeigte auch, daß die unter solchen Umständen herbeigeführten Schmerzen zwar Entlastungen bewirken konnten, aber noch nicht genügten, um die destruktiven und selbstdestruktiven Denk- und Verhaltensmuster aufzulösen.
Die Lösung dieser Aufgabe gelang dem Schweizer Psychotherapeuten Konrad Stettbacher. Es muß daran gelegen haben, daß er sich nicht, wie Freud, Janov und so viele andere, damit begnügte, Patienten zu behandeln, zu beobachten und zu beschreiben, sondern während vieler Jahre die von ihm entwickelte Methode des Zugangs zu eigenen Traumen am eigenen Leben erfahren wollte und konsequent anwandte.
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Erst dieser persönliche Zugang öffnete ihm die Augen für das Ausmaß an Zerstörung, die einem Kind aus Ahnungslosigkeit zugefügt wird. Denn erst wenn man anfängt, dies mit dem Sensorium eines Kindes, mit dem Wissen des Opfers zu ahnen, kann man sich von der unbewußten Identifizierung mit den zerstörerischen Aktionen der Eltern befreien und die Kette der Wiederholungen abbrechen. Weil man diese Aktionen erst dann wirklich eindeutig zu verurteilen wagt. Die bloße Beobachtung der Patienten, sei sie noch so ehrlich und gutmeinend, schützt uns nämlich nicht davor, erzieherische Muster ihnen gegenüber doch noch anzuwenden, ohne es zu merken. Falls wir nicht selber bewußt gespürt haben, was diese in uns einst bewirkt hatten, sind wir ihnen weiterhin, wie Freud und viele seiner berühmten Nachfolger, die über die intellektuelle Betrachtung der Kindheit nicht hinausgingen, ratlos ausgeliefert. Diese Erfahrung habe ich unzählige Male mit mir selbst und anderen gemacht.
Außer den internen Papieren in der Therapie von Konrad Stettbacher kenne ich keine systematische Beschreibung der Primärtherapie. Anläßlich meines Besuches im Pariser Institut für Primärtherapie im Jahre 1985 versuchte ich, Janov darauf anzusprechen. Er begründete den Mangel an Konzept in seinen Büchern mit der Sorge, diese Form der Behandlung könnte mißbraucht werden. Daher hielt er nur die von ihm lizenzierten Schüler für befugt, sie durchzuführen. Doch meines Erachtens kann eine Methode kaum durch autoritäre Maßnahmen geschützt werden.
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Aber deren präzise, verbindliche Beschreibung, die den Lesern Orientierung gibt, kann potentielle Patienten und Therapeuten vor dem Mißbrauch schützen. Sie kann ihnen helfen, der Ignoranz eines erzieherischen Therapeuten, der nicht weiß, was er tut, zu entgehen. Der Mangel an einem überprüfbaren Konzept der Primärtherapie erwies sich als ein großer Nachteil für die Patienten, weil er ein chaotisches, gefährliches Ausprobieren nicht verhinderte, sondern eher förderte. Der Zugang zu den primären Schmerzen und die Möglichkeit, sie durch das Erkennen eigener Bedürfnisse aufzulösen, müssen auch im Dienste der Autonomie der Hilfesuchenden genau beschrieben werden. Vor allem aber: Man findet diesen Zugang kaum spontan, ohne Anleitung, denn bei jedem Menschen besteht ein großer Widerstand gegen belastende Primärerlebnisse. Der Patient und der künftige Therapeut können dank der Anleitung lernen, diesen Widerstand schrittweise zu überwinden, anstatt ihn gewaltsam zu brechen.
In meiner psychoanalytischen Ausbildung wurde viel über das Phänomen der Übertragung gesprochen, und meine eigene Praxis bestätigte mir die Bedeutung dieses Phänomens. Ich spürte immer wieder, daß in der Notwendigkeit und in der Fähigkeit des Menschen, frühverdrängte Gefühle auf spätere Bezugspersonen zu übertragen, ein hohes therapeutisches Potential liegt, das von der Psychoanalyse kaum je in seinem vollen Ausmaß wahrgenommen wurde.
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Allerdings wurden die Übertragungsphänomene im Dienste der Machtausübung des Analytikers und der Entmündigung der Patienten ausgiebig mißbraucht.
Schon Sigmund Freud und anschließend tausende seiner Nachfolger erklärten ihren Patienten, warum diese dies oder jenes taten, sagten, empfanden, warum sie die Analytiker haßten, begehrten, verabscheuten, beneideten, und waren überzeugt, dies wirklich zu wissen (vgl. A. Miller 1981, S. 51-58). Obwohl ihre Erklärungen aus den gelernten Theorien, Konstrukten und der Erziehung der Analytiker abgeleitet waren und oft nicht das geringste mit dem faktischen Leben der Patienten zu tun hatten, glaubten ihnen die Analysanden aufs Wort, wie Gläubige dem Priester (vgl. A. Miller 1988 a, Kap. 7). Sie wußten nicht, daß sie das Recht und die Möglichkeit gehabt hätten, zu ihren Gefühlen begleitet zu werden, so daß sie die richtigen Erklärungen für ihre Gefühle selbst hätten finden können.
Wenn es nämlich nicht mehr darum geht, die angeblich angeborenen destruktiven Tendenzen anhand der Übertragung zu demonstrieren, wenn die Zielsetzung vielmehr darin besteht, den Patienten fühlen zu lassen, welche konkreten Vorgänge ihn in Rage gebracht haben, so daß er dies mit allen dazu gehörenden Facetten verbalisieren kann, dann öffnen sich ganz neue, bisher ungeahnte Möglichkeiten, die sogenannte Übertragung für therapeutische Zwecke zu nutzen.
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Denn selten kann der Patient das Elend seiner Kindheit in direkten Erinnerungen wahrnehmen und spüren. Die Erinnerungen sind entweder vollständig verbannt, der Amnesie verfallen, oder von den Gefühlen getrennt, emotional unzugänglich und daher wenig hilfreich. Doch die reale Geschichte verrät sich darin, wie sich der Patient zu aktuellen Bezugspersonen verhält, auch zu denen von zweitrangiger Bedeutung.
Stettbacher zeigt in seiner Therapie, wie diese kleinen und großen alltäglichen Übertragungen für therapeutische Zwecke systematisch genutzt werden können. Da die Geschichte der unaufgelösten frühen Traumen dazu tendiert, erzählt und endlich gehört zu werden, erscheint sie immer wieder in neuen Auflagen. Sie erscheint anläßlich einzelner Anmahnungen, zwar in verschlüsselter Form, aber mit einer erstaunlichen Präzision. Die Verschlüsselung läßt sich auflösen, wenn die jeweiligen Neuauflagen mit den dazugehörenden Gefühlen erlebt werden konnten. Bei diesem Prozeß muß der Therapeut noch nicht einmal das Hauptobjekt der Übertragung sein, denn nicht er allein hat die Arbeit zu kontrollieren, wie dies in einer Analyse der Fall ist.
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Die zunehmende Autonomie des Patienten ermöglicht es ihm, dank dem erhaltenen Instrumentarium, seine Übertragungen selbst zu kontrollieren und aufzulösen. Er ist jederzeit imstande, die auftauchenden Gefühle mit der jeweiligen aktuellen Bezugsperson aufzunehmen, sich mit ihr innerlich zu konfrontieren, sie in Frage zu stellen und ihr die Bedürfnisse mitzuteilen.
Es kann, muß aber nicht notwendig vorkommen, daß der Therapeut durch sein reales Verhalten Gefühle im Patienten ausgelöst hat, die dieser aufnehmen muß. Auch der Therapeut kann, wie jeder andere Mensch auch, Früheres anmahnen. Aber der Therapeut bleibt nicht der einzige Mensch, um den die Gefühle des Patienten ständig kreisen wie in der Psychoanalyse. Er ist der Begleiter, der ihm hilft, sich mit seinen erwachten Gefühlen zu orientieren, seine Ängste durchzustehen und seine Bedürfnisse zu artikulieren. Zeitweise wird er das einst mißhandelte Kind davor schützen müssen, sich selbst oder andere infolge der alten, aber zum ersten Mal bewußt erlebten Verzweiflung umzubringen.
So ist zwar die Rolle der Übertragung in der Primärtherapie Stettbachers weniger ausgeprägt als in der Psychoanalyse — was die Person des Therapeuten betrifft. Doch die therapeutische Ergiebigkeit dieses Phänomens ist unvergleichlich größer, umfangreicher und präziser, als dies in der ganzen Entwicklung der Psychoanalyse der Fall war. Zudem wird dieses Phänomen ganz in den Dienst des Patienten gestellt, der im Sinne einer Selbsthilfe damit arbeiten kann. Er kann seine übertragenen Gefühle zur Vertiefung der Selbsterkenntnis nutzen und braucht sich deren nicht zu schämen.
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Stettbachers Therapie, deren Konzept leider noch nicht in Buchform vorliegt, was aber bald geschehen soll, entgeht der Gefahr des Mißbrauchs durch ihre Transparenz. Sie ist auch nach außen zu wenig attraktiv, um prestigesuchende Therapeuten zur Ausbildung zu verführen. Sie lockt nicht mit exklusiver Gruppenzugehörigkeit, die soziale Macht verspricht. Sie bietet nur immer wieder die Wahrheit an, das heißt die Chance der Begegnung mit der eigenen Vergangenheit, die man um jeden Preis zu fliehen versuchte. Ihr Instrumentarium ist theoretisch überprüfbar, es enthält keine Geheimnisse und kann im Sinne der Selbsthilfe von jedem erlernt und praktisch erprobt werden, der gewillt ist, seine Kindheit kennenzulernen. Er kann es, seiner Situation und seinen Möglichkeiten entsprechend, in kreativer Weise anwenden. Es gibt keine Zwänge und keine Rituale, die dem Therapeuten Macht garantieren und befolgt werden müßten. Es gibt nur die klaren Linien der Zielsetzung und der Mittel. Die Zielsetzung ist das Erkennen der eigenen, in der Kindheit erlittenen Verletzungen (Mißhandlungen und Verwahrlosungen). Dies wird durch das Erlebnis der Primärschmerzen und durch die Befreiung von latenten destruktiven und selbstdestruktiven Reaktionen erreicht.
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Der Zugang zu den Primärerlebnissen führt von den jeweiligen »Anmahnungen« in der Gegenwart zu konkreten inneren Konfrontationen. Die Auflösung vollzieht sich mit Hilfe der vier Schritte, die ich im Kapitel 11,3 anhand eines Beispiels zu illustrieren versuche. Natürlich gehört auch zu den Bedingungen der Therapie, daß ein Mensch zugänglich und erreichbar ist, der die Rolle des bisher vermißten wissenden Zeugen übernehmen kann. Das ist der Grundriß: keine Mystifikationen, keine Archetypen, keine Geister, keine Zauberei, keine Gurus, nur der schmerzhafte Weg zu den Fakten, zur Aufgabe der Blindheit, der Illusionen, der unbrauchbaren Prothesen, der Selbstlüge und der Verwirrung. Der Lohn für die Mühen ist die Klarheit: So war es, ich muß mir nichts mehr vormachen, muß mich nicht mehr verwirren lassen, muß mein Wissen nicht mehr unterdrücken; ich darf sehen, leben, atmen, berichten, und man kann mich nicht mehr daran hindern, die Wahrheit zu kennen und sie auszusprechen.
Sobald Konrad Stettbacher die nötige Zeit findet, das von ihm entwickelte Konzept der Primärtherapie zu beschreiben, wird sie zweifellos den Menschen, die ihre Realität und nicht Illusionen suchen, das geeignete Instrumentarium bieten.*
* 1990: Dies ist bereits geschehen (vgl. Standort 1990, S. III-VIII).
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Dieses Konzept hat mir jedenfalls geholfen, aus den vagen Annahmen und Vermutungen, die ich dem spontanen Malen verdankte, zu den eindeutigen Fakten zu gelangen und diese immer wieder mit Hilfe meiner Gefühle und der inneren Konfrontationen zu überprüfen. Einiges hat sich bestätigt, anderes erwies sich als eine im Dienste des Überlebens notwendige Verschönerungsarbeit. Doch vieles erschien in einem neuen, unerwarteten Licht. Denn auch meine Malerei bezog sich ja nur auf symbolische Inhalte, sie war ein vages Ahnen des im Unbewußten Verborgenen und gab mir keine Sicherheit über real Vorgefallenes, solange meine anerzogenen Schuldgefühle immer wieder neue Zweifel produzierten, um meine Eltern zu verklären. Erst durch die ständige Infragestellung und Prüfung meiner Hypothesen erhielten die Ahnungen einen festen Boden und klare Konturen.
Dieser Prozeß der Vertiefung der Erkenntnis ist wohl niemals endgültig abgeschlossen, muß es auch nicht sein. Doch heute kann ich es mir in viel höherem Maße als je zuvor leisten, zu wissen, was mir in meiner Kindheit widerfahren ist. Diesem Wissen verdanke ich sehr viel: Ich bin frei geworden von körperlichen Symptomen, unter denen ich zum Teil seit meiner Kindheit litt, und ich habe die Ängste verloren, die mich ebenfalls mein Leben lang begleiteten.
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Nachdem ich mit der von Konrad Stettbacher sorgfältig überdachten Methode vier Jahre lang an mir selbst gearbeitet habe, sehe ich immer deutlicher, daß es sich hier um die Entdeckung einer Gesetzmäßigkeit im Menschen handelt, deren Funktionieren für jeden nachprüfbar ist. Im Unterschied zur Psychoanalyse, deren Theorien noch ganz in der pädagogischen Sicht der unschuldigen Eltern stehen, und im Unterschied zu allen mir bisher bekannten Therapieformen, wo die Pädagogik immer noch unbemerkt herrscht, ist in Stettbachers Konzept keine Spur von Erziehung mehr vorhanden. Hier geht es darum, die Realität des einzelnen Menschen von der Verschüttung durch alte Verletzungen freizulegen.
Dazu gehört, daß diese Verletzungen erkannt und mit Hilfe der gegenwärtigen Gefühle gefunden werden. Dazu gehört, daß niemand mehr geschont werden darf, wenn es darum geht, die Wahrheit zu entdecken, weil es gerade die Lügen waren, die das Kind am Leben und am Sehen gehindert haben. Dazu gehört auch, daß das einst verletzte Kind in der Therapie lernt, sich seiner Möglichkeiten zu bedienen, die ihm die Natur reichlich geschenkt hat und die ihm von den Erwachsenen geraubt wurden, unter anderem: Gefühle zu erleben und zu artikulieren, Übergriffe und Beschuldigungen in Frage zu stellen und zurückzuweisen und schließlich die eigenen Bedürfnisse zu spüren und nach Möglichkeiten ihrer Erfüllung zu suchen.
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Im Grunde eröffnet sich einem Menschen eine ganze Welt von Möglichkeiten, sobald er der Wahrheit nicht mehr ausweichen muß. Aber die Angst vor den Schmerzen und die damit zusammenhängenden Blockierungen verstellen ihm lange den Zugang zu dieser Welt. Jedes echte Bedürfnis wird mit Angst belegt, führt zur Verkrampfung und Selbstbestrafung statt zur Erfüllung, wenn alle gespeicherten Erinnerungen nur von Bestrafungen und nicht von Erfüllungen berichten.
Dies war auch bei mir der Fall. Meine Mutter empfand meine natürlichsten Bedürfnisse als lästige Ansprüche. Wie hätte ich, mit dieser Ausrüstung in die Welt geschickt, spüren können, was ich wirklich brauchte? Wie hätte ich lernen können, mir diese Bedürfnisse zu befriedigen? Ich lernte, daß sie gefährlich waren, weil der Wunsch nach Befriedigung zur Katastrophe führen mußte. Die Katastrophe, die große Gefahr, war die Wut meiner Mutter und die Enthüllung ihrer Lieblosigkeit. Also versuchte ich meine Bedürfnisse nach Zuwendung, Wärme und Verständnis mit aller Kraft zu unterdrücken, um nicht sehen zu müssen, wie meine Mutter in Wirklichkeit zu mir war, um mir die Illusion ihrer Liebe zu erhalten. Ich hoffte: Wenn ich nichts brauchte und anderen mein Leben opferte, müßte ich die Liebe schließlich bekommen. Aber Liebe kann man nicht verdienen, weder mit Selbstverleugnung noch mit Leistungen.
Man bekommt sie in die Wiege gelegt oder nicht. Ich mußte endlich erkennen, daß ich dieses Geschenk als Kind nicht bekommen hatte.
Das klingt sehr einfach, aber ich wagte es beinahe sechzig Jahre lang nicht, diese Realität zu spüren, obwohl ich sie intellektuell kannte. Erst als ich sie mit all den dazugehörenden Erinnerungen fühlen konnte, öffneten sich mir die verschütteten Möglichkeiten meines Lebens, zumindest diejenigen, die nicht unwiderruflich zerstört waren.
Wenn dieser Weg auch in meinem Alter noch offen war, ist er einem jüngeren Menschen auf jeden Fall zugänglich, vorausgesetzt, daß er sich tatsächlich mit seiner Leidensgeschichte konfrontieren will und sich nicht damit zufriedengibt, Ersatzschuldige zu finden. Im letzten Fall werden die Patienten vermutlich die Primärtherapie vorzeitig abbrechen. Sie werden sich möglicherweise Sekten anschließen und weiterhin ihre Gefühle der Wut und Empörung gegen Ersatzpersonen richten. Sie werden alle möglichen Menschen, den Therapeuten eingeschlossen, beschuldigen, um die wahren Verursacher ihrer Verletzungen, die Eltern der frühen Kindheit, um jeden Preis zu schonen und tragischerweise auch an sie fixiert zu bleiben.
Dank ihrer Präzision bietet Stettbachers Therapie die Chance, die ganz spezifischen Ursachen der Verletzungen aufzusuchen und die allgemeinen, intellektuellen Meinungen und Hypothesen über die Eltern im Konkreten genau zu prüfen. Dies geschieht aber kaum ohne Schmerzen. Sind diese nicht auszuhalten, weil die auftauchenden Erinnerungen an reale Mißhandlungen so unerträglich sind, ist es verständlich, wenn einzelne Patienten diese Behandlung aufgeben und in selbstdestruktiven Fixierungen steckenbleiben. Doch wenn man die spezifische Wahrheit spüren kann und will, lösen sich die Schmerzen und Ängste auf, an die man infolge von Verletzungen fixiert war und die einen Menschen lebenslang am Leben hinderten. Mir hat diese Befreiung von alten Ängsten für vieles die Augen geöffnet: die Augen für die stummen Signale des Kindes, für die verborgenen Mechanismen der Gesellschaft, die die Seele des Kindes zerstören, und für die Chance der Rettung der Kinder und damit unserer Zukunft durch wissende Zeugen.
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