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Anstiftungen zum Unfrieden

 

Interpretation des Themas

 

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Zuerst die Hauptsache. Wie oft bei Hauptsachen ist sie gar keine Sache, sondern eine Einstellung. Erst wenn man die Einstellung ändert, enthüllt sich etwas Wichtiges. Es ist klar, daß Städte von Menschen bewohnt werden. Trotzdem läßt sich beim besten Willen nicht behaupten, daß diese Binsenwahrheit, man müsse Städte so bauen, daß sie von Menschen bewohnbar werden, sich zum Beispiel den Unternehmern offenbart hätte, die von ihren sozialen Wohnungs­baugesell­schaften recht ordentlich leben.

Für sie gibt es Wohnungssuchende und Wohnungsinhaber, registrierte Anwärter und Mieteinkünfte. Umbaute Kubikmeter werden auf Kubikmeter getürmt. Das Ganze sieht wie ein durch Züchtung zu ungeheurer Größe herangewachsenes Bahnwärterhäuschen aus. In der spätbürgerlichen Poetik, die sich der Armenviertel annahm, hätte man von einem versteinerten Albtraum gesprochen, surrealistisch daran ist, daß er sechzig, siebzig Jahre später Wirklichkeit wird, in einer Gesellschaft, die sich fortschrittlich nennt.

Aber das Wort »sozial« ist bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen. Darin steckte doch einmal die Hoffnung, daß das Gesicht des Proletariats als Gesicht eines Menschen für die »Herrschaften« kenntlich gemacht werden sollte; statt dessen rücken die Angestelltenheere, Akademiker und Arbeiter in »Blocks« ein, in denen es kein bekanntes Gesicht geben kann. 

Erst eine Änderung der Einstellung kann das Problem sichtbar machen. Soziales Denken muß sich nicht mehr in erster Linie auf die materielle Armut beziehen, es muß in erster Linie die Zahl der Bewohner ins Auge fassen. Wie kann sich die große Zahl gliedern, so daß der Einzelne die Phase des »Wohnungssuchenden« mit Karteinummer zwar durchläuft (unvermeidlicher Verwaltungsakt), sich dann aber in einem Milieu findet, das ihm erlaubt, physiognomisch kenntlich zu bleiben. 

Wie macht man das? 

Die Wohnbaugesellschaften sind in der Lösung dieses Auftrages nicht weit gediehen. Im Gegenteil, sie sind zu Hauptschuldigen geworden, weil sie die Einstellung angesichts einer Aufgabe, die unbestreitbar neu ist, nicht änderten. Es ist ihnen absolut nichts Neues eingefallen. Sie addieren und vernichten dabei die Möglichkeit einer Integration des Aneinandergeklebten, Aufeinandergestockten. Wenn man dieser mechanischen Vervielfältigung gleicher Baueinheiten in den Produktionszentren und den Hochhäusern des tertiären Sektors manchmal die eindrucksvolle Größe nicht absprechen kann, im Wohnquartier mit den fünfstöckigen Giebelblocks, zeilenweise angeordnet, kann sich städtische Humanität wohl nur schwer entfalten. 

Es ist ein Kapitalfall der Tötung des humanen Antriebes in und durch die verwaltete Welt. Diese selbst ist ein Ausdruck für die Schwierigkeit, angesichts ungewohnter Quantitäten, die sich dem Auge, den Empfindungen als pure Masse anbieten, zu neuen Einstellungen zu gelangen, in denen mehr vom menschlichen Dasein sichtbar wird. Mehr als bisher, anderes als bisher, genügend, um zu verstehen, was geschehen muß. Nämlich Investition von erfinderischer Gestaltung, die solche Massen fermentierend durchdringt.

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Jenseits des Grüngürtels von London, eine Autostunde vom Flughafen entfernt (wenn der Verkehr nicht gerade zusammenbricht) entsteht eine geplante neue Stadt: Hook. Die Architekten des London County Council haben eine Gruppe von Fachleuten zusammengestellt, um das Planungsprinzip zu erarbeiten, um Flächennutzung und Straßenführung festzulegen. Vermessungsbeamte und Bauingenieure, Ausschreibungs­spezialisten, Landschafts-Architekten gehören selbstverständlich zum Team. Ein Volkswirt, ein Statistiker und ein Soziologe sind auch dabei.

Wer vertritt eigentlich die künftigen Bewohner von Hook? Die Frage ist wohl berechtigt, wenn man an unsere restaurierten und gedunsenen Städte denkt, an denen man ablesen kann, wohin Planung führt, wenn sie ohne den stattfindet, für dessen Bedürfnisse sie unternommen wird. Der Zustand ist dann eigentlich gar nicht so sehr verschieden von der Lage in totalitär regierten Ländern, in denen Gewünschtes zuweilen für lange Zeit ganz fehlt, dafür Unbrauchbares in Massen vorhanden ist.

Kennt einer der genannten Fachleute aus seiner wissenschaftlichen Schulung die Bedürfnisse des Menschen in seinen verschiedenen Lebensabschnitten? Wie verbinden sie den Einwohner mit der Stadt? Was erwartet er, woran gewöhnt er sich stillschweigend, wenn er enttäuscht wird, weil er es nicht besser gewohnt ist? 

Entbehrungen hinterlassen Gefühlseinstellungen, die man oft nicht mehr so leicht loswerden kann. Zum Beispiel kommt einem jedes Interesse für den Körper der Stadt, für den lebendigen Umschlag von Energie, der in ihm vor sich geht, abhanden, wenn sich nicht gar Gefühle heftiger Feindseligkeit einstellen. 

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Für gewöhnlich wird alles nur dürftig in Worte gebracht, denn der Alltag pflegt uns gefangen zu halten. Aber wir haben Erlebnisse, höchst intensive, an der Schwelle des Bewußtseins: beim zufälligen Blick aus dem Bus, beim Ausschauen nach einer Bank, nach der meist vergeblich gesucht wird. Denn wer denkt schon an den Augenblick der Muße, den ein Bürger auf ihr verbringen will mit dem Blick auf einen Aspekt seiner Stadt. Kaum aufgetaucht, wird der unangenehme Eindruck abgewehrt, denn man sieht keine Chance, dieser Umwelt zu entrinnen. Unbestreitbar ist jene Neigung, die einer Stadt entgegen­gebracht wird, oder einem Quartier, einem entlegenen Winkel in ihr, ein Ergebnis psychologischer, nämlich affektiver Prozesse. Wenn sie in Ordnung ist, wird die Stadt zum Liebesobjekt ihrer Bürger. Sie ist ein Ausdruck einer kollektiven, Generationen umspannenden Gestaltungs- und Lebenskraft; sie besitzt eine Jugend, unzerstörbarer als die der Geschlechter, ein Alter, das länger dauert als das der Einzelnen, die hier aufwachsen. Die Stadt wird zur tröstlichen Umhüllung in Stunden der Verzweiflung und zur strahlenden Szenerie in festlichen Tagen. 

In diesem Aufblühen und Stagnieren, in wiederholten Anläufen, ihre Nachbarstädte zu überflügeln, verwirklicht sich im städtischen Leben immer mehr als nur die männliche Potenz; die Stadt repräsentiert in einer Vielheit ihrer Funktionen eine ältere als die väterliche Welt. In ihren großen Exempeln ist sie unverhüllt eine Muttergeliebte. Ein Wesen, dem man verfallen ist, von dem man nicht loskommen kann; man bleibt ewig ihr Kind oder ihr zärtlicher Besucher. Oder wir übertragen unsere Enttäuschungen auf dieses Gebilde, als seien sie von ihr, der Stadt, verschuldet; kehren ihr den Rücken zu, entfremden uns ihr. Dann wird sie uns ferne wie die ungeliebte Kindheit, die wir in ihr verbrachten.

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Städte prägen sich uns gestalthaft ein, aber auch gleichsam in ihrer Anatomie. Wo immer wir uns durch die Gassen von Paris bewegen, wir behalten ein Gefühl für das Ganze dieses Körpers, für seine Topographie. Wien, das alte Köln, Gent, sie sind mehr als die Summe der Straßen und Häuser. Wie sehr eine Stadt ein lebender Organismus ist, ein Antlitz hat, erfährt man im sinnlos gespaltenen Berlin; an jeder Stelle in Ost und West fühlt man die schwere Krankheit, welche die Stadt wie in einem fiebrigen Schlaf hält, in einer müden Agonie, über die keine Betriebsamkeit täuschen kann. Stadt ist — gelungen oder mißlungen, kultiviert oder trübsinnig — Gruppenausdruck und Ausdruck der Geschichte von Gruppen, ihrer Machtentfaltung und Untergänge; ein unsichtbares, aber ein sehr wirksames Band verknüpft Einstellungen, Mentalität, Beweglichkeit, Traditionalismus der in einer Stadt lebenden Geschlechterfolge. Ein Stilgefühl besonderer Art ist der »Stadtgeist«.

Neigung und Abneigung gegenüber dieser »Gestalt« einer Stadt bilden sich auf eine so komplexe Weise, daß das ABC der Ästhetik sie nicht erklären kann, und auch unsere Psychologie ist noch viel zu schwerfällig dazu. Da gibt es etwa imposante Stadtareale, die man gesehen haben muß, nach denen es einen aber später nicht mehr zurückzieht. Und dann wieder sind es volkreiche oder stille Straßen und Plätze, zu denen wir zurückkehren mit dem tiefen Glücksgefühl des Land- oder Meerfahrers, der nach Hause kommt. Es spielen sich also Neigungs- bzw. Abneigungsbegegnungen ab, die, wie die Begegnungen der Menschen untereinander, Glückliches oder Unglückliches verheißen. Wie weit das Cachet der Städte, das sie so anziehend oder abstoßend (für den Fremden) macht (man vergleiche hier das alte Dresden mit dem alten Leipzig), wie weit diese ganz eigentümliche Lebensluft bestimmend in die Biographie der Bürger hineinwirkt, wissen wir keineswegs. Wahrscheinlich wirkt sie sehr tief.

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Es wird also der Plan von Hook nicht wenig dazu beitragen, in welcher Gemütsverfassung die Einwohner dieses Ortes später einmal sein werden. Aber niemand hat daran gedacht, einen Fachmann zu Rate zu ziehen, der einen Blick über die primitivste Allerweltspsychologie hinaus für den Sachverhalt, den es hier zu bewältigen gilt, haben könnte. Städte sind bisher langsam gewachsen, in einem sehr intensiven Verständigungszusammenhang ihrer Bürger. Es ist eigentlich ein schlechtes Bild, heute noch in Anlehnung an Organisches vom Städtewachstum zu sprechen. Städte werden produziert wie Automobile.

Diese Aussage stimmt jedoch nur für den Vorgang des Bauens selbst; nicht für die Vorstufen, die Planung. Hier haben wir uns auf einer neuen Problemebene zurechtzufinden. Zwar stellt Alfred Prokesch lapidar fest, es sei »eine geschichtliche Tatsache, daß es keine erfolgreiche Stadtplanung gibt oder je gegeben hat«. Alle Städte, die eine menschenfreundliche — soll heißen, den Menschen verfeinernde — Umgebung waren oder sind, hätten sich »ohne und entgegen den Theorien der orthodoxen Stadtplanung entwickelt«. Bleibe dahingestellt, was mit »orthodoxer Stadtplanung« gemeint sein mag; sei zugegeben, daß es so war. Trotzdem werden wir für neue Millionen Menschen neue Städte planen müssen. Das Mißverständnis besteht sicher darin, daß unter Stadtplanung eine pur rationale Schematisierung der Bebauungsweise verstanden wird. Zwischen einigen Dutzend originalwüchsiger Städte läßt sich ein Karlsruhe und Mannheim ertragen. 

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Wenn aber die Rastereinteilung zum Siedlungsmuster schlechthin wird, wie in den Vereinigten Staaten, dann hat man die Voraussetzung für eine kaum mehr veränderbare Nivellierung und Konformisierung geschaffen. Gleichgültig, was zuerst da war, der egalisierte Charakter oder die beliebig oft reproduzierte Main Street; durch Rückkoppelung der Einflüsse ist eine Homogenisierung der Wohneinheiten wie der Gesellschaftspartikel »Mensch« erreicht, die einen ganzen Kontinent höchst disponibel und grandios langweilig macht. Das sei also zugegeben. Exempla einer »erfolgreichen Stadtplanung« sind diese Orte von Appleton (Wisconsin) bis Zion (Illinois) nicht. Trotzdem kann das letzte Wort über Planung noch nicht gesprochen sein. Sobald sie sich anmaßt, ein gebrauchsfertiges Muster herzustellen, stirbt der Genius loci ab, noch ehe er sich einnisten konnte. 

Bereitet sie hingegen eine Bewußtseinsebene vor, auf der sich Baugesinnung bilden und vor allem reflektieren kann, dann schafft sie den Boden, in dem Erfindung wirklich gedeiht. Beispiel: die Mischung von Pragmatismus, Puritanismus und puritanischer Spielfeindlichkeit, kurz die harte Kolonialideologie unverfeinerter Usurpatoren eines zutiefst menschenfeindlichen Kontinents ließ nie eine Reflexion ihres kindlich zuversichtlichen Rationalismus zu. Das Einfachste schien dem 18. Jahrhundert das Beste, und dabei blieb es im 19. und 20. Jahrhundert, auch wenn sich dieser Glaube als nur zum Teil wahr und im übrigen als Unfug erwies. Andererseits: die Muschel des Marktplatzes von Siena kann gar nicht ungeplant entstanden sein. Dieses höchst eigenwillige Zentrum einer Stadt, dieser köstliche differenzierte Ausdruck der Schöpferkraft, die aus einer Stadtbürgerschaft destilliert und auf sie von nun an zurückwirken wird, setzt eine sehr prägnante Vorstellung voraus; und diese Vorstellung schafft erst die Substanz der Planung: nämlich den Planungsgedanken.

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Um diesen Einfall, diese Vorausschau, geht es also bei der Planung von Städten, die von uns zu leisten ist. Nicht daß die künstlerische Qualität herbei­gezaubert werden könnte; derlei Befürchtungen sind unbegründet. Vielmehr muß verhindert werden, daß die vorhandene nicht achtlos oder böswillig zerstört wird — eben durch das Festlegen auf die schabionisierten Arbeitsrichtlinien der Baubürokratie. Das imaginäre Museum nie errichteter Bauten — geniale Eingebungen, die am mangelnden Wohlwollen der Welt verdorrten — wird jetzt zum Trost. Nicht die großen Visionäre farbiger, neuer Städte fehlen, sondern die ansteckbaren Gemüter der Stadtväter, die für die Idee einer beschwingten Vorausschau, wie ihre Stadt werden sollte, empfänglich sind. 

Darin hat Prokesch recht, das läßt sich nicht einseitig in einem Planungsbüro zustande bringen; dazu bedarf es einer Öffentlichkeit, die sich auch spirituell und nicht nur kommerziell selbst zu erleben versteht. Man frage zum Beispiel nach der Baugesinnung, die die Rheinfront Basels zustande brachte. Der intensivste Eigensinn (wahrhaft protestantischer Qualität) und der intensivste Wille zum Eigennutz werden noch einmal von stadtbürgerlichen Obligationen in Schach gehalten, denen der Einzelne sich zu beugen hatte. Dieses althergebrachte Gefühl der gemeinsamen Verantwortung — bei Regierungsentscheidungen wie in Pestzeiten und unter der Bedrohung durch die Nachbarn gewachsen — geht verloren mit der rapiden Ausweitung aller alten Städte. Der Stadtbürger großer Tradition fand seine Identität durch den Zwang, Verbindendes und Verbindliches, also den Kanon vom Kollektiv zugelassener Selbstdarstellungen, einhalten und variieren zu müssen. Dabei durfte er nicht aus der Ästhetik der Gruppe fallen. 

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Völlig verändert ist die Lage, in der sich jenes Aufsichtsratsmitglied befindet, das sich irgendwo in Hanglage eine seinen Status signalisierende Behausung errichtet. So ein erfolgreicher Manager wird für seine Mitmenschen nicht dadurch erträglicher, daß er mit dem willigen Architekten einen Baukörper eigener Fantasie auf den Rasen stellt.

Wo Gruppenzwang im Sinne stadtbürgerlicher Verpflichtung herrschte, wurde die Statusdemonstration überhöht durch und in der Demonstration einer unverwechselbaren Abfolge von Straßenfronten, durch den Beitrag zur Gestalt eines Platzes. Auf selbstverständliche Weise wurde dabei ersichtlich, daß ein Teil der eigenen Identität immer aus der Gruppe stammt. Das könnte man auch noch am Preisniveau der Komfortvillen ablesen; nur daß sie nicht wie die Häuser, die einen Platz wie z. B. den Lincoln Square in New York umstehen, noch einmal sich zu einer Einheit schließen, die einem musikalischen Thema vergleichbar ist. 

Die Vorortvilla hat das nicht, sie ist nur Demonstration des Eigensinnes und der monetären Potenz. Der Verlust, der eingetreten ist, fällt ins Gewicht: die Gruppenabhängigkeit in der alten Stadtgemeinde provozierte offenbar — wie der Reichtum der architektonischen Inventionen, der Stadtgrundrisse, Palais, Handels- und Wohnhäuser beweist — die Stabilisierung und Verfeinerung der Individualität in den sozial führenden Schichten; hinzugefügt sei: soweit sie sich, jedenfalls in ihrer Baugesinnung, zu erkennen gaben (um keine Idealisierung aufkommen zu lassen). Das Einfamilienhaus, ein Vorbote des Unheils, den man immer weiter draußen in der Landschaft antrifft, ist der Inbegriff städtischer Verantwortungslosigkeit und der Manifestation des privaten Egoismus.

Dieser Auszug der einstmaligen städtischen Elite »aufs Land« (es lassen sich viele gute Argumente für ihn finden) hat schwere Rückwirkungen auf die Stadtplanung, die noch kein Gegenkonzept entwickelt hat.

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Der Planer schwebt nun gleichsam mit seinen ästhetischen Vorstellungen in einem Raum, der ihm keine dialektische Gegenposition als Halt anbietet. Denn das Industrieunternehmen, das sich vergrößern, der Bauherr, der ein Einzelhaus, oder die Gesellschaft, die 200 Wohnungen bauen will, sind alles Partner, die ein ungebrochener, von keiner stadtbürgerlichen Obligation gezügelter Egoismus leitet. Das eigentlich utopische Element in einer »erfolgreichen Stadtplanung« ist demnach in der Herstellung einer neuen Verpflichtung der Stadt gegenüber zu sehen. Wie ist sie zu erreichen? Unter so entfesseltem quantitativem Wachstum? Unter so gewandelten sozio-ökonomischen Strukturen, ohne alte Bekanntheit aller mit allen, ohne dieses Wurzelgeflecht der affektiven Beziehungen zwischen den Quartieren, dem Patriziat, dem Stratum seit jüngerer Zeit Angesiedelter? Dabei ist die Aufgabe, welche die hergestellte Stadt zu bewältigen hat, nicht anders als die, die einst der gewachsenen zufiel: Menschen für alle denkbaren Aufgaben ihres Lebens zu beherbergen. Aber es sind eben Menschen in einer Zahl, welche die Stadtgeschichte bisher noch nicht kannte. Für sie das Milieu zu finden, das sie nicht schließlich, wie Jane Jacobs sagt, »in einer tödlichen Unzufriedenheit mit ihrer Umgebung hadern« ' läßt, darum geht es. Und weil es alle angeht, ist ein Funken Hoffnung in der Utopie von der Realisierbarkeit von Städten, die ihre Planung übertreffen.

Was wissen aber diese Vermessungsingenieure und Straßenbauer über menschliche Erwartungen und Einstellungsbereitschaften?

 

1)  Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte; Berlin 1963, S. 94

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Die Stadt ist ein bemerkenswertes Unikum zwischen Landschaft, Natur und einem Gebilde, das man auf eine menschenähnliche Weise liebt. Sie ist von Menschen gebildet, wird von Menschen bewohnt und bietet sich in dieser untrennbaren Einheit von Gebilde und Bewohnern an. Die Ausdehnung des Ich auf die Heimatstadt oder auf die gewählte, um nicht zu sagen, erwählte Stadt — »Ich bin ein Berliner« — trug alle Züge einer Clan-Zugehörigkeit, einer erwünschten oder einer, der man sich eher schämt. Wie kann der Bürger, der von den Erbauern seiner »Heimstätte« gar nicht mehr als lebendiges Individuum, sondern als ein wohnungsheischendes Abstraktum aufgefaßt wird — wie kann er, an den niemand denkt, wenn er sich müde niederläßt, wenn er einen Regentag hinter dem Fenster verbringt und dem zusieht, was draußen vor sich gehen mag, wenn er Hoffnungen hegt und Abschied nehmen muß — wie kann dieser zum Wohnraumverbraucher entwirklichte Bürger rückläufig auf diese seine Stadt einwirken, so daß ein Kreislauf entsteht? 

Nochmals: was sich hergestellt hat, ist ein Kapitalfall der Selbstzerstörung unserer städtischen Kultur. Nicht bei einer Gliederung der Baumasse, sondern bei einer funktionsfähigen Gliederung menschlicher Bezüge im Stadtraum muß die Einstellungsänderung beginnen. Was wir beobachten, ist nicht nur Flucht vor dieser Aufgabe in Traumklischees — wie das der Familie, die sich aber in Wahrheit nicht weniger ändert als die sozialen Beziehungen in der Arbeit; wir beobachten zugleich die Flucht in Raumästhetik, welche die fehlenden menschlichen Affektbeziehungen trügerisch ersetzen soll. Hierher gehört die Stadtzerstörung durch schier endlose Gefilde mit Einfamilienhäusern. Hierher gehört ferner das brutale Niedertrampeln der Individualitätsfreuden, wie einst in der von Werner Hegemann portraitierten Mietskasernenepoche. Das Wort »sozial« auf den subventionierten Wohnungsbau nach 1945 anzuwenden, kann nur der Heuchelei erlaubt sein. Er förderte die Ausgliederung des Bürgers aus den städtischen Traditionen, er macht asozial.

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Die Stadt, in der man durch Jahrhunderte lebte, war ein Biotop. Um diesen Terminus zu erklären: sie ist ein Platz, an dem sich Leben verschiedenster Gestalt ins Gleichgewicht bringt und in ihm erhält. Dies geschieht unter recht spezifischen, freilich oft nicht leicht auszukundschaftenden Bedingungen. Wenn also eine Stadt geplant wird, dann, so sollte man meinen, hätte der Biotop-Forscher einen Beitrag zu leisten, und ein solcher Forscher, der es mit menschlichem Verhalten unter gegebenen Verhältnissen zu tun hat, ist der Psychoanalytiker. Er sucht die Spuren, die das Leben in der Societät im Charakter hinterlassen hat, aber er verfolgt auch das Schicksal seelischer Spontaneität in der Umwelt des Einzelnen und einzelner Gruppen. Dabei kann er sich an einem recht verfeinerten Ordnungssystem, das ihm seine Wissenschaft in die Hand gibt, orientieren. Es geht nämlich immer wieder um die Frage, wie eine Kultur — als spezifische menschliche Umwelt — mit der Voraussetzung fertig wird, daß die menschliche Triebnatur nicht definitiv mit einer Umwelt, mit definitiv fixierten Objekten verzahnt ist.

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Die Kulturen lehren, solche befriedigenden Objekte zu finden, sie verbieten den Zugang zu anderen. Die städtische Welt mit ihrem verengten Eigenterritorium für den Einzelnen verlangt erhöhte Anpassung der Triebäußerungen. Der Überschuß an ungesättigter Aggressivität kann gerade in diesem Milieu bedrohlich anwachsen. Darin stecken Chance und mögliches Unglück der städtischen Populationen. Sie müssen wendiger, aufmerksamer, ansprechbarer in ihrem Habitus sein, um zwischen den unvermeidbaren aggressiven Triebeinschränkungen des städtischen Lebens die dort zugleich sich bietenden Entschädigungen suchen und finden zu können. Es kommt in der Stadt demnach auf eine Entschärfung, eine »Neutralisierung« primärer aggressiver Triebenergie und auf ihre Bindung an die »intelligenten« Zielbereiche besonders an. 

Die überragende Bedeutung des Denkens in Kategorien der rücksichtsfreien Konkurrenz in unserer Umwelt zeigt aber an, daß die Verwandlung der archaischen Aggressivität in sozial geschmeidige, die Rechte des anderen anerkennende Aktivität nur recht unvollkommen gelungen ist. Statt dessen ist ein anderer Ausgang der Kulturbeeinflussung unserer Triebnatur, vorzüglich ihrer aggressiven Anteile, zu beobachten. Primitive Zielsetzungen, etwa die aggressive Absicht, den Konkurrenten zu vernichten, bedienen sich elaborierter, intelligenter Methoden; derart, daß am Ende die Umwege der Sozialisierung — Zivilisation genannt — wieder aufgehoben sind. Das ist der Dschungelaspekt der Konkurrenzgesellschaft. In der Fortentwicklung der städtischen Lebenswelt zur groß- oder besser totalstädtischen wird eine andere Entwicklung zunehmend wichtiger. Der tertiäre Sektor, die Dienstleistungen treten immer mehr in den Vordergrund. Die Kaste der Angestellten erreicht den dominanten Anteil an der Gesamtgesellschaft. 

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Für den Angestellten ist die Aussicht, durch Initiative (als sozialem Umformungsprodukt undifferenzierter Aggressivität) zu etwas zu kommen, weit mehr eingeschränkt als in den Frühepochen der industriellen Gesellschaft. 

Die Reaktion ist eine doppelte: die Neid- und Konkurrenzgefühle innerhalb der Eigengruppe (in der Firma, in der Abteilung, im Büro) sind permanent gereizt, der affektive Anteil an der eigenen Arbeitsleistung, das Befriedigung schaffende Interesse sind erlahmt, fast schon unbekannt geworden. Dieser Abbau des affektiven Engagements trifft unsere Gesellschaft an entscheidender Stelle. Denn die Flaute muß sich ungünstig auf eine Steigerung des kritischen Bewußtseins auswirken; wo keine affektive Anteilnahme an den Objekten des Biotops besteht, wird sich kaum die Leidenschaft zur Gestaltung und damit kein auf Präzision dringendes Problembewußtsein ausbreiten. 

Wir erwähnen dies, weil der Zusammenhang mit der Stadtgestalt offen zu Tage liegt. Man pferche den Angestellten hinter den uniformierten Glasfassaden der Hochhäuser dann auch noch in die uniformierte Monotonie der Wohnblocks und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für eine demokratische Freiheit illusorisch macht. Denn sie ist praktisch nirgendwo mehr erfahrbar. Wo keine Fantasie an der Gestaltung der Gruppenbeziehungen wirksam wird, wo die Dynamik dieser Beziehungen nicht beflügelt wird durch Kühnheiten des Versuchs, da bleibt dem Einzelnen nur der Rückzug in archaisches Wunschträumen, das ohne starke Widerstände in dumpfes Handeln umgesetzt werden kann. Das kritische Bewußtsein wird — wie unsere Nazi Vergangenheit es demonstriert — erfolgreich überrumpelt. Stadtplanung, die diese Zusammenhänge nicht einkalkuliert, steht auf der Seite der Selbstdestruktion, der Kulturvernichtung, die der Mensch freilich immer betrieben hat. Wenn heute große Siedlungsbaugesellschaften möglichst unter

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Ausschaltung von Architekten, Städteplanern, von Sozialpsychologen und Psychoanalytikern ganz zu schweigen, mit Hilfe angestellter Techniker sich an das Erstellen von Wohnraum machen, dann haben wir hier jene fatale Berührung der Extreme, die so lange menschliches Schicksal bleibt, wie wir ihr Zustandekommen nicht durch eine Änderung unserer kritischen Einstellung durchschauen. Das führt zu schlimmen Folgen: der Wunsch, allen eine menschenwürdige Behausung zu schaffen, wird dadurch effektvoll zunichte gemacht, daß für alle eine Umwelt entsteht, die ein soziales Engagement gar nicht aufkommen läßt.

Erst die psychoanalytische Betrachtungsweise hat uns doch davon Kenntnis gebracht, welch unglückliche Wirkung unsere allgemeine biologische Ausrüstung im historischen Zusammenhang oft entfaltet. Zur allgemeinen biologischen Ausrüstung gehört es, Gleichgewichtslagen zu finden und zu erhalten, das Biotop nicht allzu grob zu stören. Die besondere historische Daseinsform des Menschen (ein Ergebnis seines speziellen biologischen Entwicklungsweges) freilich macht ihn zum radikalsten Störer von Gleichgewichten. Sein Verhalten ist nicht durch ein Repertoire artspezifischer Kommunikationsformen »festgestellt«. Wie die Verhaltensforscher lehren, ist Unspezialisiertheit seine Spezialität. Er erfindet und vernichtet Verhaltensrepertoires. Das eben ist seine Geschichte. Im Spannungsfeld dieses Widerspruchs wird Anpassung zu einem heiklen Problem. Sie gelingt am besten unter Ausschaltung der höheren Bewußtseinsfunktionen: in Gewöhnung und Gewohnheit, in Trott und Tradition. Das ist die breite Einflußzone althirnlicher Regulation. 

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Noch das Bizarrste wird durch Gewohnheit sanktioniert, geheiligt; und das macht das Argumentieren so schwer. Denn mit großer Leidenschaft hängt zuweilen eine Population und nicht nur ein Einzelner an einer Anpassung, die Lebensfristung nur unter großen Verarmungen und Verödungen gestattet. Unser historisches Wissen kennt eine Vielzahl von Gesellschaften, die sich hartnäckig an ein Elendsmilieu angepaßt haben. Unter unseren Augen vollzieht sich ein solcher Anpassungsvorgang — übrigens in Ost und West — an die vom revolutionären Proletarier einst so verachtete kleinbürgerliche Lebensform. Blickt man auf die Grundrisse der Wohnungen, so bietet sich der bessere Ausdruck Schrumpfbürgertum an, denn es sind eigentlich keine neuen Ideen des Wohnens zum Zuge gekommen. Auch die Planer scheinen von der fixen Idee besessen, die Lösung des Problemkomplexes Vergesellschaftung auf städtischer und zur Stadt hin gerichteter Basis wäre mit der Beseitigung technischer Unzulänglichkeiten und dem Errichten von Schnellverkehrswegen gelungen. Was die Herstellung eines Systems seelischer, affektiver Kommunikationen betrifft, die in den vorindustriellen Städten so dicht geknüpft waren, so haben sie hier vollkommen versagt. Ihr Dilettantismus scheint hoffnungslos. Das sollte erst recht dazu nötigen, nach neuen Hilfskräften Ausschau zu halten. Gewohnheit steht dem entgegen.

 

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Neue Städte, neue Quartiere, Trabantensiedlungen (und was sonst noch vom wilden Wachstum der Bevölkerung zeugt) lassen sich rasch fabrizieren. Aber man muß verhältnismäßig lange darin wohnen. Auch unter heutigen Rentabilitätsberechnungen noch zwei, drei und mehr Generationen.

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Grund genug, das Problem seelischer Kommunikationen in diesen neuen Wohnbereichen vor ihrer Fabrikation sorgfältig hin und her zu wenden. Aber in Hook und anderswo, um nicht zu sagen überall, fehlt der Mann im Team, der zu solchen Beobachtungen und Berücksichtigungen überhaupt erst anregen könnte. Da gibt es keinen im Erkennen menschlicher Motive, in der Kenntnis menschlicher Grundbedürfnisse, in der Deutung menschlichen Verhaltens geschulten Spezialisten in diesen Teams. Alles vollzieht sich noch vor dem Sündenfall eines methodischen Strebens nach Selbsterkenntnis. Dieser Sündenfall wurde aber nötig, seit die Umwelt in die Dynamik einer Kette von Erfindungen geraten und dadurch in einen unabgeschlossenen raschen Umbauprozeß geraten ist. 

Eine Gegensteuerung wird unerläßlich: das Individuum wird sich seine Identität nur bewahren können, wenn die Möglichkeiten zur Pflege kontinuierlicher mitmenschlicher Beziehungen verstärkt werden. Das fordert unsere Natur. In der urbanen Realität, die wir schaffen, wird genau diesem Bedürfnis nicht Rechnung getragen. Die Verarmung an dauerhaften Beziehungen bei einer sehr großen Zahl von Stadtbewohnern hat notwendigerweise eine Verflachung und Verarmung ihrer Fähigkeiten zur Anteilnahme überhaupt und damit eine Verarmung an »Lebenserfahrung« zur Folge. Diese Aussage ist nicht als Abwertung der Gegenwart zugunsten irgendeiner Vergangenheit zu lesen, sondern als eine Erkenntnis der Menschenkunde: die Verfeinerung der Selbstwahrnehmung ist ein Teil verfeinerter zwischenmenschlicher Beziehungen. Obgleich es keineswegs eine Konsequenz der wachsenden Anzahl ist, daß die Intimität der Kontakte verloren gehen müßte: durch die psychologische Ahnungslosigkeit und die sozial verblendende Profitgier aller am Bauen Beteiligten ist diese Folge eingetreten. Ein Beispiel des sozial gemilderten Aggressionsstrebens, von dem soeben die Rede war.

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Der Raster, nach dem sich heute noch die Ausdehnung der Siedlungen und ihre Neugründung vollzieht, wird ausschließlich von der Rendite bestimmt. Das Siedlungsbauen unterscheidet sich eben in keiner Weise von den übrigen Fabrikationsprinzipien. Von extrem wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen man wirklich von Gestaltung reden kann, entspricht die Formgebung genau dem »styling« anderer Gebrauchsgüter. Die Rolle der Architekten gerät dabei immer mehr ins Zwielicht. In den Großorganisationen zumindest des Wohnungsbaues verlieren sie fortwährend an Terrain. Als Erfolgsorgane des Willens ihrer Bauherren ist ihre Position auch nicht besser. Zwei Illusionen begegnen sich hier allzu oft. Der Bauherr sucht Befreiung aus verfahrenen Lebenslagen durch Hausbau, ein zumeist sehr unbewußt bleibendes Motiv. Der Architekt bietet in naiver Selbstüberschätzung seinen privaten Geschmack an, in der Vorstellung, was er selbst für »funktionell« zweckmäßig und für »formal« ansprechend hält, müsse die Bedürfnisse des Gemüts und die Erwartungen der Hausbewohner wie von selbst befriedigen. Trotzdem gerät zu vieles ungemütlich. Wir werden die Kontroverse zwischen privatem und öffentlichem Interesse, die doch die Wirklichkeit einer Stadt bestimmt, noch zu beleuchten haben. Zunächst fällt auf, daß beim Aufschwemmen der Städte die Privatinitiative mit den neurotischen Bedürfnissen — man muß präzisieren: mit den aus dem Zwang der Kommune entlassenen neurotischen Bedürfnisse der Bauherren — aufs unglücklichste sich verquickt. 

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Die Einsicht ist notwendig, daß nur sehr wenige Individuen in der Lage sind, ihre Bedürfnisse mit zureichendem, sozial nicht desintegrativ wirkendem Talent zu regulieren. Die pekuniäre Potenz geht allermeist nicht der psychischen Differenzierung parallel; die Verständigungsbrücke zwischen Bauherr und Architekt pflegt äußerst schmal zu sein. Eine Bürgerstraße wie St. Alban Vorstadt in Basel hat Gestalt gewonnen durch ein Verständigungssystem, in dem wechselseitige Kontrolle, verbindliche Wertnormen Ausmaß und Zuschnitt festlegten. Die Konkurrenz wurde durch den Gestaltungseinfall des Baumeisters ausgetragen. Baumeister und Bauherr rücken dabei sehr eng aneinander. Wo dieser Gruppenhalt unterminiert wird, verliert erstaunlicherweise das Selbstverständnis und Ausdrucksvermögen von Bauherr und Architekt an Prägnanz. 

Es ist eben keineswegs so, daß das Individuum, wie es sich nachaufklärerisch idealisiert, eine Art Naturphänomen wäre; es ist ein spätes Kulturprodukt, bedroht von pompösen Mißverständnissen. Dieses Individuum mit dem oft mehr irrationalen als rationalen Wunsch nach einem »Eigenheim« (als Identitätsstütze) ist dann gleichwohl nahezu sprachlos; es ist auch nicht mehr ahnungsweise in der Lage, seine Bedürfnisse in Worte zu kleiden. Es kann sich ohne Halt an Gruppenidealen und -beschränkungen selbst mit gutem Willen nicht »klar« werden. Dazu ist die Kluft zwischen der phantastischen Selbstbeweihräucherung, dem Glauben, daß in unserer hochindustrialisierten Gesellschaft jeder sein eigener Herr sei einerseits und der tatsächlichen Subsumption der Subjekte unter die Gesetze der Ökonomie andererseits zu breit; die emotionale Absicherung gegen die Einsicht in diese Kluft ist viel zu stark, als daß eine Ausdrucksform entstehen könnte, die — weil sie rational vermittelt ist — Subjektivität in anderer Form als dieser im Grunde asozialen zur Sprache brächte. Der Architekt unterläuft dieses Stammeln mit Routine, mit ein paar Materialspielereien — und schon ist das Problem überhaupt und für alle Zeiten mundtot gemacht.

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Menschliche Grundbedürfnisse lassen sich aber nicht so leicht umzüchten, wie es gelingt, die technischen Analysen voranzutreiben und neue Produkte herzustellen. Noch niemand weiß, was es bedeutet, ein Leben im 17. oder im 47. Stock und nicht ebenerdig gelebt zu haben. Es macht den Eindruck, als ob sehr viel mehr Hoffnungen und Erwartungen, die wir in unserem Gemüt gleichsam aus der »Prähistorie« vor dem Einbruch der großen Produktions wellen mitgebracht haben, traurig hinter der Geschichte einherhinken, als wir uns eingestehen. Wortlos, das heißt ohne Kraft des kultivierten Ausdrucks, lebt der Trabanten-Städter in einer Umwelt, deren Signale und deren Aufbau kaum noch etwas mit der Welterfahrung zu tun haben, in der sich bisher dem Menschen Wirklichkeit bekannt machte. Noch nie zuvor in der Geschichte hat eine so bedenkenlose und vorerst noch keineswegs abgeschlossene Traditionsvernichtung stattgefunden, wo immer das von Erfordernissen der technischen Entwicklung nahegelegt wurde. 

Dabei ist es gänzlich unentschieden, welche Traditionen wir um jeden Preis festhalten und welche wir, ebenfalls um jeden Preis, verlassen müssen. Natürlich kann man Kinder mit homogenisierter, pasteurisierter, getrockneter und dann wieder aufgelöster Milch aufziehen, ohne daß sie je eine Kuh sehen. Es ist nur die Frage, ob das Ausbleiben der Begegnung mit Tieren ein folgenloses, ein überspielbares Faktum ist. Man sollte die Lage, unheimlich wie sie ist, bedenken, aber man bedenkt sie nicht, man verleugnet sie vielmehr; verleugnet, daß es sich um eine historische (unbequeme) Lage handelt und nicht um eine selbstverständliche Grundlage unseres Lebens. Alle Faszination geht vom Handeln, von unruhiger Geschäftigkeit aus; Bedenken, Zaudern ist derart verdächtig, daß schon aus dieser Reaktion allein geschlossen werden könnte, wie neurotisch-prekär die innere Situation der verschiedenen Gruppen von Stadtbewohnern ist.

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Wenn sich der Psychoanalytiker in der Städteplanung zu Worte meldet, dann ist es nicht so, daß hier ein neuer Spezialist zu den alten hinzukommt. Er repräsentiert vielmehr das kritische Bewußtsein, unter dessen Mitwirkung menschliche Umwelt gestaltet werden sollte. Dieses kritische Bewußtsein muß die älteren Formen der Übereinkunft ersetzen, seit die manipulative Intelligenz einen so unabsehbaren Umbau der menschlichen Umwelt bewirkt hat. Was die Stadtplanung betrifft, so ist zudem noch zu befürchten, daß von den Soziologen auch nur der stumpfsinnig emsige Empiriker gefragt wird, der die Reibungsflächen aneinander vorbei passierender Mengen glatter zu schleifen helfen soll. Heißlaufen muß verhindert werden, Anmarschwege gilt es zu rationalisieren. Doch die Kastengesellschaft, die hier agglomeriert, wird von solcher Soziologie nicht in Frage gestellt — wie sollte sie. Die einst ideologiekritische Funktion der Statistik wird durch die Aufgabe, eine gegebene Situation manipulierbarer, technisch verfügbarer zu machen, überhaupt nicht mehr angesprochen.

Es kann nicht ohne Bedeutung sein, daß im Zustand höchst affektiver Traditionszerstörung das kritische Bewußtsein, das Verantwortungsbewußtsein aller dieser Spezialisten sich in erschreckender Weise aus den von ihnen untersuchten — nämlich naturwissenschaftlich-technisch analysierten — Bereichen zurückzieht. Das warnendste Beispiel ist, daß es

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nicht mehr als eine Handvoll Atomphysiker sind, die ihren Bereich noch im Zusammenhang mit der Gesamtsituation sehen und sich selbst für zuständig und verantwortlich für den Gebrauch halten, den die Gesellschaft von den Produkten ihrer Forschung macht. Versteck zu spielen in Sachen Planung unserer Städte ist aber ebenso fahrlässige Gefährdung künftiger Generationen wie die Verharmlosung der Kernspaltung. Die Verzettelung der Verantwortung entlastet vielleicht das Bewußtsein des Fachmannes, der die Haftung auf einen sich für ebenso unzuständig haltenden Kollegen abwälzt. Aber alle helfen sich dabei gegenseitig auf die Anklagebank der Geschichte.

Kann einer der Bauingenieure wirklich voraussehen, wie das Erlebnis sein wird, das die Bürger von Hook haben werden, wenn sie in ihre Unterkunft eingezogen sind? Er weiß, wieviel Kubikmeter Erde zu bewegen sind, er schätzt die Verkehrsdichte 5, 10 Jahre im voraus ab, aber was für Gedanken macht er sich eigentlich über jene merkwürdigen Lebewesen, die er da als Verkehrsteilnehmer registriert, wenn sie sich aus der statistisch homogenen Masse, in der sie eingefangen werden, in Schlafgänger, Liebespaare, Mütter mit Kinderwagen, frühlings- und tagesmüde Heimkehrer verwandeln — wenn diese Masse sich also wieder in Individuen auflöst. Man muß nur die Frage stellen, um zu wissen, daß noch kaum jemand sie ernstlich zu stellen begonnen hat. Der technifizierte Spezialverstand, mit dem die Städteplaner an die Fabrikation neuer Produktions- und Wohnstätten gehen, erinnert verzweifelt an die Mentalität jener Spielzeugfabrikanten, die sich da irgendwelche blechernen Gegenstände ausgedacht haben, ohne je ein Kind zu fragen, ob es auch damit länger als 5 Minuten zu spielen beabsichtige. 

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Die Naivität des Diktates ist in beiden Fällen gleichermaßen traurig und verzeihlich nur deshalb, weil eben doch das autoritäre, das diktatorische Denken, das den Schwächeren zum Schweigen verurteilt, ein viel stärkeres Traditionselement der menschlichen Gesellschaft ist, als sie sich bisher — schon im Hinblick auf die ängstliche Ratlosigkeit, was dann aus den Formen ihrer Religion werden sollte — einzugestehen wagte.

 

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Jakob von Uexküll hat einmal gesagt: »Die Umweltlehre ist eine Art nach außen verlegter Seelenkunde.« Das heißt also, daß die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt gestalten, ein Ausdruck unserer inneren Verfassung ist. Was das Bauelement Stahl betrifft, so läßt es sich recht gut als Symbol des sprunghaft gestiegenen Vermögens zur Auflösung technischer Probleme durch zweckrationales Denken interpretieren. Wer die ungeheuren Mengen grauer Bimssteinblöcke gesehen hat, aus denen menschliche Behausungen errichtet werden, kann nicht daran vorbei, daß in unserer Zeit depressive Elemente in permanenter Weise in den Alltag eingebaut sind. Aber diese Stahl- und Bimssteinwelt ist für Millionen ungleich ausschließlicher als je für eine Bevölkerung zuvor zur alleinigen, bestimmenden Umwelt geworden. Denn auch dort, wo die Ausbruchssehnsucht die Menschen zu den winterlichen und sommerlichen Urlaubsmigrationen treibt, finden sie sich in Hotels und Bungalows gleicher Konstruktion, aus gleichen Bauelementen, in gleicher Massierung wieder, ob das nun Westerland oder Rimini, die Küste Floridas oder die Skistädte Cortina, Davos und Kitzbühel sind.

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Die Gleichförmigkeit des Zuschnittes und des technischen Service bei Zufälligkeit der Formgebung, ob nun zu Hause oder an der Costa del Sol, macht erst die Einheitlichkeit der Lebenslage, gleichgültig, wo man gerade weilt, richtig deutlich. Bayern, das nicht nur wilde Männer hervorbringt, hat eine nicht menschen-unfreundliche Verfassung. Nach ihr ist folgendes »jedermann gestattet«: »Der Genuß der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald- und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wild wachsender Waldfrüchte«. Der Allgemeinheit sind die Zugänge zu Bergen, Seen und Flüssen »freizuhalten« — im Falle eines Konfliktes von Privat- und Allgemein-Interesse sogar durch »Einschränkung des Eigentumsrechts freizumachen«. 

Jeder weiß, wie es an einem bayerischen See zur Sommerzeit in Wirklichkeit aussieht: »Baden verboten« — »Anlegen verboten« — »Privatweg« — »Achtung, bissiger Hund«. Vor kurzem konnte man in einer deutschen Zeitung lesen: 

»Daß auch Bayern gerne ihr Haus dorthin bauen, wo es verboten ist, hat Bundeskanzler Erhard bewiesen. Sein Bungalow hoch über dem Tegernsee steht — mit Sondergenehmigung — dort, wo ein von Paragraphen gesicherter Wald war.« 

Vorerst einmal ist der Städteplaner ein Beamter wie andere auch. Ohne daß ihn ein gewisses allgemeines Bedürfnis mit Macht ausstattet — wie die Bekämpfung der Kriminalität als allgemeines Bedürfnis empfunden wird und demzufolge die Polizei Hoheitsbefugnisse erhält —, ist er im wahrsten Sinne des Wortes ein armer Mann. Er versichert uns, wir ahnten nicht, »welchem Druck so eine regionale Baugenehmigungsbehörde ausgesetzt« sei. Eine Spende von 10.000 Mark für eine gute Sache in einer armen und eine entsprechend höhere in einer reicheren Gemeinde »wirke Wunder«. 

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Man muß sich also Privilegien etwas kosten lassen, »Natur« zu teuren Quadratmeterpreisen kaufen. An der Natur besitzend teilzuhaben, wird zu einer Statusfrage. Das hätte nicht so geschehen können, wenn nicht ein sehr starkes Bedürfnis drängte, aus dem städtischen Raum zu fliehen. Er ist laut, verkehrsüberflutet, das Fortkommen in ihm ist zeitraubend, und er hat auch sonst viele Unannehmlichkeiten. Daneben bleibt es eine von vielen Sentiments besetzte Kontrasterfahrung (oder besser ein Kontrastwunsch), die den Städter in die Natur und den Landbewohner in die Stadt treiben. Das war offenbar ein stimulierendes Grunderlebnis durch die Jahrhunderte. Es ist aber mit zunehmender Bevölkerungsdichte in weiten Regionen kaum noch im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit zu realisieren. Ein Bewohner New Yorks fährt heute schon an die 120 Meilen, bis er in ein einigermaßen unberührtes Naturgebiet kommt.

Kultur des Menschen und Natur wurden bisher in einem Ergänzungszusammenhang erlebt. Die jüngste Großindustrie, die Reiseindustrie, macht die Erfüllung des Kontrastwunsches nach Einsamkeit, nach Stille, nach nichtorganisiertem Dasein — der vielleicht ein Grundbedürfnis zur Erhaltung des psychischen Gleichgewichtes darstellt — immer unmöglicher oder wenigstens schwieriger. In diesem Kontext muß man auch die Kompromißlösung für den finanzkräftigeren Bürger verstehen: Er kauft sich Natur, zäunt sie ein und spielt in ihr »Landbewohner«. Aber er tut das nicht bloß im Tessin und am Tegernsee, sondern auch im heimischen Vorort. Hier bildet sich eine neue Kaste von Privilegierten; sie hat auch schon Rückwirkungen auf das Rollendasein. Man spricht von »Vorortgattinnen«, die ihre City-Männer abends in der Gärtnerschürze als die »Zugereisten« auf der heimischen Scholle empfangen.

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Liest man sich noch einmal die schöne bayerische Verfassung vor, so kann man guten Rechtes kommentieren: »Ein privates Eigentumsrecht am Boden gewährt dem jeweiligen Eigentümer eine Monopolstellung am unvermehrbaren Boden gegenüber allen Ausgeschlossenen, die auf den Boden unabdingbar angewiesen sind, und die nun von den privaten Eigentümern rücksichtslos ausgebeutet werden können.« 2)

Bleiben wir noch einen Augenblick, ehe wir in die City zurückkehren, in den Bereichen, in denen Einfamilienhäuser und Siedlungen in die Landschaft quellen. Das Vorortdasein verliert in den Ballungsräumen, wie sie gegenwärtig strukturiert sind, mehr und mehr seinen Sinn. Es wird zu einer Belastung, weil man es nur nach erschöpfenden Fahrten in verstopften Straßen erreichen kann. Wir müssen lernen, darauf zu verzichten, durch Bauwerke unseren Status zu repräsentieren, uns Natur zu Wucherpreisen zu kaufen. Das wird offenbar zu einer aufwendigen Form der Asozialität. Viele wird dies eine frevelhafte Meinung dünken, die das heimische Glück antastet. Trotzdem läßt sich kaum widerlegen, daß diese sogenannten Villen-Vororte, aber auch ihre ärmeren Nachbarn, die Siedlungsblocks, die Reihenhäuser, sich antistädtisch, gesichtslos ins Land hineinfressen, nicht anders als die Industrievororte auch. Neutra spricht von der »Verregelmäßigung der Umwelt« und der »Giftigkeit der Monotonie«. Gerade um ihr zu entrinnen, hat der Mensch oftenbar das Kontrastbedürfnis, von dem wir oben sprachen. Die vernünftige Absicht, der immer unbewohnbarer gewordenen Stadt ins vorortliche Grün zu entfliehen, hat leider ihrerseits einem neuen Übel städtischen Daseins Vorschub geleistet.

 

2) Herbert Müller: Bodeneigentum — Bodenrechtsreform — das Bodeneigentum in der modernen Rechtsprechung. In: Mensch, Technik, Gesellschaft, 1965, Heft 2

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Vom Klassizisten Karl Friedrich Schinkel stammt das Wort: »Die Kunst ist überhaupt nichts, wenn sie nicht neu ist.« Man muß sich also angesichts immerfort sich ausdehnender Städte etwas Neues einfallen lassen, um Stadt und Natur als Grundbestandteile einer Kontrasterfahrung zu erhalten, die das menschliche Leben bisher in Spannung gehalten hat. Das selbst gestaltete Biotop Stadt immer wieder verlassen zu können, um »Natur« zu suchen, war bisher ein Stück menschlicher Freiheit. Wird das von Menschen gemachte Biotop »Stadt« zur selbstverhängten Internierung ohne Alternative, dann hat die Menschheit sich Lebensbedingungen geschaffen, die mit denen domestizierter Tiere viel Ähnlichkeit besitzen.

Städte sind in der Wurzel mit dem Egoismus verknüpft. Es müßte über den Schatten des Egoismus gesprungen werden, um unser urbanes Leben den neuen Bevölkerungszahlen, den neuen Produktions- und Administrationsbedingungen anzupassen. Bei der Revision der Stadtpläne begegnet man aber, lange bevor man es mit Einsicht und Verstand zu tun bekommt, dem Argwohn, es könnten Vorrechte angetastet werden. Seit Roms Tagen sind diese Vorrechte im Privatrecht geronnen. Das macht es so schwer, sich überhaupt ernsthaft mit den Problemen der Städteplanung auseinander zusetzen. Fast jedermann, mit dem man sich ernstlich darüber unterhält, ist der Auffassung, hier auf Änderungen zu hoffen, die dem Planen mehr Freiheit ließen, sei eine Utopie. Eher werde unsere Gesellschaft zugrunde gehen, als daß sie bereit sei, guten Willens einzusehen, daß der städtische Boden nicht auf der gleichen Ebene mit anderen vermehrbaren Produkten behandelt bzw. gehandelt werden

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dürfe, sondern daß er eine der unvermehrbaren Lebensvoraussetzungen ist, in die unter den gegebenen Bedingungen sich zunehmend mehr Menschen teilen müssen. Die Einschränkung des ausschließlichen Besitzanspruches fällt wohl deshalb so schwer, weil sie an ein sehr altes, sozusagen am Rande der Geschichte zur Prähistorie hin gelegenes Unrecht erinnert, an Landnahme, Ausbeutung, Erbkämpfe — eine große Zahl egoistischer Akte also, die in ihren Folgerungen bis hin zum Elend der Kriege der Menschheit unendlich geschadet haben. An Unrecht, welches Privilegien zu begründen half, wünscht keiner erinnert zu werden. Die beste Abwehr aufsteigenden Unbehagens scheint das Festklammern am Status quo. Die Revision der Besitzverhältnisse, die »Einschränkung des Eigentumrechtes«, von dem die Väter der bayerischen Verfassung so mutig gesprochen haben, sie soll nicht stattfinden. Ohne diese Einschränkung des privaten Eigentumsrechtes an städtischem Grund und Boden ist freilich keine Freiheit für die Planung einer neuen Urbanität zu denken. Die Versuche, an diesem Problem vorbeizukommen, führen unausweichlich dahin, daß alles beim alten bleibt, so daß vorauszusehen ist, Megalopolis wird ein ungeheures Scheusal sein. Los Angeles ist hier das Vorbild, das jeder sich betrachten kann.

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Wir haben noch nicht gelernt, daß Demokratie ein Prozeß der Bewußtseinsentwicklung angesichts bisher unbekannter Probleme ist. Das heißt, Demokratie dient uns vorerst nur dazu, ein Interessengleichgewicht zu arrangieren; wir benutzen aber den Wettstreit der Meinungen noch nicht dazu, die Grundprobleme der Fortexistenz dieser unserer Demokratie diskutieren zu lassen. Statt dessen überbieten sich, was die Zukunfts-, mehr noch die Gegenwartsfragen unserer Städte betrifft, Regierung und Opposition — letztere wußte es einmal besser — in einer christlich dekorierten Unterwürfigkeit vor den Bodenbesitzern. Jedoch könnte nur auf dem Wege über die parlamentarische Diskussion das Bewußtsein der Allgemeinheit erreicht und ihr Vorschläge einer gerechteren Lösung der Eigentumsansprüche auf städtischen Grund und Boden zur Kenntnis gebracht werden. Ohne Zweifel würde dies die heftigsten Reaktionen auslösen, und erst nach einer längeren Phase des Meinungsstreites könnte sich dann eine neue Einstellung — eine weniger starre nämlich — entwickeln.

Alte Vorurteile, alte institutionalisierte Privilegien könnten sich mit neuen Verhältnissen unserer Gesellschaft auf verhängnisvolle Weise verknüpfen. Soweit wir städtische Kulturen verfolgen können, spielte sich in ihnen der erwähnte Wechsel zwischen Stadtumwelt und Naturumwelt ab. Gerade diese Abgrenzung eines knotenpunkthaft verdichteten Kulturraumes, des Stadtraumes, hat zum stadt-typischen Selbstbewußtsein geführt. Ein Bewußtsein, das gegen den Hintergrund einer weniger oder gar nicht menschengeformten Landschaft stand. In dem Maße, in dem die Manipulation der menschlichen Umwelt immer besser gelingt, gelingt es natürlich auch vom Standpunkt des Manipulierenden her immer perfekter, Menschen selbst zur Umwelt, das heißt zum Manipulationsobjekt werden zu lassen. Die gleiche Einstellung ist auch im Verhältnis zur Natur deutlich zu erkennen. Sie wird auf ein Handelsobjekt für Statussucher reduziert oder zu einem idealisierten Zielobjekt, auf das sich natursuchende Ferienmenschen zubewegen.

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Im übrigen wird man sich fragen können, ob die sprunghafte Bevölkerungsvermehrung und die aus vielen irrationalen Quellen gespeiste Neigung zur Siedlungsballung — von Stadt im alten Sinn sollte man schon nicht mehr reden — nicht gerade zur Vernichtung des stadtbürgerlichen Lebensbewußtseins beitragen muß. Eben jenes Bewußtseins, das geschichtlich der Nährboden aller Freiheiten war, die uns das Leben unter Menschen erst lebenswert erscheinen lassen. Freiheit der Meinung, des Glaubens, Freizügigkeit, freier Zugang zum Wissen und wie alle diese spezifischen Freiheiten lauten, sie sind Erscheinungsformen der langsam entstandenen Einsicht der Städter, Ausdruck einer Lebensweise, in welcher die intellektuelle Auseinandersetzung — schon wegen des zur Verfügung stehenden beschränkten Aktionsraumes eines jeden — die Formen gewalttätiger Rivalität wenigstens ein Stück weit ersetzt hat.

Was wir in den stadtähnlichen Agglomerationen, die vor unseren Augen entstehen, jedoch beobachten, ist die fortschreitende Vernichtung vieler städtischer Freiheiten, die Herstellung einer neuen Privilegiertheit und Unterprivilegiertheit, die an die Wurzeln geht. Unsere Kultur wird sich nur dann gegen andere konkurrierende Gesellschaftsordnungen behaupten können, wenn sie von der ihr immanenten Aufklärungsidee weiterhin Gebrauch zu machen versteht, das heißt, dort auf Gleichheit sinnt, wo nur diese Gleichheit erst realisierbare Freiheit garantiert. Das ängstliche Schweigen unseres Parlamentes, die Fahrlässigkeit, in der in den allermeisten unserer Städte der Wiederaufbau einer Anarchie der Privatinitiativen überlassen wurde, all das muß traurig und bedenklich stimmen. Die Ideenlosigkeit purer Restauration auf vorgegebenen Besitzzerstückelungen des Baugrundes ist nur deshalb so leicht hingenommen worden, weil die Wirksamkeit des althirnlichen Teils an unserer Verhaltenssteuerung so überaus kräftig ist; Gewohnheit hält das Denken besonders dort, wo durch Denken zunächst Unbehagen entstehen muß, in Schach. Die sekundäre Ausbeutung dieser Trägheit durch Entwicklung von Tabus besorgt den Rest.

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Greifen wir noch einen Aspekt heraus, der uns in unserem Argwohn in Sachen Stadt bestärken mag. Städtische Region wird, wie wir sahen, mehr und mehr zum kontrastlosen, einzigen und ausschließlichen Lebensraum für Millionen von Menschen. So vollständig, daß auch alle Naturprodukte, alles was an Naturprozesse erinnert, in technischer Aufbereitung, Verpackung erscheint; oft nachdem dieses Naturprodukt weite Strecken hinter sich gebracht hat und kaum irgend einer der Verbraucher die Gegend kennt, aus der es stammt. 

Die Beziehung des städtischen Menschen der industrietechnischen Zivilisation zur Natur ist demnach höchst eigenartig. Er setzt die teils als selbstverständlich funktionierende Rohstoff- und Lebensmittelproduktion voraus, nimmt also die Natur als einen manipulierbaren Spender der für ihn wichtigen Rohstoffe, teils sucht er in ihr Entlastung, Erholung, wobei er sich dann auf die massenhaft benützten Kommunikationswege und Massenerholungsplätze gedrängt sieht. Eine Sonntagsfahrt ins Grüne aus einer modernen Großstadt — auch schon aus einer mittleren — unterscheidet sich in nichts mehr von der täglichen rush hour in der City. Hier wird doch sehr deutlich, daß die außerhalb der Stadtregion liegende Natur relativ beherrschbar geworden ist, daß aber die mit dem Leben von Millionen Menschen verknüpften Vorgänge innerhalb der Stadt-Region periodisch zusammenbrechen.

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Hat das nur mit Technik zu tun? Mit der Unvollständigkeit der Einrichtungen? Oder aber mit dem Festhalten an Vorstellungen, die unter unseren Lebens Voraussetzungen widersinnig geworden sind? Seit langem kennen wir ein Merkzeichen für den Widersinn unbeschränkten Privatbesitzes an städtischem Grund und Boden. Es sind die Elendsgebiete, die Slums, in denen die Unterprivilegierten zu wohnen gezwungen sind. Das Elend der Städte läßt sich aber auch an einer viel unverdächtigeren Erscheinung wiederentdecken, dem Wunschziel der meisten Städter: am Trend zum Einfamilienhaus. 47 Prozent aller neuen Wohnungen, die in Deutschland im Jahre 1962 gebaut wurden, waren Eigenheimwohnungen; mit der Verbesserung der Qualität der Fertighäuser ist mit einem Anstieg dieser Zahl zu rechnen. 

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der »großen Landzerstörung« sind also ausgezeichnet. Denn mit jedem Grundstück, das am Stadtrand parcelliert und zu schwindelhaften Bodenpreisen veräußert wird, schiebt sich der Florizont des Städters, an dem die Landschaft beginnt, weiter hinaus, wird Land der Allgemeinheit irreparabel entzogen. Und nur die unbefragten Gewohnheiten, die wir mit uns schleppen, hindern uns daran zu sehen, daß dies ziemlich zwecklos ist, weil nämlich dem Wachsen der Vorstädte die Langeweile korrespondiert, die Langeweile der Monotonie. Von Kontrasterfahrung der Natur ist der Einfamilienhausbewohner für gewöhnlich so weit entfernt wie das Huhn des Hühnerhofs von der freien Flugbahn. Zweifellos gäbe es dem gegenüber Lösungsvorschläge einer Intcnsivbesiedlung, wie sie etwa Le Corbusier und andere vorgeschlagen haben. 

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Diese Wohngestaltungen im Rahmen von Hochhaussielungen gehen aber zwangsweise von einer neuen Form der städtischen Gemeinschaft und auch von einer anders akzentuierten Privatheit aus, als sie das überkommene Gewohnheitsschema suggeriert. Das Ziel dieser im Sinne Schinkels geforderten neuen Kunst läge heute darin, Stadt auf dem kleinstmöglichen Raum zusammenzuziehen, um auf diese Weise der großen Zahl der Lebenden die Chance einer Verbesserung ihrer innerstädtischen Kommunikationswege, aber auch einer Erleichterung der Kommunikation von der Stadt in die Landschaft zu schaffen.

Richard Neutra hat den Begriff des Biotop, entsprechend der seelischen Differenzierung des Menschen, um den des »Psychotop« ergänzt. Er meint, wir brauchen seelische Ruhepunkte, der Psychoanalytiker würde sagen, »Objekte«, die wir mit gleichmäßigem Interesse, mit bleibendem Affekt besetzen können. Das kann ein Bild an der Wand und ebenso der erholsame Gang in eine bevorzugte Landschaft sein. Solche Objekte vermögen uns offenbar zu befriedigen, zu beruhigen und damit auch für die gefühlsbetonten Beziehungen zu unseren Mitmenschen freundlicher zu stimmen. 

Man braucht sich nur an die leblose oder auch gereizte Stimmung in vielen von 500 oder 1500 oder 5000 qm Rasen umgebenen Einfamilienhäusern zu erinnern, um zu begreifen, daß diese Parcellierung der Natur nicht das bringen wird, was der von idealisierenden Hoffnungen geschwellte Erbauer eines solchen Einfamilienhauses sich erträumt hatte. Ein wohlbewohnbarer und wohltuender Eigenraum ist auch dann herzustellen, wenn man nicht ein Stück Landschaft der Allgemeinheit wegschnappt, sondern wenn man Wohnungen unseren veränderten Sozialbedingungen entsprechend konzentrierter und dabei nicht weniger intim zu planen lernt und wenn man die Ruhepunkte der Landschaft — vielfältig an der Zahl — ohne ermüdenden Aufwand zugänglich werden läßt.

 

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1945: Ruinen, wohin man blickte, wohin man kam. Endergebnis, nachdem man ausgezogen war, die ganze Welt das Fürchten zu lehren. Hinter dieser prahlerischen Demonstration der Potenz war ein tiefer Zweifel am Selbstwert, an der Männlichkeit verborgen — nach untergegangener Reichsglorie, bei großer Arbeitslosigkeit. Unter Männern hatten die Deutschen versagt, durch Unbesonnenheit, durch mangelnden Mut in eigener Sache, das heißt also durch mangelnde Zivilcourage. 

Ihre Führer waren einer nach dem anderen kläglich in der Versenkung verschwunden: der Kaiser, Ludendorff, Hindenburg, der Führer mit Marschällen und Brillantenträgern. Ruinen waren ringsum: aber die Erde trug sie weiter, diese zahllosen Jubler, die sich von der Beutegier hatten verführen lassen, die da bereit gewesen waren, den anderen ihren Platz wegzunehmen. Die Welle der Vernichtung war zu ihnen zurückgekehrt und über ihnen zusammengeschlagen. Ihre Häuser waren zerstört, nun krallten sie sich im Boden um so fester, Regression auf eine mutterähnliche Sicherheit, nachdem die Kumpanei mit dem falschen Propheten so mißglückt war. Die Umklammerung war um so ängstlicher, als Millionen Flüchtlinge einströmten, die auch diese Sicherheit verloren hatten. 

Zudem war die Macht, die man sich zum Todfeind gemacht hatte, ganz nahe gerückt — zur Weltmacht geworden. Man hatte sie im Haus und sie machte nicht viel Federlesens mit dem Privateigentum.

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