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Der Gesichtskreis, in dem unser Buch Orientierung vermitteln will, weitet sich nun abermals aus. Über den Staat, die Gesellschaft, das Volk und die in ihnen vorhandenen Weltanschauungen und Konfessionen hinaus stoßen wir zu größeren Bezugssystemen vor.
In unserer Zeit hat sich das Zusammenleben der Menschen in überstaatlichen und übernationalen Beziehungen gewaltig verstärkt. Fast alle wirtschaftlichen Vorgänge sind international verflochten; Verkehr, Tourismus und Massenmedien schaffen Verbindungen zwischen den Bewohnern fernster Gegenden; Wissenschaften und Künste kümmern sich kaum noch um staatliche Grenzen; weltanschauliche und religiöse Ideen, machtpolitische Bestrebungen, militärische Bündnisse fügen die Völker zu riesigen Blöcken zusammen. Eine weltweite Orientierung, wie wir sie beabsichtigen, muß diese Bereiche gebührend berücksichtigen.
Darüber hinaus wird es den Menschen seit einigen Jahrzehnten bewußt, daß ihr eigenes Dasein eng in einen gesamtirdischen Lebenszusammenhang eingebunden ist. Die Erkenntnisse der Umwelt- und Zukunftsforschung weisen uns überzeugend darauf hin, daß wir alle zur Besatzung des "Raumschiffs Erde" gehören und mit dessen Schicksal auf Gedeih und Verderben verbunden sind. Dieser unser "blauer Planet" wird jedoch seinerseits wieder von der modernen Raumforschung als ein Glied in großen Systemzusammenhängen erkannt, die astronomische Ausmaße und Bedingungen haben. Unser Orientierungsstreben muß sich also bis zu einem kosmischen Ausblick erweitern; ohne einen "Blick aufs Ganze" bliebe es unvollständig.
Wir dehnen daher unsere Betrachtung jetzt aus auf die Umkreise: Europa — Erde — Sonnensystem — Universum.
2.1 Unser Kontinent Europa:
Völker — Kultur — ReligionenDas Land, das Volk, der Staat, dem man angehört, ist nach geographischen Gesichtspunkten ein Bestandteil eines bestimmten Erdteils (latein. Kontinent). Der Name "Europa", den unser Erdteil trägt, ist zusammen mit "Asien" der älteste bekannte Erdteilname; seit dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung wird er von Geographen des antiken Griechenland gebraucht. Die Bezeichnung soll aus einem semitischen Wort mit der Bedeutung "Sonnenuntergang, Abend" entstanden sein; also wäre das heute auch gerne für unseren Erdteil verwendete Wort "Abendland" mit "Europa" bedeutungsgleich.
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2.1.1 Unser Erdteil und seine Völker
Europa, unser Kontinent, ist mit einer Fläche von rund 10 Millionen Quadratkilometern der nach Australien zweitkleinste Erdteil. Gemessen an seiner Bevölkerungszahl von knapp 700 Millionen Menschen wäre Europa allerdings gleich hinter Asien, dem größten Erdteil, einzustufen, wo weit über zwei Milliarden Menschen leben. Mit Asien ist Europa auch geographisch am stärksten verbunden. Stellt doch unser Kontinent keine nach allen Seiten hin vom Meer umgrenzte Fläche dar. Vielmehr geht das europäische Festland nach Osten hin unmittelbar in den asiatischen Erdteil über, so daß man an sich vom europäisch-asiatischen (eurasischen) Kontinent sprechen müßte. Dementsprechend wäre Europa die westliche Halbinsel der großen eurasischen Landmasse. Im Norden wird die Küste Europas vom Nordpolarmeer umspült, im Westen und Nordwesten vom Atlantischen Ozean, im Süden vom Mittelmeer begrenzt. Dagegen schwanken die Festlegungen der Ostgrenze Europas. Am meisten üblich ist folgende Grenzziehung: von den Dardanellen und vom Bosporus über das Schwarze Meer, das Asowsche Meer, die Manytschniederung und das Kaspische Meer zum Uralfluß und Uralgebirge. Die größte Ausdehnung Europas beträgt von Nord nach Süd ungefähr 4800 Kilometer, von Ost nach West etwa 6400 Kilometer.
In dem so geographisch umrissenen Raum leben heute Europas Völker in 34 Staaten nebeneinander. Diese Völker haben teilweise einen recht unterschiedlichen Charakter. Ihre Andersartigkeit geht zum Teil auf unterschiedliche Herkunft zurück, großenteils aber auch auf Vorgänge ihrer politischen oder kulturellen Geschichte. Schotten, Iren, Engländer, Nordfranzosen, Flamen, Niederländer, Deutsche und Skandinavier stammen von Germanen und Kelten ab. Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen, Slowaken, Jugoslawen und Bulgaren bilden die slawische Völkergruppe.
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Südfranzosen, Spanier, Portugiesen, Italiener, Rätoromanen und Rumänen werden zur romanischen Völkerfamilie gerechnet, deren Zusammengehörigkeit überwiegend sprachlich bedingt ist. Neben diesen Großgruppen europäischer Völkerschaften gibt es noch kleinere Nationen mit einer gewissen Eigenständigkeit, wie die Griechen, und unter ihnen solche mit schwer auszumachender Herkunft und Verwandtschaft, wie die Finnen, die Ungarn und die Basken.
2.1.2 Europas Kultur
Die verschiedenen Völker Europas haben natürlich auch eine jeweils andere Kultur, eigene Bräuche und Sitten, eine eigene Tradition, Lebensauffassung und -führung, ihre besondere Sprache, Literatur und Kunst. Dennoch gibt es auch verbindende Kulturelemente zwischen ihnen, weil Europa einen mehr oder minder einheitlichen geschichtlichen Wirkungsraum darstellt. Um nur einige Hauptbestandteile der abendländischen Kulturgeschichte in loser, nicht unbedingt zeitgerechter Reihenfolge zu nennen: Die antike Kultur und das Christentum haben dazu den Grund gelegt; Humanismus und Renaissance, das Aufkommen der experimentellen Naturwissenschaft, die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution mit ihren Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit haben wesentliche Züge geprägt; die methodisch-technische Naturbeherrschung, die moderne demokratische Staatslehre haben ihren Stempel aufgedrückt. Auch philosophische Strömungen wie Idealismus, Positivismus, Materialismus, Marxismus, Existentialismus u.a., ebenso wie umfassende Kulturbewegungen (Barock, Klassik, Romantik) bestimmen bewußt oder unterschwellig das geistige Antlitz Europas mit.
Es ist schlechterdings unmöglich, die Kultur Europas auf einen Nenner zu bringen und angemessen-erschöpfend zu beschreiben. Aber die Totalität und Universalität europäischen Kulturgeistes läßt sich mit Jacob Burckhardt treffend so formulieren: "Europäisch ist: das Sichaussprechen aller Kräfte in Denkmal, Bild und Wort, Institution und Partei, bis zum Individuum, das Durchleben des Geistigen nach allen Seiten und Richtungen, das Streben des Geistes, von allem, was in ihm ist, Kunde zu hinterlassen".
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Diese umfassende, grenzüberschreitende geistig-seelische Vitalität des europäischen Menschen machte unseren Kontinent zum Ursprungsgebiet der neuzeitlichen Zivilisation, die auch Amerika und Asien in ihren Bann zog. Fast alle wissenschaftlichen Entdeckungen, technischen Errungenschaften und politisch-sozialen Ideen traten von Europa aus ihren Siegeszug in der Welt an. Es wäre deshalb zu wünschen, daß in Europa auch jene Kräfte aufstehen, die die negativen politisch-ökonomischen Folgen der westlichen Zivilisation, vor allem die rücksichtslose Ausplünderung der Natur und Rohstoffquellen unseres Planeten, bremsen oder beseitigen.
Für den kulturellen Charakter Europas nach dem Zweiten Weltkrieg war auch die Tatsache seiner Trennung in zwei politische Lager nicht ohne tiefgreifende Bedeutung. Osteuropa mit neun kommunistischen und Westeuropa mit 25 Staaten stehen sich nun, durch den Eisernen Vorhang getrennt, als politisch und weltanschaulich entgegengesetzte Systeme gegenüber. Das ist nur eines der Kennzeichen dafür, daß Europa als Ganzes der eigentliche Verlierer des Zweiten Weltkrieges war und daß als die wirklichen Gewinner dieses Krieges die beiden großen Weltmächte, die USA und die UdSSR, zu gelten haben. Das "europäische Kraftfeld" mit seiner einst überragenden kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Weltbedeutung hatte, vom Ersten Weltkrieg und der bald darauf folgenden Weltwirtschaftskrise bereits angeschlagen, durch den zweiten großen Krieg innerhalb von wenigen Jahrzehnten seine Rolle ausgespielt.
2.1.3 Das Streben nach europäischer Einheit
Der Gedanke der europäischen Einheit und ihrer Notwendigkeit ist aber lebendig geblieben. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte Graf Coudenhove-Kalergi die Pan-Europa-Bewegung ins Leben gerufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierte sich 1948 die Europäische Bewegung als Dachverband von Vereinigungen, die die europäische Idee fördern und die Vereinigten Staaten von Europa herbeiführen wollen (Sitz in Brüssel). 1949 schlossen sich in London Großbritannien, Frankreich, Italien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Irland, die Niederlande, Belgien und Luxemburg im Europarat zusammen.
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Die Bundesrepublik Deutschland, Osterreich, die Schweiz, Island, Malta, Zypern, die Türkei und Griechenland schlössen sich später an. Der Europarat sieht seine Aufgabe vor allem im stufenweisen Abbau national bedingter Unterschiede, in dem gemeinsamen Schutz und der gemeinsamen Nutzung natürlicher Reichtümer, in der Bewahrung des kulturellen Erbes Europas, der Angleichung der Erziehungs- und Bildungspolitik, der Förderung des 1972 gegründeten Europäischen Jugendwerkes, in der schöpferischen Freizeitgestaltung und Freizügigkeit des Verkehrs im Interesse von Bildung, Arbeit und Erholung. Die Arbeit des Europarates hat in juristischer Hinsicht ihren Ausdruck in zahlreichen Konventionen gefunden, unter denen die wichtigste die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist.
Die Rolle der bedeutendsten treibenden Kraft für die europäische Einheit könnten die Europäischen Gemeinschaften (EG) spielen. EG ist die Sammelbezeichnung für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, gegründet 1951), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom; beide 1957 gegründet). Die wichtigsten Organe dieser drei Gemeinschaften wurden durch Übereinkommen vom 25.3.1957 und 8.4.1965 vereinigt. Mitglieder der EG sind Belgien, die Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, seit 1.1.1973 auch Großbritannien, Dänemark und Irland. Assoziierte, also keine ordentlichen, aber durch besondere Beziehungen mit der EG verbundene Mitglieder sind Griechenland, die Türkei, Malta, Zypern und einige außereuropäische Länder und Hoheitsgebiete. Die gemeinsamen Organe der EG sind: die Kommission, bestehend aus 13 Mitgliedern, die von den Regierungen der Mitgliedsstaaten ernannt werden; sie ist das Exekutivorgan der EG mit Sitz in Brüssel. Der Ministerrat, bestehend aus je einem Mitglied der Regierungen der Mitgliedsstaaten, ist die Legislative, das gesetzgeberische Organ der EG mit Sitz in Brüssel.
Das Europäische Parlament hat, im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten, nur eine beratende Stellung. Während es früher aus 198 Delegierten der Parlamente seiner Mitgliedsländer bestand, wurden im Juni 1979 erstmals 410 Abgeordnete unmittelbar von den Bürgern der Mitgliedsländer gewählt.
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Man erhofft sich von dieser Veränderung eine Stärkung des Einigungswunsches in den beteiligten Völkern. Inzwischen hat dieses Parlament in Straßburg seine Tätigkeit aufgenommen. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg besteht aus 9 Richtern und 3 Generalanwälten. Ihm eignet die höchste richterliche Gewalt in allen die EG betreffenden Fragen. Er kann von allen Organen der Gemeinschaft sowie von Einzelpersonen angerufen werden. Seine Urteile haben Rechtskraft und sind für alle Parteien rechtsverbindlich.
Die Zukunft Europas und seine politisch-kulturelle Einheit in der Vielfalt der verschiedenen Volkstraditionen werden unter anderem davon abhängen, ob die EG sich mehr den Eigeninteressen einzelner Mitgliedsstaaten beugen oder wirklich gesamteuropäische Ziele verfolgen wird.
2.1.4 Europa und das Christentum
Es ist fast allgemein üblich, nur von einer Religion Europas zu sprechen: dem Christentum. So zu reden, ist nur oberflächlich gesehen richtig. Weder ist das Christentum in sich selbst eine einheitliche Größe, so daß man ohne erklärende Zusätze und Unterscheidungen von einer christlichen Religion reden könnte (man denke hier auch an die unter 1.3.5 behandelte konfessionelle Verschiedenheit), noch ist es möglich, Europas Religiosität umfassend zu verstehen, wenn man sie nur vom Christentum her sieht.
Fragt man moderne evangelische oder katholische Theologen nach dem Wesen der christlichen Religion, so erhält man stark voneinander abweichende Antworten. Alle bringen zwar das Christentum in irgendeinen Ursprungsbezug zu einem jüdischen Prediger Jesus, aber auch die Antworten auf die Frage, wer denn dieser angebliche Stifter der christlichen Religion gewesen sei, unterscheiden sich beträchtlich voneinander. Für einen Teil der christlichen Theologen sind nicht einmal die Frage nach sowie die Art und Weise der geschichtlichen Existenz dieses Jesus für die Grundlegung des christlichen Glaubens von Bedeutung.
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Wichtig sei allein die Rolle, die ihm die urchristlichen Gemeinden und, darauf sich gründend, die Kirche zugeschrieben hätten: die Rolle des Christus, des Messias, des von einem persönlichen Gott Gesalbten und Ausgesandten, des Gottmenschen, des einzigen wahren Offenbarers und Mittlers zwischen Gott und den Menschen, die er durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung als Erlöser und Heiland von ihren Sünden befreit habe. Das sogenannte christliche Volk hört in Predigt und sonstiger christlicher Unterweisung fast nur von diesem kirchlich zurechtgemachten Christus. Der geschichtliche Jesus, dessen Leben, Worte und Handlungen man nur mit Angaben von fragwürdiger Wahrscheinlichkeit. feststellen kann, unterscheidet sich jedoch außerordentlich stark von diesem zur Gottheit erhobenen Christus, den aber die Kirchen zur überweltlichen Stützung ihres Systems und zur Beeindruckung der Massen brauchen. Auf den Jesus, wie er vermutlich war, kann es ihnen gar nicht ankommen, weil er in zu großem Gegensatz zu ihrer religiös verbrämten Machtpolitik steht.
Was kann man vom geschichtlichen Jesus mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen? Man muß bei dem Versuch einer Beantwortung dieser Frage die Schwierigkeit berücksichtigen, daß außerchristliche Quellen über Jesus kaum vorhanden sind bzw. nur kurze, historisch ungesicherte Erwähnungen Jesu enthalten; daß die christlichen Quellen keine Geschichtsschreibung in unserem Sinne darstellen, sondern Erzeugnisse einer ur- bzw. frühchristlichen, teilweise sehr naiven Gemeindetheologie sind. Man wollte mit Erzählungen über Jesus Menschen erbauen, missionieren, den Glauben an ihn propagieren, stärken und verteidigen. Magische Wundersucht und uralte, seit jeher im Vorderen Orient wuchernde Mythen taten aufgrund ihrer Vermengung mit der Predigt über Jesus ein übriges, um das an ihm historisch Feststellbare fast gänzlich dem Blick des ernsthaft Forschenden zu entziehen. Überdies wird Jesus zum erstenmal zwanzig Jahre nach seinem Tod schriftlich erwähnt, und zwar im Brief des Paulus an die Thessalonicher. Erst um das Jahr 70, also etwa vierzig Jahre nach Jesu Tod, entsteht das Markus-Evangelium, etwas später das Matthäus-Evangelium; dann vergehen noch einmal etwa dreißig Jahre, ehe das Lukas- und das Johannes-Evangelium entstehen.
Trotzdem glaubt die neutestamentliche Forschung, einige charakteristische Züge im Leben, Reden und Handeln Jesu ausmachen zu können. Sie glaubt, einen mündlichen Urbericht, die berühmte Logienquelle, einigermaßen rekonstruieren zu können.
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Markus, Matthäus und Lukas zehren in ihren Evangelien von einem solchen gemeinsamen Bestand an Geschichten und Sprüchen, die mündlich weitergegeben wurden und von denen ein großer Teil, z.B. die Sprüche aus der sogenannten Bergpredigt Jesu, auf diesen selbst zurückgehen soll. Schwerpunkt der Verkündigung Jesu scheint die Voraussage vom unmittelbaren Nahen des Gottesreiches gewesen zu sein, unter dem er keinen Himmel, kein überirdisch-überweltliches Paradies verstand, sondern eine verwandelte Erde ohne Gewalt, Angst, Not und Ausbeutung als Erbe für die Entrechteten und Armen. Als zentrale Haltungen des Menschen lehrte er Gottes-, Nächsten- und Feindesliebe und ihre Einheit. "Eine Tendenz zur äußersten Radikalität scheint ihn beherrscht zu haben: Kampf gegen Kult und zur Schau gestellte Frömmigkeit, gegen die Selbstgerechten und Richtenden, gegen die Unterdrückung der Schwachen, die Ausbeutung der Armen, gegen Gewalt, Wiedervergeltung und Mord" (K.-H. Deschner).
Mit dieser Haltung überschritt der Jude Jesus aufgrund seiner tiefen Religiosität die geistigen Grenzen des zeitgenössischen Judentums. Nach dem Urteil des bekannten nichtchristlichen Religionswissenschaftlers J. Wilhelm Hauer war Jesus des Judentums "größter, freilich auch sein letzter Prophet, der die Schranken eines artbestimmten Volksglaubens durchbrach und in seiner Existenz in das Menschheitliche vorstieß".
Dieser Durchbruch bzw. Vorstoß vollzog sich gleich in verschiedenen Richtungen. Jesu Gebot der Feindesliebe beispielsweise bedeutet die äußerste Öffnung der Grenzen menschlichen Wohlverhaltens, denn der "Feind" ist der äußerste und entfernteste Gegenpol und Gegensatz zu jedem Menschen. Auch das Gottesbild Jesu geht über das seiner jüdischen Umwelt hinaus. Sein Gott ist zwar ebenfalls ein persönlicher, aber er weist derart universale Züge auf, daß er mit der Gesamtwirklichkeit als dessen alles durchdringender und beseelender Urgrund zu einer Einheit verschmilzt, in der jeder unmittelbar steht ohne vermittelnde Personen oder Einrichtungen (Synagoge, Kirche) und den Umgang mit Gott regelnde Vorschriften. "Jesus ist ein Mensch geradezu genialer Unmittelbarkeit, die ihn befähigt, durch alle Voreingenommenheiten der Lebens- und Denkschemata zur lebendigen Wirklichkeit selbst, zum Ursprung durchzubrechen. Das Stärkste seines Wesens ist seine eigene Gottunmittelbarkeit.
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Ebenso unmittelbar erlebt er den Menschen in seiner inneren Existenz, die Natur, den Nächsten. Nirgends folgt er ausgefahrenen Gleisen ... immer begegnet er als schöpferische Persönlichkeit der Wirklichkeit in ihrer fordernden Realität ... Das Wort 'Vater' für Gott fehlt zwar im Alten Testament nicht ganz. Aber erst in Jesu Mund erhält diese Bezeichnung den innigen Ton und tiefen Inhalt" (J.W. Hauer).
Befreiendes und grenzüberschreitendes Verhalten zeigt Jesus auch in Bezug auf Gesetz und Kult. Mit großartiger Unbekümmertheit faßt er die vielen jüdischen Gebote und Verbote seiner Zeit im Gebot der Liebe zusammen und mißt die letztere an der Reinheit der Gesinnung und an der dieser Gesinnung entsprechenden Tat. Jesus vertritt die Ansicht, daß der Mensch grundsätzlich den Vorrang habe gegenüber den Vorschriften des Kultes: "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Markus 2, 27: Sabbat als Inbegriff aller heiligen Zeiten und Kulthandlungen!). Sein Auftreten und die es begleitenden Worte und Taten weichen völlig vom Herkömmlichen ab. Dies alles bedeutet eine geistige Entmachtung von "Gesetz und Synagoge", die seinen jüdischen Zeitgenossen als absolute Größen galten. Daß das Gesetz für den Menschen, nicht der Mensch für das Gesetz da ist und da zu sein hat, ist gerade angesichts des notwendigen Stadiums der (späteren) Vergesetzlichung jedes Befreiungsvorgangs ein unaufgebbares Element jeder möglichen Befreiungsaktion der Menschheit.
Wir haben hier nur einige Züge aus dem mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruierten Gesamtbild des Juden Jesus herausgearbeitet. Trotzdem wird mancher fragen, ob eine solche Darstellung überhaupt nötig war. Diese Frage ist aus zweierlei Gründen zu bejahen: zum einen wegen der geschichtswirksamen Bedeutung Jesu; zum anderen, weil man gerade dann eine Person voll würdigen und in ihrem Wert nicht von vornherein verkleinern soll, wenn man sie womöglich als Maßstab des eigenen Lebens ablehnen will.
In vorbildlicher Weise bringt der Nichtchrist Hauer, eine der — trotz ihrer theoretischen Verirrungen während des Dritten Reiches — bedeutendsten Größen der Religionswissenschaft des 20. Jahrhunderts, diese beiden Gründe in ein harmonisches Verhältnis.
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Er arbeitet alles Große an Jesus heraus und kann gerade deshalb auf jenes Große hinweisen, das er bei Jesus nicht findet und das die Grundlage einer andersartigen, eben nichtchristlichen Lebensgestaltung wird. Ein solch faires Vorgehen, ein solcher Umgang mit Persönlichkeiten der Vergangenheit ist schon an sich ein ethisch hochwertiges Verhalten.
So würdigt Hauer zunächst die Größe und geschichtliche Bedeutung Jesu:
"Jesus ist für die abendländische Geistesgeschichte ein Schicksal geworden, das diese aufs tiefste beeinflußt hat und dessen Wirkungen auch heute noch spürbar sind. Wie wir uns auch zu Jesus stellen mögen, er kann aus dem Selbstverständnis und der Selbstverwirklichung des abendländischen Menschen nicht ausgemerzt werden. Das zu versuchen wäre geschichtswidrig, weil wir selbst in diesem abendländischen Raum geistig tief wurzeln... Es ist darum unsere Pflicht, uns mit dem, was Jesus war und wirkte, ernsthaft und unvoreingenommen zu beschäftigen".
Jesus war nach Hauer eine "überragend schöpferische" Persönlichkeit, ein "großer Religionsstifter", ein "echter homo religiosus" mit "tiefgreifenden Erfahrungen des Unirdischen", "ein Mensch schöpferischer Innerlichkeit", der "offenbar auch durch Strahlkraft seines Wesens Auffallendes wirkte". Er habe ein "Menschsein von seltener Größe" entfaltet, das "von einer seltenen Großzügigkeit und Unabhängigkeit gegenüber der herrschenden Haltung und von einem heiligen Spürsinn für echtes existentiales Betroffensein und seine schöpferische Kraft" gekennzeichnet gewesen sei. Jesus wirkte "über alle Schranken der religiösen Bereiche hinweg schöpferisch... Ecce homo! Aber nicht im Sinne des Pilatus und des die Leidensgestalt Jesu verabsolutierenden Christentums, sondern mehr in dem andern, wenn es tief genug gefaßt wird: Voilà un homme!"
Seine Worte über den Wert des inneren Menschen und die Wahrhaftigkeit seien "von unvergänglicher Gültigkeit für die Selbstverwirklichung des Menschen überhaupt. Denn unbedingte Wahrhaftigkeit und Bewahrung der freien inneren Existenz sind Grundpfeiler allen echten Menschseins". Seine Ethik wirke "wie ein Feuerbrand... Sie wird in ihrer Ganzheit und Einheit zur kräftigen Quelle eines der Ganzheit des Daseins helfenden Lebens".
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Aufgrund einer solchen Ethik mußte ihm
"schon bald klar werden, daß die Wirkkraft seiner Existenz und seiner Lehre die alten Formen, in denen auch er aufgewachsen war, zerbrechen würde, obwohl er keineswegs ein wilder Revolutionär war, der gerne zuschlug... Aber jeder große schöpferische Mensch wird zum Revolutionär, ob er will oder nicht. Das Gesetz von den alten Schläuchen und dem neuen Wein ist allgültig."
Jesus habe seine revolutionierende Ethik durch die Art seines Sterbens am Kreuze besiegelt. Er habe, zerrieben von der jüdischen Buchstabengerechtigkeit und der arroganten Staatsallmacht des römischen Imperiums, "Verurteilung und Tod so groß und stark ertragen, bis zu seinem letzten Verzweiflungsschrei, daß er immer bei den großen, beispielhaften Gestalten der Menschheitsgeschichte stehen wird". Mit all dem hat er, "wie die Religionsgeschichte bezeugt, in der Tat eine neue weltgeschichtliche Bewegung angestoßen, obwohl er Jude war und Jude sein wollte. Hier hat der schaffende Geist alle Schranken durchbrochen, wohl selbst gegen den anfänglichen Willen seines Trägers".
Dennoch kann Jesus keine einzigartige und alleinbestimmende Bedeutung für die Existenzverwirklichung des modernen Europäers in Anspruch nehmen. Dies nicht in erster Linie deshalb, weil alles, was mit dem geschichtlichen Jesus zusammenhängt, schwer und nie mit unbedingter Sicherheit erkennbar ist, da dies auch für viele andere Persönlichkeiten der Geschichte gilt. Auch nicht deshalb, weil viele Grundideen Jesu, selbst die der Feindesliebe, schon ihre Vorläufer im Judentum, der Stoa, dem Kynismus und überhaupt in der griechischen und hellenistischen Philosophie (A), sodann im Buddhismus, bei Zarathustra usw. haben. Wohl aber deshalb, weil es auch andere überragende religiöse oder ethische Persönlichkeiten in der Geschichte der Menschheit gibt, die einen anderen, aber ebenso bedeutenden Daseinsentwurf vorgelegt und vorgelebt haben. Der Existenzphilosoph Karl Jaspers hat beispielsweise die Daseinsentwürfe von "vier maßgebenden Menschen", nämlich von Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus, dargelegt. In diesem Sinne vergleicht auch Hauer die beiden andersartigen, aber ebenbürtig-gültigen Haltungen Jesu und Sokrates' dem Tod gegenüber: Jesu kindliche Bitte um Errettung, verbunden mit dem echten Willen, sich dem unbegreiflichen Willen Gottes zu fügen — Sokrates' ruhige, fast fröhliche Gelassenheit, mit der er den Tod begrüßt. Hier sind letzte menschliche Grundhaltungen am Werk, die man einfach nebeneinander stehenlassen muß.
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Ähnlich verschiedene Grundhaltungen gibt es auch dem Gebet gegenüber. Jesus selbst hat zwar Hauer zufolge noch "das Gebet in seinen zwei sehr verschiedenen Wesensformen" getätigt: "als Bittgebet und als stille Einung mit dem ewigen Schaffenswillen des Unirdischen, oder wie Jesus sagt, mit Gott". Aber die christlichen Kirchen haben wegen der mit dem zweiten Gebetstyp verbundenen "pantheistischen Gefahren" nur die erste Form des Betens erlaubt, diese allerdings noch durch Anbetung, Dank- und Sühnegebet ergänzt.
Selbst Jesu imposante Liebes- und Tatethik steht nicht ganz einzigartig da. Sie hat, wie auch Hauer betont, "in ihrer Unbekümmertheit, ihrer Unbedingtheit und ihrer mitreißenden Kraft... noch eine Parallele in der buddhistischen Ethik und Gandhis Forderungen der radikalen Liebe."
Jesu Daseinsentwurf überbetont den reuigen Sünder als den für die Liebe und Gnade Gottes besonders empfänglichen, den liebend-leidenden Menschen. Der tätige und schaffende Mensch, der mit bestem Willen um Gestaltwerdung Ringende, der sich darin in Übereinstimmung mit einem "Einzigen Willen" fühlen möchte, fehlt nach Hauer weitgehend in der Verkündigung Jesu. Hier entstehe der Eindruck "eines sehr gefährlichen Vakuums" im Menschenbild Jesu. Die Gegensätze lägen allerdings noch tiefer: "Es ist die radikal andere Einstellung zu Welt und Geschichte, zu den großen Schöpfungen des um Gestaltwerdung und Gestaltungen ringenden Menschen, die verschiedene Auffassung von Gottes Verhältnis zur Welt und dem, was in ihr gebaut wird... So hat auch Jesus letztlich kein positives Verhältnis zu Welt und Geschichte als fortlaufender göttlicher Schöpfung gefunden: Welt und Geschichte sind unwiderruflich dem Unheil ausgeliefert... So findet er kein Verhältnis mehr zu Volk und Staat... Hier wird der Mensch des Heils, wenn er nach letzten und höchsten Zielen fragt, aus der jetzigen Welt herausgehoben, wird 'entweltlicht', 'entgeschichtlicht' (R. Bultmann) und in eine ganz andere Seinsordnung eingefügt".
Sicherlich liegt hier eine der Ursachen für das fast totale Versagen des Christentums im öffentlichen Leben des Abendlandes. Sind nicht die Wirkungen der sittlichen Ideen Jesu in Geschichte und Gegenwart Europas gleich Null, wenn man sie etwa mit der gewaltigen Wirkung eines Gandhi im öffentlichen Leben Indiens vergleicht? Wurzelt die jahrhundertelange Jenseitsorientierung des Christentums, die heute von vielen Theologen kritisiert wird, nicht doch in gewissen Aspekten der Lehre Jesu selbst?
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Nicht einfach beiseite schieben kann man jedoch die in der Verkündigung Jesu im Schwerpunkt stehende Endzeiterwartung (Eschatologie). Der Gedanke, daß alles menschliche Leben unwiderruflich seinem Ende entgegengeht, findet gerade heute in der Sorge um die Gefährdung der Menschheit durch die Atomkraft wieder starke Verbreitung. Diese Endzeitsicht muß deutlich als gegensätzlicher Standpunkt zu einer mindestens ebenso gültigen und wichtigen anderen Sicht erkannt werden. Es ist die schon den alten Griechen bekannte Auffassung, daß das Sein einen trotz aller Veränderungen und allen Kreislaufs des Geschehens im letzten gleichbleibenden Urkern aller Wirklichkeit enthält. In diesem nichtchristlichen Daseinsentwurf ist auch ein Platz für den Gedanken des Tragischen des Menschseins, der in der eschatologischen Sicht Jesu weitgehend fehlt. Bei der Behandlung der pessimistischen Weltanschauung des Existentialisten Camus (in 1.3.4) haben wir gesehen, wie diese Tragik eine bedeutende positive Rolle in der Selbstfindung und Selbstverwirklichung des Menschen spielen kann.
Wir sehen hier — nicht nur aus Raumgründen — davon ab, im einzelnen über die verschiedenen Bekenntnisse, Kirchen und Glaubensbewegungen zu berichten, die das Christentum im Laufe der Geschichte hervorgebracht hat. Dagegen seien einige wichtige Gesichtspunkte zur Christlichkeit Europas kurz zusammengefaßt:
Das Christentum ist keine einheitlich-eindeutige Religion. Schon der Daseinsentwurf des geschichtlichen Jesus kann nicht mehr genau oder auch nur annähernd sicher bestimmt werden; über ihn sind mehrere unterschiedliche Meinungen möglich. Die "Christentümer" der einzelnen Kirchen, Konfessionen und Sekten weichen stark voneinander ab, haben mit dem Daseinsentwurf Jesu nur wenig gemeinsam oder stehen im Gegensatz zu ihm. Keine der Kirchen kann glaubwürdig sich selbst oder die Einrichtung einer kirchlichen Obrigkeit, wie die des Papsttums, auf einen Stiftungswillen Jesu zurückführen, der ja in einer Endzeiterwartung lebte. Sowohl im Daseinsentwurf Jesu wie in den anderen christlichen Lebensauffassungen sind auch Einflüsse anderer, nichtchristlicher Religionen festzustellen. In Abschnitt 2.2.3 wird diese Aussage noch deutlicher werden.
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2.1.5 Europas andere Religiosität
Damit stehen wir schon mitten in der Behandlung der Frage nach Europas anderer Religiosität. Wir haben bereits gesehen, daß es andere, nichtchristliche Weltanschauungen und Daseinsentwürfe gibt (vgl. auch 1.3.4), die meist auch etwas mit einer anderen Religionserfahrung und -auffassung zu tun haben, aus ihr entspringen oder sich mit ihr verbinden.
Darüber hinaus ist festzuhalten, daß es im europäischen Raum schon lange vor der Entstehung und Ausbreitung des Christentums viele Religionen gab und der "Sieg" des Christentums über diese im Regelfall politische Ursachen hatte. Eine eigentliche religiöse Auseinandersetzung zwischen den unterjochten Religionen und der Erobererreligion fand in den meisten Fällen nicht statt. Kelten, Germanen, Griechen, Römer, Illyrer, Thraker, Slawen, Iberer, Etrusker und andere hatten jeweils eigene Formen von Religiosität ausgebildet, wobei allerdings meistenteils auch verbindende Elemente zwischen ihren Religionen nicht fehlten. Das letztere gilt vor allem für die Religionen der indogermanischen Völker. Jedes dieser Völker brachte bei seiner "Bekehrung" seine religiöse Eigenart des Empfindens, Erlebens und Auffassens der Wirklichkeit in ein Christentum ein, das sich ohnehin schon zuvor "hellenisiert" hatte.
Das ursprüngliche Christentum war eine Sekte des Judentums, eine sektenartige Religion der Bauern und Hirten des palästinensischen Ursprungslandes gewesen. Als es — vor allem getrieben durch seinen Verkünder Paulus, einen Juden aus Tarsos in Kilikien, einer Stadt an der Verbindungsstraße zwischen Kleinasien und Syrien — in die weite Arena der griechisch-römischen Welt eintrat, fand es sich einer ihr intellektuell überlegenen Mischkultur gegenüber: dem sogenannten Hellenismus. Die Anfänge dieser Kultur verbinden sich mit den Eroberungszügen Alexanders des Großen im 4. vorchristlichen Jahrhundert. Von da ab verschmolzen allmählich so gut wie alle Elemente der griechischen Kultur (Leben und Denken, Sprache und Literatur, Moral und Brauchtum, Kunst, Politik, Philosophie und Religion) mit den Bestandteilen anderer Kulturen im Osten wie im Westen Griechenlands.
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Ein gewaltiger Umarmungsprozeß gegenseitigen Gebens und Empfangens vermischte die Kulturen zwischen Mazedonien und Vorderindien, von der Nordküste des Schwarzen Meeres beziehungsweise den Ufern der Donau bis nach Nubien und in die Sahara. In diesen Prozeß wurde — vor allem nach Einverleibung Griechenlands durch die Römer — allmählich auch der ganze Westen bis nach Spanien und Gallien hin einbezogen. In der hellenistischen Mischkultur hatte Hellas, die griechische Denk- und Lebensweise, im allgemeinen die Führung, obwohl der Orientalismus seinen bis in den Alltag hereinreichenden Einfluß ständig vergrößerte.
In dieser hellenistischen Kulturwelt konnte sich das Christentum nur behaupten, wenn es sich ihre Denk- und Lebensweise in einem beträchtlichen Maße zu eigen machte. So "schluckte", "taufte", "christianisierte" das Christentum sehr viel von dem, was auf den hellenistischen Menschen einen bedeutenden Einfluß ausübte. Es waren vor allem Elemente der antiken Mysterienreligionen: Sakramente, Taufe, Heiliges Mahl und Vereinigung mit der Gottheit, Sterben und Auferstehen mit ihr, Wiedergeburt, Gotteskindschaft, Unsterblichkeit, Paradies der Seligen, aber auch Bestrafung im Jenseits, Sühneidee, geheimnisvoller Kult mit mystischem Halbdunkel, feierliche Prozessionen, Askese, Fasten, ekstatische und visionäre Zustände — also schon all das, was dann die katholische Organisationsform des Christentums zu hoher Meisterschaft gebracht hat. Dazu kamen Bestandteile der hellenistischen Philosophie: die stoischen Tugenden der Mäßigung, des Waltenlassens der Vernunft, der Selbsterkenntnis übten auf die von frühen Vertretern des Christentums aufgestellten christlichen Tugendkataloge einen nicht unwesentlichen Einfluß aus; ebenso auf die Kirchenväter der stoische Gedanke vom Logos, dem alles durchwaltenden Vernunftprinzip der Wirklichkeit. Auch der Kritik des Polytheismus, der Vielgötterei, durch die stoische Philosophie bediente sich die Kirche; oft setzte sie aber auch ihre Heiligen einfach an die Stelle heidnischer Gottheiten.
Gerade wegen seiner seit Kaiser Konstantin dem Großen (er regierte von 306 bis 337) immer mehr beherrschenden Stellung in der damaligen Welt mußte das Christentum "heidnische", ketzerische, pantheistische (unter anderem von der Stoa herkommende), religiöse und scheinreligiöse, ja sogar atheistische Unter- und Nebenströmungen in seinem Schoß aufkommen lassen bzw. ständig bekämpfen. Später kamen germanische, keltische, slawische und andere Einflüsse hinzu. Insofern gab es immer schon, und zwar unterschwellig im Christentum selbst, auch andere Religionen in Europa.
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Mit dem Begriff "Europas andere Religion", den die Religionswissenschaftlerin Sigrid Hunke geprägt hat, ist jedoch etwas anderes gemeint: ein dem Christentum fremder, "anderer", deutlicher und selbständiger religiöser Daseinsentwurf. Er wird von vielen großen religiösen Persönlichkeiten der europäischen Geistesgeschichte vertreten, die ihr Erleben der Wirklichkeit in Worte oder auch in ganze Systeme gefaßt haben. Philosophen, Dichter, Naturwissenschaftler und Mystiker vom Range eines Johannes Scotus Eriugena, Meister Eckehart, Nicolaus Cusanus, Giordano Bruno, Spinoza, Goethe, Fichte, Schleiermacher, Hegel, Schelling, Bergson, Rilke, Einstein, Planck — um nur einige wenige von ihnen zu nennen —, haben sich zu einer Religion der Einheit (latein. unitas), des Einsseins der Welt mit dem Göttlichen, bekannt. Ihr Kerngedanke ist am knappsten und klarsten von Goethe ausgesprochen worden: "Es ist das ewig Eine, das sich vielfach offenbart."
Diese Religion der Einheit, deren Anfänge schon bei frühgriechischen Philosophen wie Heraklit zu finden sind, zieht sich wie ein unterirdischer Strom durch das ganze Geistesleben des Abendlandes und tritt immer wieder in den Werken einzelner Großer oder als Bekenntnis religiöser Gruppen zu Tage. Von den christlichen Kirchen wurde sie als Ketzerei gewaltsam unterdrückt; Jahrhunderte hindurch wurden die meisten ihrer Verkünder und Anhänger bis zum Tode verfolgt, ohne daß es gelang, diese Ideen auszumerzen.
Alle diese Ketzer haben den Dualismus (latein. duo: zwei) der offiziellen Religion aufgrund ihrer Lebensunmittelbarkeit oder ihrer gedanklichen Vertiefung in die Wirklichkeit in sich selbst überwunden. Für sie war der Gedanke nicht nachvollziehbar, das Sein sei nicht eines und identisch mit sich selbst, sondern könne in zwei nicht ebenbürtige Hälften (Gott die eine, Welt und Mensch die andere) aufgeteilt werden. Die mechanistische, schubladenhafte Aufspaltung des Seins in einen absoluten, göttlichen Bereich und einen allseits bedingten, abhängigen weltlichen Bereich widersprach nicht nur ihrer mystischen Erfahrung von der Einheit der Wirklichkeit; sie widersprach auch der Einsicht des Verstandes: Es war ihnen unmöglich, das Sein als etwas Zweifaches zu denken, das heißt ein wesenhaftes, ursachloses erstes Sein anzunehmen, das dann ein anderes Sein oder Seiendes als wesensverschieden von sich selbst setzen sollte.
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Treffend hat Hunke "Europas andere Religion" in ihrer Vielfalt charakterisiert:
"Ob sie mit Eckhart von Gottes Grund oder mit Teilhard vom Göttlichen Bereich, mit Böhme vom Ungrund oder der großen Tiefe überall, mit Shaftesbury vom göttlichen Weltgrund oder mit Anaximander vom Weltschoß und Urgrund, dem Unbegrenzten spricht, ob sie es mit Schleiermacher das Unendliche nennt oder mit Bruno die unendliche Allgegenwart, mit Heinrich von Berg das Allerwirklichste, mit Herder die Ur- und Allkraft, das tiefste Sein alles Seins, ob es bei Kant als alle Naturen durchwaltende Bestrebung auftritt, im Angelsächsischen als gewif, als das große Gewebe des Schicksalsteppichs, oder als Weltordnung oder Weltgesetz bei Heraklit und der Stoa, bei Goethe als das Eine, das sich vielfach offenbart, und bei den Unitariern als All-Einheit, ob sie es als das Unerforschliche verehrt oder Szczesny es als die unbegreifliche, aber von uns immer mitzudenkende und immer mit im Spiel befindliche Dimension bezeichnet, Henry More als die vierte Dimension, Rilke als Weltinnenraum, als Sein oder das Ganze, Nikolaus von Kues als aller Dinge Wesensgrund, Mittelpunkt und unendlicher Umfang und Friedrich Scholl als Wirkgrund aller Wirklichkeit, die beide eine ganzheitliche Wirkeinheit darstellen, die nur als Vollzug geschieht: sie alle, Stimmen aus tausend Generationen unseres Kontinents... meinen dasselbe: Es gibt nur ein Sein... Niemals können wir darum aus dem Göttlichen herausfallen, das uns 'unablöslich'... umhüllt und durchlebt, wie es unaufhörlich auch 'unsere Wirklichkeit' in Gestirnen und Atomen durchwirkt, die ja als sichtbare Endlichkeitsform der unendlichen göttlichen Wirklichkeit um nichts weniger... wirklich ist als das Ganze, die Gesamtwirklichkeit! Denn sie selbst ist es ja, nur in anderer Seinsweise!"
Aus der dargestellten Vielfalt der Bezeichnungen für das Eine wird deutlich, daß die Religion der Einheit keine Bindung an bestimmte Lehrmeinungen kennt, also "undogmatisch" ist. Sie läßt vielmehr ihren Anhängern freien Spielraum in der Deutung und Aussage ihres persönlichen religiösen Erlebens und Denkens; sie ist eine "freie Religion".
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In der Regel verbindet sie sich mit einer humanistischen Weltanschauung (vgl. 1.3.4) und entwickelt im Einklang mit ihr eine humanistische Ethik. Im heutigen Europa gehören weite Kreise naturverbundener Menschen und viele ökologisch Interessierte aller Völker zu den Anhängern einer solchen religiösweltanschaulichen Lebensauffassung; das zeigt jede in dieser Hinsicht prüfende Durchsicht der Literatur und der Massenmedien. Es gibt jedoch auch eine Anzahl gesellschaftlicher Gruppen, die diese Anschauungen pflegen und in ihrem Sinne tätig werden. Zu ihnen gehören die religiösen Gemeinschaften, die sich "unitarisch" nennen: in der Bundesrepublik Deutschland neben der Religionsgemeinschaft Deutsche Unitarier auch die Unitarische Freie Religionsgemeinde; ferner Unitarische Kirchen in Großbritannien, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Rumänien. Unter anderen Bezeichnungen finden sich ähnlich denkende Vereinigungen in Nordirland, in Schweden, in den Niederlanden, in der Schweiz, in Frankreich, in Österreich und auch in der Bundesrepublik. Die meisten von ihnen gehören dem Weltbund für Religiöse Freiheit (IARF) an.
2.2 Unsere Erde: Kontinente, Rassen, Religionen
Unser Kontinent Europa ist nur ein kleiner Teil des auf der Erde vorhandenen Festlandes, er nimmt lediglich den fünfzehnten Teil seiner Fläche ein. Das gesamte Festland macht seinerseits nur 29,2 Prozent der Erdoberfläche aus; ihr weit überwiegender Teil ist mit Wasser bedeckt.
Ehe wir uns den anderen Festlandsgebieten zuwenden, wollen wir uns ins Gedächtnis rufen, welche bedeutsame Rolle die Weltmeere für das Dasein auf der Erde spielen. In ihnen ist das Leben entstanden und hat erstmals seinen Gestaltenreichtum entfaltet; sie haben entscheidenden Anteil am Wasserhaushalt und am Klima der Erde; sie tragen wesentlich zur Ernährung der Menschheit und zu ihrer weiteren Versorgung mit Rohstoffen bei.
Kontinente und Ozeane sind die Oberfläche der verhältnismäßig dünnen Rindenschicht der Erdkugel, der "Erdkruste". Ihre Stärke wird auf 35 bis 60 Kilometer geschätzt, während der Erdhalbmesser im Durchschnitt etwa 6367 Kilometer beträgt. Das unter der Kruste liegende Erdinnere ist nicht genau erforscht und auch schwer erforschbar; aus ihm kommen in Form von Vulkanismus und Erdbeben Kräfte, die manchmal mit großer Gewalt in das Dasein der Menschen eingreifen.
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2.2.1 Die außereuropäischen Kontinente
Die Einteilung der Kontinente, die zusammen mit Europa die Landoberfläche der Erde bilden, ist nicht ganz einheitlich. Man spricht entweder von sieben Erdteilen: Afrika, Asien, Europa, Nordamerika, Südamerika, Australien und Ozeanien, Antarktis; oder von fünf Erdteilen, indem man das eurasische Festland und den Doppelkontinent Amerika als jeweils nur einen Erdteil angibt.
Von diesen Kontinenten ist Asien mit einer Fläche von 44,4 Millionen Quadratkilometern, also etwa 30 Prozent der gesamten Landfläche der Erde, der größte. Ihm folgt größenmäßig der durch die Festlandsbrücke von Mittelamerika verbundene nord-südamerikanische Doppelkontinent mit etwa 42,1 Millionen Quadratkilometern oder 28 Prozent der Landfläche der Erde. Drittgrößter Kontinent ist Afrika mit 30,3 Millionen Quadratkilometern oder etwa 20 Prozent des Festlandes der Erde. Die drei kleinsten Erdteile: die Antarktis, der Erdteil am Südpol (etwa 13,5 Millionen Quadratkilometer), Europa (rund 10 Millionen Quadratkilometer) und Australien (etwa 8,5 Millionen Quadratkilometer) stellen den Rest der Landfläche unserer Erdkugel dar (22 Prozent).
Die Bevölkerung aller Kontinente umfaßte nach einer Erhebung der Vereinten Nationen von 1977 die Zahl von 4,124 Milliarden Menschen; dazu kam damals ein täglicher Zuwachs von 200.000 Menschen.
2.2.2 Völker, Rassen und Kulturen auf dem Erdball
Asien ist nicht nur flächenmäßig der größte Erdteil. Ihn bewohnen auch die meisten Menschen (etwa 2,4 Milliarden oder 3/5 aller Erdbewohner). In 35 Staaten gestaltet sich das politische Leben der Asiaten. Oft leben verschiedene Völker und Rassen in ein und demselben Staat zusammen.
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Nur einige Völker Asiens seien hier aufgezählt, um einen wenigstens oberflächlichen Eindruck von ihrer großen Anzahl und Verschiedenheit zu vermitteln: Japaner, Chinesen, Koreaner, Mongolen, Mandschu, Thai, Birmanen, Drawiden, Inder, Perser, Afghanen, Araber, Jakuten. Unter den Rassen Asiens, die mannigfaltige Verbindungen miteinander eingegangen sind, ist vor allem die mongolide zu nennen, weil ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Asiens der bei weitem größte ist. Zu den Mongoliden gehören Chinesen, Japaner, Koreaner, Mongolen, Mandschu und andere. Von ihnen stellen allein die Chinesen mit etwa 900 Millionen Menschen weit mehr als den dritten Teil der Gesamtbevölkerung Asiens.
Äußere Kennzeichen des mongoliden Rassentyps: runde Schädelform, dickes, straffes, schwarzes Haar, gelbliche bis bräunliche Haut, schlitzförmige Augen, flache, kurze Nasen.
Das kulturelle Gefälle Asiens ist außerordentlich stark. Es gab und gibt sehr hohe Kulturen neben primitiven, die räumlich oft einträchtig nebeneinander existieren, wie das vor allem in Indien der Fall ist. Die großen, frühen Kulturen der Antike entstanden in Vorderasien: die Kulturreiche der Assyrer, Babylonier, Meder und Perser. In China bestand eine hochstehende Kultur, lange bevor in Europa die Lichter einer höheren Kultur angingen. Auch der im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entstandene, arabische Islam entwickelte sich zu einer imposanten Kulturbewegung, die in Algebra, Medizin, Architektur und durch Rettung der Schriften der griechischen Klassik Europa viele wichtige Anregungen vermittelte. Trotz der massiven Kolonialpolitik der Europäer im 18. und 19. Jahrhundert bewahrten die asiatischen Völker im allgemeinen ihre kulturelle Eigenart. Das gilt in gewissem Maße auch für die Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem Kommunismus, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Staaten Asiens durchsetzte. Die Konflikte etwa zwischen dem sowjetrussischen und dem chinesischen Kommunismus gehen, neben anderen Gründen, mit Sicherheit auch auf tiefgreifende kulturelle Unterschiede zwischen dem russischen und dem chinesischen Volk zurück.
Auf dem nordamerikanischen (Sub-)Kontinent mit einer Gesamtfläche von etwa 22 Millionen Quadratkilometern und rund 245 Millionen Einwohnern lebt nur noch ein verschwindend kleiner Prozentsatz von Indianern. Ihre Vorfahren waren einst Alleineigentümer dieses gewaltigen Landes, ehe vor etwa 500 Jahren die europäischen Entdecker und Eroberer nach Nordamerika kamen.
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Deren Nachfahren und spätere europäische Einwanderer stellen heute 86 Prozent der Gesamtbevölkerung Nordamerikas, der Anteil der Indianer beträgt nur noch 0,5 Prozent. Mit den Weißen kamen zahlreiche Elemente der europäisch-abendländischen Kultur und Zivilisation nach Nordamerika, oft freilich in starker Vergröberung, Verzerrung, Übersteigerung und Entartung. Die nordamerikanischen Indianer gehören ebenso wie die im hohen Norden dieses Subkontinents lebenden Eskimos dem mongoliden Rassentyp an. Indianer wie Eskimos wanderten vermutlich über die Beringstraße von Asien her ein. Sie bildeten eine ziemlich einfache, naturnahe Kultur in der ursprünglichen Wildnis Nordamerikas aus, im Gegensatz etwa zu den Indianern Mittelamerikas, wo unter anderem die Azteken und Maya eine sehr hochstehende Kultur und Zivilisation errichtet hatten, ehe die Europäer dort eindrangen.
In Nordamerika machen die Schwarzen 8 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ihre Vorfahren wurden aus Afrika als Sklaven nach Nordamerika gebracht. Die heutige Besinnung der Neger Nordamerikas auf die furchtbaren Methoden, die dabei angewandt worden waren, trägt mit dazu bei, daß sie in den USA noch immer kein vollwertig eingebürgerter Bestandteil der Bevölkerung sind. Den Eingliederungsvorgang erschwert auch die wirtschaftliche und bildungsmäßige Benachteiligung der schwarzen Bevölkerungsschicht. Sprachlich stellt sich der nordamerikanische Kontinent recht einheitlich dar. In Kanada und den USA wird englisch gesprochen, in einigen größeren Sprachinseln Kanadas französisch.
Auf dem südamerikanischen (Sub-)Kontinent mit einer Fläche von etwa 18 Millionen Quadratkilometern wohnen rund 330 Millionen Menschen (mit Mittelamerika). Hier konnte sich die indianische Urbevölkerung, die sogenannten Indios, besser behaupten als auf dem nördlichen Subkontinent. Etwa 10 Millionen Indios leben in Südamerika. Auch dieser Subkontinent erlebte die Invasion des weißen Mannes. Doch waren es hier vorwiegend Spanier und Portugiesen, die seit dem 16. Jahrhundert ihre Kolonialherrschaft aufrichteten.
Im Unterschied zu Nordamerika bestanden in Mittel- und Südamerika bereits lange vor dem Eintreffen der Europäer blühende Hochkulturen: in Mexiko die Kultur der Azteken (Zeichen ihrer Kultur: Schriftzeichen, Zeitrechnung, Tempelpyramiden, Steinpaläste, Papierherstellung usw.);
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in Guatemala, Honduras und auf der Halbinsel Yukatan die Kultur der Maya, die höchststehende Kultur der vorkolumbianischen Zeit Amerikas überhaupt, deren Anhänger den Spaniern 150 Jahre lang erbitterten Widerstand entgegensetzten; in Bolivien und Peru die Kultur der Inka (hervorragende Leistungen: künstliche Bewässerungsanlagen, dem Sonnenkult gewidmete Tempelanlagen, herrliche Paläste, kollektive Landwirtschaft, zentrale Regierung, perfekt gebaute Straßen, militärische Stützpunkte, schnelle Nachrichtenübermittlung durch Stafettenläufer).
Spanier und Portugiesen, die neuen Herren Südamerikas, vermischten sich im Laufe der Zeit teilweise sehr stark mit Indios und Negern (Mischlingstypen: Mestizen, Mulatten, Zambos). Anfang des 19. Jahrhunderts begann der Kampf gegen die Kolonialherrschaft Spaniens und Portugals. Sein Ergebnis war die Herausbildung von elf unabhängigen südamerikanischen Staaten, von denen der größte Brasilien, der kleinste Guyana ist. Politisch und sozial sind diese Staaten aber keineswegs gefestigt. Die Armut breitester Schichten steht dem selbstherrlichen Reichtum einiger weniger, vor allem der Besitzer von riesigen Ländereien, zu kraß gegenüber. So entstehen immer wieder Revolutionen und Militärdiktaturen. Der Katholizismus als die einheitliche offizielle Konfession dieses Erdteils, der Arme wie Reiche angehören, hat jahrhundertelang gegen die zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten nichts unternommen. Unter anderem wegen dieses "katholischen Einheitscharakters« umfaßt man ganz Südamerika, Mittelamerika und die Inseln der Karibik in kultureller Hinsicht durch den Begriff "Lateinamerika". In ganz Mittel- und Südamerika spricht man spanisch. Ausnahmen bilden lediglich Brasilien, wo portugiesisch, Guyana, wo englisch, Französisch-Guayana, wo französisch, und Surinam, wo niederländisch gesprochen wird.
Der gewaltige Kontinent Afrika hat nur etwa 428 Millionen Einwohner (10 Prozent der Gesamtbevölkerung der Erde). Aber auch er stellt im Hinblick auf Völker, Rassen und Kulturen keineswegs ein einheitliches Gebilde dar. Im Norden Afrikas, nördlich der Sahara, leben vor allem Araber, Berber und Beduinen. Sie bekennen sich in der Mehrzahl zum Islam. Etwa fünf Millionen Weiße, die bzw. deren Vorfahren aus Europa einwanderten, leben in Afrika, die Mehrzahl in Südafrika, das heute von heftigen Rassenunruhen geschüttelt wird.
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Als weitere Einwanderergruppe sind etwa 0,5 Millionen Asiaten, vornehmlich Inder, zu vermerken. Drei Viertel der Bevölkerung Afrikas aber sind Neger, die auch als die eigentlichen Eingeborenen dieses Erdteils zu gelten haben, freilich neben den Zwergvölkern der Pygmäen und den Buschmännern, die hier ebenso seit unvordenklichen Zeiten leben. Das Leben der drei zuletzt genannten Gruppen ist noch überwiegend von der Stammesstruktur (Stämme, Unterstämme mit teilweise sehr stark voneinander abweichendem kulturellen Sondergut und verschiedenen Dialekten) und von Stammesreligionen geprägt. Sie betätigen sich als Sammler, Jäger, Viehzüchter, Hackbauern und Handwerker. Die Neger allerdings werden in zunehmendem Maße Industriearbeiter.
Nordafrika war in der Antike der Sitz blühender Kulturen: im fruchtbaren Niltal herrschten die Pharaonen; außerdem war Karthago ein großes Handels- und Kulturzentrum, ehe es von den Römern zerstört, allerdings unter Cäsar und Augustus auch wieder aufgebaut wurde. Einen traurigen Posten in der Geschichte Afrikas zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert stellt der Sklavenhandel dar. Etwa 14 Millionen Neger wurden von weißen Händlern und Kaufleuten nach Nord- und Südamerika verschleppt. Besonders im 19. Jahrhundert war Afrika der Tummelplatz der Machtinteressen europäischer Staaten.
Diese besondere Kolonisationsepoche führte dazu, daß der schwarze Erdteil kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch restlos zwischen europäischen Staaten (Frankreich, Großbritannien, Belgien, Deutschland, Spanien, Portugal) aufgeteilt war. Dieser Zustand währte bis in die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts. Er war dafür verantwortlich, daß zum Teil extrem-fanatische, der europäischen Kultur feindliche Widerstandsbewegungen der Schwarzafrikaner entstanden. Heute haben aufgrund dieser Bewegungen fast alle Kolonialmächte auf dem afrikanischen Kontinent ausgespielt. Die meisten Länder Afrikas sind selbständige, von ihren früheren Kolonialherren nicht mehr abhängige Staaten.
Der kleinste Erdteil, Australien, beherbergt etwa 15 Millionen Einwohner. Es ist der Erdteil, der staatlich-politisch der einheitlichste ist, weil er nur einen Staat herausgebildet hat: den australischen Bundesstaat, bestehend aus den Bundesländern Neusüdwales, Queensland, Südaustralien, Tasmanien, Victoria und Westaustralien.
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Das Kuriose an der parlamentarisch-monarchistischen Staatsform Australiens ist, daß das Staatsoberhaupt, die englische Königin, in jenem Erdteil residiert, der von allen Kontinenten am weitesten von Australien entfernt ist: in Europa. Ein Generalgouverneur vertritt sie in Australien. Diese Kuriosität hängt mit der Geschichte Australiens zusammen. 1770 nahm der britische Kapitän James Cook den den Europäern weitgehend unbekannten Erdteil für die englische Krone in Besitz. Zunächst hatte Australien für die Briten lediglich die Funktion einer Strafkolonie.
Von 1788 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Transporte mit britischen Sträflingen nach Australien geschickt. Doch seit Beginn des 19. Jahrhunderts kamen auch freie Einwanderer, die unter anderem durch Goldfunde in Neusüdwales und Victoria angelockt wurden. 1901 wurde Australien als "Commonwealth of Australia" ein unabhängiger Staat mit einer einheitlichen Zentralregierung und Englisch als Staatssprache. Allein nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten mehr als zwei Millionen Europäer nach Australien aus. Den größten Anteil an der Bevölkerung stellen Menschen europäischer, vor allem britischer Herkunft. Dazu kommen als Einwanderergruppen etwa 10.000 Asiaten.
Die etwa 40-50000 Australiden, die Urbevölkerung dieses Erdteils, leben heute vornehmlich in Reservaten; ihre Zahl war früher weit höher. Zur Zeit der Entdeckung Australiens durch den Holländer Abel Tasman im 17. Jahrhundert lebten sie auf dem Kulturniveau von Steinzeitmenschen in Sippenverbänden zusammen. Auch heute betätigen sich noch viele von ihnen als Wildbeuter mit Bumerang, Keule, Schild und Speer. Sie sind dunkelhäutig, hochgewachsen mit fliehender Stirn, kurzen, breiten Nasen und starken Augenbrauenbogen.
Zum Erdteil Australien werden auch noch die Inseln Neuseeland und Neuguinea sowie die ozeanischen Inselgruppen mit zusammen rund 7 Millionen Einwohnern gerechnet.
Die Antarktis, die eisbedeckten Land- und Meergebiete um den Südpol, wurden von dem schon erwähnten britischen Entdeckerkapitän James Cook zwischen 1772 und 1775 wohl als erstem Europäer umsegelt, ohne daß er das Kernland erreicht hätte. Sie sind wegen der extremen Minus-Temperaturen (Winterdurchschnitt -37 Grad Celsius, Sommerdurchschnitt zwischen -1 und -10 Grad Celsius) kein Siedlungsgebiet für Menschen. Sie weisen daher auch keine Urbevölkerung auf.
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2.2.3 Die großen Religionen der Erde
Alle Weltreligionen (A) haben ihren Ursprungsort auf dem asiatischen Kontinent: In Vorderasien entstanden Judentum, Christentum und Islam; in China und Japan Konfuzianismus, Taoismus und Schintoismus; in Indien Hinduismus und Buddhismus.
Das Christentum haben wir im Zusammenhang mit dem Kontinent Europa bereits eingehend besprochen (vgl. 2.1.4). Es ist heute über die ganze Erde verbreitet: In Afrika leben etwa 90 Millionen Christen, in Asien rund 80 Millionen, in Europa, Amerika und Australien bekennt sich die Mehrheit der Menschen dazu. Freilich ist damit nichts über die Ernsthaftigkeit des Glaubens dieser Menschen ausgesagt. Zweifellos gilt für viele von ihnen, daß sie nur "Taufschein-Christen" sind und daß der Begründer des Christentums, Jesus, für sie keinerlei maßgebende Lebensbedeutung mehr hat. Insgesamt gibt man heute die Zahl der Christen auf der Erde mit über 1,1 Milliarden an. Sie gehören verschiedenen, teilweise recht unterschiedlich glaubenden und sich befehdenden christlichen Kirchen bzw. Konfessionen und Sekten an. Es ist nahezu unmöglich, die Zugehörigkeit zu ihnen statistisch genau zu erfassen. Annäherungsweise kann man sagen, daß etwa 700 Millionen Christen der römisch-katholischen Kirche angehören, etwa 330 Millionen sind Protestanten oder Anglikaner, rund 90 Millionen sind den orthodoxen und orientalischen Kirchen und etwa 25-30 Millionen verschiedenen Sekten und Gruppen zuzurechnen. Die »ökumenische Bewegung«, der die größte christliche Konfession, die katholische Kirche, allerdings offiziell nicht angehört, ist die Bestrebung, einen Einheitsnenner zu finden, auf den sich alle christlichen Konfessionen verpflichten könnten.
Dem Judentum, aus einer einfachen Stammesreligion erwachsen und durch eine uneinheitliche Entwicklung zu immer höheren Religionsformen gekennzeichnet, gehören ungefähr 14 Millionen Menschen an. Etwa ein Viertel von ihnen lebt in Palästina mit der für sie heiligen Hauptstadt Jerusalem, die anderen in den verschiedensten Staaten der Erde, vor allem in den USA. Die jüdische Religion ist eine Schriftreligion. Das Alte Testament (eine etwas abwertende Bezeichnung der Christen, die ihre heiligen Schriften "das Neue Testament" nennen) und der Talmud sind für sie maßgebend.
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Aus dem recht umfangreichen Schrifttum des Alten Testaments ist es vor allem die Thora, die fünf Bücher ihres Gottesoffenbarers, Propheten, Priesters, Führers und Gesetzgebers Moses, in der die Gebote und Kultverrichtungen enthalten sind, die der "Gerechte" einhalten soll. Der gläubige Teil der Juden, einig in der Ablehnung Jesu, erwartet noch immer den Messias, der Gottes Königreich auf Erden für das auserwählte jüdische Volk errichten soll.
Zum Islam (wörtlich: Hingabe an Gott) bekennen sich wahrscheinlich heute rund 600 Millionen Menschen. Sie setzen sich zusammen aus arabischen Muslimen (rund 100 Millionen), indo-arischen Moslems (im Iran, in Afghanistan, Pakistan, Indien und Bangladesch: rund 250 Millionen), ostasiatischen Muselmanen (in Indonesien, China, Malaysia und auf den Philippinen: rund 140 Millionen), Türken und UdSSR-Moslems (rund 70 Millionen), Schwarzafrikanern (rund 30 Millionen) und Berbern (d.h. nichtarabischen Nordafrikanern, rund 6 Millionen).
Auch in der Bundesrepublik, in Frankreich, Jugoslawien und anderen Staaten Europas leben Anhänger des Islam; in der Bundesrepublik 1,4 Millionen, in Jugoslawien etwa 2 Millionen, in Frankreich 300 000. Diese Religion geht auf Leben und Lehre ihres Stifters Mohammed (570 bis 632 unserer Zeitrechnung) zurück. Er wird als letzter großer Prophet des Gottes Allah nach einer langen Reihe anderer Propheten (unter anderem Abraham, Moses und Jesus) verehrt. Damit ist schon angedeutet, daß Mohammed viele Elemente seiner Lehre aus den beiden anderen monotheistischen (Monotheismus: Eingottglaube) Religionen, dem Judentum und dem Christentum, entlehnt hat. Gott hat aber im Islam im allgemeinen strengere Züge als im Christentum und im Judentum. Er ist im großen und ganzen gesehen nur Gesetzesgott, kein Gnadengott. Gegenüber dem ehernen Willen Allahs, der alles unabänderlich und unausweichlich vorherbestimmt, ist nur die liebende Hingabe an ihn und die Ergebung in seinen Willen möglich.
Gesetze, teilweise recht äußerliche, sind auch der Maßstab des Religiösen im Islam. Die genau einzuhaltenden Hauptpflichten des Gläubigen lauten: 1. der Glaube an den Lehrsatz: "Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet!"; 2. das fünfmal am Tag zu verrichtende Gebet; 3. das Almosen-Geben; 4. das Fasten während des Monats Ramadan (das ist der 9. Monat des islamischen Mondjahres von 254 Tagen); 5. die mindestens einmal im Leben zu unternehmende Wallfahrt nach Mekka, dem Geburtsort Mohammeds.
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Das heilige Buch des Islam ist der Koran. Die 78.000 Worte, aus denen er besteht, werden von den Moslems als Niederschrift der Offenbarungen Allahs an Mohammed geglaubt, der sie in Visionen empfing.
Auch die Mohammedaner sind untereinander gespalten. Aufgrund der Streitigkeiten um die rechtmäßige Nachfolge Mohammeds entstanden die beiden wichtigsten islamischen Religionsgruppen: die Sunniten (sunna: Gewohnheit) und die Schiiten (schia: Partei).
Zu den ersteren gehört die überwiegende Mehrheit der Moslems. Der Islam vertritt eine intolerante Staatstheologie: Religion kann nicht Privatsache, der Staat nicht weltanschaulich neutral sein. "Die Vorstellung von der Trennung zwischen Religion und Staat in dem Sinne, daß die Beziehungen zwischen dem Gläubigen und seinem Gott durch die Religion geregelt werden, Staatsform und Verwaltung aber davon losgelöst und von menschlichem Gutdünken abhängig seien, ist dem islamischen Denken völlig fremd. Denn die Freiheit des Menschen, nach Belieben über diese Dinge zu entscheiden, führt zu Nichtigkeit und Übel" (der amtierende Scheich der Azhar-Universität in Kairo, der Hochburg des Islam, Dr. Abdel Mori'im Nimo). Hier wird man an — teilweise auch heute noch in Europa bestehende — staatskirchliche Verhältnisse des christlichen Mittelalters erinnert. Auch die fehlende Gleichberechtigung der Frau und grausame Strafen in manchen islamischen Staaten (Todesstrafe durch Steinigung für Ehebrecher, Hand- oder Fußabhacken bei Diebstahl, Auspeitschen bei Alkoholgenuß) muten mittelalterlich-rückständig an.
Der Konfuzianismus zählt etwa 200 Millionen Anhänger in China, doch ist diese Zahl sehr unsicher. Sein Begründer ist K'ung-fu-tsi (latinisiert Konfuzius), der von 551 bis 479 vor unserer Zeitrechnung gelebt hat. Er war eher ein Philosoph der Ethik denn ein Religionsstifter. An der Existenz der Götter, Geister und Dämonen der altchinesischen Religion rüttelte er zwar nicht, aber sie hatte praktisch keine begründende Bedeutung für seine fast ausschließlich innerweltliche Ethik. Im Mittelpunkt derselben steht die Pietät (hsiao), womit er ungefähr die respektvolle Beziehung und Hinordnung zu den Vorfahren und den Gemeinschaftsformen meinte.
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Die Grundhaltung der Pietät verwirklicht sich in den fünf wesentlichen Beziehungen des Menschen:
1. die Güte des Fürsten — die Loyalität des Untertanen;
2. die Liebe des Vaters — die Anerkennung durch den Sohn;
3. das Wohlwollen des Älteren — die Ehrfurcht des Jüngeren;
4. die Gerechtigkeit des Mannes — der Gehorsam der Frau;
5. die Treue des Freundes — das Vergelten des Freundes.
Im Zusammenhang damit verlangt Konfuzius auch die Pflege der fünf alten chinesischen Tugenden: Humanität (Jen), Rechtschaffenheit (i), Sinn für das Passende (li), Wahrheit (hsin) und Weisheit (chi). Die goldene Grundregel für alle Beziehungen zwischen den Menschen, insbesondere auch für den Umgang zwischen Herrscher und Volk, ist das sogenannte Gegenseitigkeitsgesetz des Konfuzius: "Was er nicht will, daß ihm getan werde, tut er auch den anderen nicht."
Die Lehre des Konfuzius wurde etwa 200 vor unserer Zeitrechnung zur chinesischen Staatslehre erhoben. An seinem Grabe brachte man Opfer dar, im Jahr 1008 unserer Zeitrechnung erhielt Konfuzius den Titel des zu verehrenden "vollkommenen Weisen", 1906 den obersten Götterrang. Er genoß nun in vielen, ihm geweihten Tempeln höchste Verehrung neben den Gottheiten des Himmels und der Erde. Praktisch bis zur Umwandlung Kontinentalchinas in einen kommunistischen Staat war der Konfuzianismus Staatsreligion. Allerdings hat der übliche Konfuzianismus des einfachen chinesischen Volkes mit seinem Geister- und Dämonenglauben sowie mit seinem magischen Ahnenkult nur noch wenig mit der kühlen Weisheitslehre seines Meisters gemein.
Eine weitere Religion Chinas ist der Taoismus, der etwa 50 Millionen Anhänger haben dürfte. Er ist heute eine derartige Mischreligion, daß er sich kaum mehr angemessen beschreiben läßt. Mythisches, Magisches, Mystisches, religiös verbrämte Zauberei, naturalistischer Götter- und massiver Dämonenglaube, Weihungen und Beschwörungen durch Taoistenpriester bilden zusammen eine Mischung, aus der sich jeder holen kann, was er für sein religiöses Bedürfnis braucht. Dabei war gerade der Taoismus ursprünglich eine sehr hochstehende, mystisch-ethische Weisheitslehre. Sein Urheber soll Laotse gewesen sein, den aber viele Religionswissenschaftler für eine legendäre Gestalt halten. Er soll in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung gelebt haben.
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Die klassische heilige Schrift der philosophischen Richtung des Taoismus ist das Tao-te-king, das Buch vom Wege (Tao) und seiner Kraft (Te). Tao meint sehr viel mehr, als das, was der Abendländer unter Weg versteht. Es ist Richtschnur des Lebens, Lebens-, ja Weltgesetz; als solches aber nicht nur eine Idee, ein idealer Maßstab, sondern oberste und umfassendste Wirklichkeit, aus der dann erst alle Gegensätze und deren höchster, der Gegensatz von Himmel und Hölle, als Erscheinungsformen des Tao entstehen. Tao wirkt in allem als höchstes Gesetz und eigentliche Wirklichkeit; jedes Ding, jedes Geschehen, sei es gut oder böse, mündet wieder in das Tao. Es ist die ruhig-friedvolle Einheit über den Gegensätzen. Es wirkt nicht durch Krampf, Anspannung, Aktivität, vielmehr bewirkt es alles durch "Nicht-Wirken" (wu wei). Daher sollen auch die Hauptideale des ethischen Lebensgesetzes des Menschen Gelassenheit, Stille, Natürlichkeit, Güte, Demut, Tiefe, Wahrhaftigkeit, Spontaneität, Freiheit und keinerlei Schielen auf Lohn für ethische Verdienste sein. Wer auf diese Weise im Einklang mit dem namenlosen, unnennbaren, aber alles ordnenden Tao steht, dem fließen außerordentliche Kräfte (Te) zu.
Der Schintoismus ist die Nationalreligion der Japaner. Rund 65 Millionen von ihnen bekennen sich zu ihr. Shinto ist das japanische Lehnwort für das chinesische shen-tao (Weg der Geister). Die wörtliche Bedeutung von shinto kann den Abendländer täuschen, denn in Wirklichkeit ist diese Religion eine diesseitige, und selbst die Geister der Verstorbenen gehören in den diesseitigen Lebens- und Weltzusammenhang organisch hinein. Sie sind geradezu physisch gegenwärtig und nehmen ständig am Leben der noch Lebenden teil. Auch heute noch opfert man ihnen materielle Gaben: Fisch, Seetang, Reis und Reiswein, sowie alle möglichen nützlichen Gegenstände. Und das Kaiserhaus geht dabei mit gutem Beispiel voran, indem es auf dem Grab des kaiserlichen Stammvaters derartige Opfer darbringt. Schintoismus ist gelebte und erlebte Gemeinschaft mit dem Land, der Natur (ihren Tieren, Pflanzen, Flüssen, Seen, Bäumen und Blumen), der Familie, dem Wohnort und dem Staat. Dementsprechend gibt es drei Arten von Schinto-Kult: 1. den Familienkult (Verehrung der Gedächtnistafeln der Verstorbenen usw.); 2. den Dorfkult, der Uji-gami, dem Ortsgott, gewidmet ist; 3. den Staatskult, der den Göttern des japanischen Reiches und den Vorfahren des Kaisers gilt.
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Die japanische Volkseinheit wird durch den Kaiser symbolisiert und verkörpert. Selbst die japanische Kapitulation von 1945 vermochte an der Stellung des Kaisers innerhalb der Schinto-Religion nicht viel zu ändern. Staat und Religion wurden zwar auf Befehl der Alliierten voneinander getrennt, aber die Verbindung zwischen Schintoismus, Volk und Kaiser blieb bestehen. Grundprinzip der Schinto-Moral sind dementsprechend Liebe und Hingabe an Familie, Volk, Vaterland. Daher werden auch die Tugenden der Ritter, der Samurai, hochgeschätzt: Ehre, Selbstbeherrschung, Pflichterfüllung, Todesverachtung.
Mehr als vier Fünftel der Inder, etwa 500 Millionen, gehören dem Hinduismus an. Diese Religion ist fast noch schwerer zu beschreiben als der Taoismus. Ihr Ursprung liegt im Dunkel. In den Jahrtausenden ihres Bestehens machte sie zahlreiche Wandlungen durch und nahm eine Vielzahl von Einflüssen auf. Schon die Stammesreligionen der indischen Urbevölkerung, der Drawiden, färbten auf sie ab, dann wurde sie vom Götterhimmel der im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung eindringenden Eroberer, der Arier, bevölkert. Später kamen buddhistische, islamische und christliche Einflüsse hinzu. Ihre Hereinnahme in das eigene System empfindet der Hindu als etwas Natürliches, da er davon ausgeht, daß alle Religionen nur verschiedenartige Zugänge oder Aspekte der einen göttlichen Wahrheit sind.
Aufgrund seiner Toleranz vermag der Hinduismus im Rahmen seines eigenen Systems die verschiedensten Entwicklungsstufen der Religion und ihre mannigfaltigsten Erscheinungsformen, primitive wie verfeinerte, nebeneinander stehen- und bestehen zu lassen, ohne sie in Bezug auf einen höchsten religiösen Wert unbedingt rangmäßig einstufen zu müssen. Als vielgestaltiges Mosaik aller möglichen Religionsformen steht der Hinduismus jedenfalls einzig da. Es gibt hinsichtlich der Lehre und des Kults nicht die hinduistische Religion, sondern eine erdrückende Vielheit von ihnen. Man hat daher den Hinduismus "eine Enzyklopädie der gesamten Religionsgeschichte" (H. von Glasenapp) genannt. So ist es nur folgerichtig, daß man im Grunde nicht deshalb Hindu ist, weil man sich zu irgendeiner der vielen voneinander abweichenden Glaubensformen bekennt (ein verbindliches, dogmatisches Glaubensgerüst gibt es hier nicht); man ist vielmehr Hindu, weil man zum indischen Kastensystem gehört.
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Diese Kastenordnung ist schwer darstellbar. Die dem gebildeten Europäer fast ausschließlich bekannte, feste und starre Kasteneinteilung in Brahmanen (Priester), Kschatrijas Krieger, Adel), Waischjas (Bauern, Kaufleute, Handwerker) und Schudras (Arbeiter) ist lediglich eine vereinfachte und idealisierte Einteilungskonstruktion der hinduistischen Gesellschaft. Sie berücksichtigt weder die in die Tausende gehenden Untergliederungen der Kasten noch die heute sich ententwickelnden Kastenverbindungen noch die zahlenmäßig so gewaltige Gruppe der Parias, der sogenannten Unberührbaren, die als Schicht unterhalb der Kastenordnung fast keine Rechte haben, obwohl ihnen die indische Verfassung von 1950 die Gleichberechtigung zubilligt.
Auch von charakteristischen Merkmalen der Hindu-Religion sollte man nur mit großer Vorsicht sprechen. Es gibt — was den Gottesglauben betrifft — Polytheisten, Pantheisten und Monotheisten (A) unter den Hindus. Der gebildete Hindu sieht allerdings im Eingottglauben nur eine naive Vorstufe der eigentlichen Gotteserkenntnis, der die Einheit von atman und brahman, von Einzel- und Weltseele, aufgegangen ist. Es sind auch vor allem Angehörige der oberen Kasten, die an das Karma-Gesetz und die Seelenwanderung glauben. Dieses Gesetz besagt, daß das Karma, die Werke und Handlungen eines Menschen im Laufe seines ganzen Lebens, in seiner guten oder schlechten Qualität darüber entscheidet, welche Daseinsform man nach der Wiedergeburt zu einem neuen Leben erhält, ob man als Mensch (und mit welchem sozialen Rang), Geist, Gott, Dämon, Tier, Pflanze oder Stein wiedergeboren wird. Höhere Daseinsformen sind an bessere Formen des Karma gebunden, wobei ein Maßstab dieser besseren Karma-Qualität der Grad der Loslösung von der Welt der Erscheinungen ist.
Die Verwirklichung der Einheit von atman und brahman durch den, der die Welt radikal als Schein durchschaut hat, führt zur Zerreißung der Kette (des "ewigen Rades") der Wiedergeburten, zur Erlösung vom Samsara, der sonst unendlichen Folge von Wiederverkörperungen. Die Methode, die zur Zerreißung der Weltfesseln und zur erlösenden Brahman-Schau führen soll, heißt Yoga. Es gibt die verschiedensten Formen des Yoga, die wir hier nicht behandeln können. Gemeinsam ist ihnen allen das in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes "Yoga" enthaltene "Anschirren" aller Geistes-, Seelen- und Körperkräfte mit dem Ziel der Befreiung vom Einfluß der Außenwelt und der leib-seelischen Innenwelt, um zur Erfahrung der letzten Wahrheit zu gelangen.
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Gerade wegen der den Abendländer so exotisch anmutenden und faszinierenden Yoga-Methoden verzeichnen viele Hindu-Zentren in Europa mannigfachen Zulauf, geben sich verschiedene moderne Jugendreligionen einen wenigstens teilweise hinduistischen Anstrich, pilgern Europäer und Nordamerikaner zu Yoga-Stätten in Indien. Die Missionare des Hinduismus in Europa, die Vertreter der "Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewußtsein" (ISKCON), der "Transzendentalen Meditation", der "Botschaft des göttlichen Lichts" (Divine Light Mission), verschiedene europäisierte Hindu-Schulen des Yoga kehren geschickt jene Elemente der sonst teilweise recht abstoßend wirkenden hinduistischen Mischreligion hervor, für die sich der westliche Mensch besonders empfänglich zeigt, wenn er durch das historische Versagen der christlichen Kirchen, durch die materialistische Zivilisation und durch die kalte Technisierung des Lebens kosmisch und religiös heimatlos geworden ist.
Aber der Abendländer darf nicht vergessen, daß die Verzichthaltung gegenüber der Welt, ihre Abwertung zu einem leidvollen Scheinwesen, wie sie allen südostasiatischen Religionen zugrunde liegt, keine echte Alternative für ihn ist.
Dem Buddhismus dürften etwa 300-400 Millionen Menschen angehören. Die Zahlen schwanken sehr stark — es gibt Religionsstatistiker, die nur mit 200 Millionen Buddhisten rechnen —, weil dem Ostasiaten die strengen konfessionellen Grenzen des Abendlandes unbekannt sind. So ist es durchaus nichts Ungewöhnliches, daß Konfuzianer sich mit der Bitte um Weihungen und Beschwörungen an Taoistenpriester und wegen der Bestattung ihrer Angehörigen an Buddhistenpriester wenden.
Begründer des Buddhismus ist Siddhartha mit dem Familiennamen Gautama, geboren um 560 vor unserer Zeitrechnung in der Stadt Kapilavastu im Magadha-Reich im nordöstlichen Indien. Er wurde später "Buddha" (der Erleuchtete) genannt. Seine Erleuchtung bestand hauptsächlich in der Erkenntnis der sogenannten vier edlen Wahrheiten:
1. Die Wahrheit vom Leiden, das universal sei: Geburt sei Leiden, Leben sei Leiden, Alter sei Leiden, Liebe sei Leiden oder werde dazu.
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2. Die Wahrheit vom Ursprung des Leidens: Es beruhe auf dem Lebensdurst, der Lebensgier. Denn diese Gier, der Egoismus in all seinen Formen, der auch den Hang zu Feindseligkeit, Streit und Haß umfaßt, setzt nach Buddha erst eigentlich diese unsere Erscheinungswelt, die Welt des Scheins, der Täuschung (maya), des Nichtwissens und Leidens. Buddha unterschied zwischen drei Formen des Daseinsdurstes: Durst nach Sinnenlust, nach Werden und nach Vergehen. Beim Durst nach Vergehen ist man an Sigmund Freuds "Todestrieb" erinnert.
3. Die Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Lebensdurst und Lebensgier muß man in sich vernichten. Dann ist auch das ganze Dasein ausgelöscht. Man gelangt zum vollkommenen Frieden, dem Nirwana.
4. Die Wahrheit vom Weg zur Aufhebung des Leidens: Dieser Weg ist der sogenannte edle achtgliedrige Pfad. Er besteht in der rechten Anschauung, der rechten Gesinnung, dem rechten Reden, rechten Tun, rechten Leben, rechten Streben, rechten Überdenken und rechten Sich-Versenken.
Der Weg zum Nirwana kann ohne jede göttliche Hilfe begangen und vollendet werden. Es ist der Weg der Selbsterlösung, den freilich nur jene wenigen gehen können, die in der Lage sind, sich ausschließlich diesem Ziel zu widmen. Die vielen anderen, das buddhistische Volk, die Laien, sollen einfachere Gebote befolgen und durch Hilfe für den Lebensunterhalt der wenigen radikal zum Nirwana Strebenden vielleicht erreichen, daß sie in einer weiteren Wiedergeburt zu diesen wenigen gehören. Man hat diesen Erlösungsweg des Buddha dementsprechend das "kleine Fahrzeug" (Hinayana) genannt, weil er die Erlösung jeweils nur für eine kleine Anzahl radikal zu ihr Hinstrebender vorsieht. Angesichts der religiösen Bedürfnisse der Massen war vorauszusehen, daß es allein bei dieser kühlen atheistischen Selbsterlösungsreligion nicht bleiben würde. Es entstand ein weiterer großer Zweig des Buddhismus, der Mahayana-Buddhismus (Mahayana: das große Fahrzeug), dem zufolge die Erlösung aller Menschen im Laufe eines Daseins grundsätzlich möglich ist. Der Mahayana-Buddhismus ist wieder eine monotheistische bzw. polytheistische Religion, in der die Hauptgottheit der Buddha Gautama Siddhartha ist, daneben aber verschiedene Buddhas für verschiedene Weltzeitalter und zahlreiche helfende Erlösergottheiten (Bodhisattvas) verehrt werden.
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In dieser Form, die auch vorschreibt, daß man sich um das Heil der Mitmenschen mitleidsvoll bemühe, gewann der Buddhismus eine gewaltige Schar von Anhängern, von Tibet über China bis Japan, während der Hinayana-Buddhismus im südlichsten Asien (Birma, Thailand usw.) verbreitet ist. Im Ursprungsland des Buddhismus, in Indien, dagegen ist er vom Hinduismus und Islam weitgehend zurückgedrängt worden.
Eine besondere, heute auch auf Europäer und Nordamerikaner einen eigentümlichen Reiz ausübende Form des Buddhismus ist der in Japan verbreitete Zen-Buddhismus (Zen: Meditation). Meditationstechniken, Intuition und Erleuchtung (satori) dienen hier dem Zweck, das Dasein zu durchschauen, seine Einheit in der Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Erscheinungsweisen zu erkennen sowie der im tiefsten Grunde bestehenden Gleichheit eines Buddha und eines gewöhnlichen Menschen ansichtig zu werden.
Vor wenigen Jahrzehnten haben sich in Japan neue buddhistische Laiengemeinschaften gebildet, in denen auch Einflüsse des Schinto wirksam sind: die sogenannten Lotus-Religionen. Sie sind benannt nach dem Lotus-Sutra, einem Hauptwerk der Mahayana-Literatur, und vor allem ethisch und sozial tätig. Die bedeutendsten, mit mehreren Millionen Anhängern, sind Soka Gakkai (gegründet 1930) und Rissho Koseikai (gegründet 1938). Letztere tritt besonders für den Völkerfrieden ein und arbeitet im Weltbund für Religiöse Freiheit (vgl. 2.1.5) mit.
2.3 Unser Platz im Universum
Immer weiter hat sich unser Denken vorangetastet, hat Grenzen überschritten: Grenzen der sozialen Gruppen, der Staaten, Länder und Kontinente. Jetzt ist es an den Grenzen der Erde angelangt und fragt nach dem Ort unseres Planeten innerhalb noch umfassenderer Größeneinheiten.
Damit stellt sich zugleich eine Frage, die für die Menschheit seit dem Beginn ihres kritischen Denkens bis heute eine wichtige Rolle spielt: die Frage nach dem Platz — und damit auch der Bedeutung — des Menschen im All, im Universum. Welcher Rang dieser Frage für das Selbstverständnis des Menschen zukommt, geht schon aus den Worten hervor, mit denen der Philosoph Immanuel Kant den Aufblick zu den Sternen beurteilt:
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"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und nachhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir".
Wenden wir uns nun dem Bereich der Gestirne zu in der Erkenntnis, daß unser Erdball nur ein Stern unter vielen ist.
2.3.1 Die Erde als Planet
Schon mit dem Wort "Planet" ist über unsere Erde etwas Wesentliches ausgesagt. Im Grunde wissen wir erst seit Nikolaus Kopernikus (1473-1543), daß die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern eben ein Planet ist, der zusammen mit anderen Himmelskörpern die Sonne umkreist. Es sind keine idealen Kreise, die die Planeten um unsere Sonne beschreiben, vielmehr der Form des Kreises angenäherte Ellipsen. In einer mittleren Entfernung zur Sonne von 149,598 Millionen Kilometern umrundet die Erde im Laufe von 365,256 Tagen die Sonne. Diese Entfernung ist ein Vielfaches des Durchmessers unseres Planeten (Poldurchmesser: 12.713,511 Kilometer; Äquatordurchmesser: 12.756,280 Kilometer), der sich mit einer Masse von 5,974 Trilliarden Tonnen durch das Weltall bewegt; und auch ein Vielfaches des Erdumfangs, der am Äquator 40075 Kilometer beträgt.
Bereits diese Zahlen können die kleine Welt unseres Ichs, das alles auf sich als Mittelpunkt beziehen möchte, in Verlegenheit bringen. Aber die eigentlichen Dimensionen des Universums sind damit noch nicht einmal angedeutet.
Die Erkenntnis des Kopernikus, daß die Erde als Planet die Sonne umkreist, stieß jahrhundertelang auf heftige Ablehnung durch die christlichen Kirchen und ihre Gläubigen, weil sie sowohl dem Augenschein der eine ruhende Erde umlaufenden Sonne als auch dem Wortlaut der Bibel widersprach. Schon in der Antike hatte ja Aristarch von Samos (um 280 vor unserer Zeitrechnung) die Kugelgestalt der Erde und ihren Lauf um die Sonne gelehrt; man hatte das jedoch als unsinnigen Irrtum angesehen und vergessen. Nur langsam konnte sich das heliozentrische, d.h. die Sonne als Mittelpunkt ansehende Weltbild gegenüber dem hergebrachten geozentrischen, die Erde als Mittelpunkt betrachtenden Weltbild bei den Gelehrten und Gebildeten durchsetzen.
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Daß die Erde eine Kugel ist, bewiesen allgemeingültig erst die Entdeckungsfahrten zu Beginn der Neuzeit. Es dauerte aber noch lange, bis das astronomische Weltbild von Kopernikus und Galilei zum anerkannten Wissensbesitz der Menschheit wurde. In diesem Weltbild fand auch der Mond als Trabant der Erde seinen festen Platz; er ist wohl gleichen Ursprungs wie die Erde und hat sich einmal von ihrer sich erst festigenden Masse losgelöst.
Die Raumfahrt hat uns eindrucksvolle Fotoaufnahmen unseres "blauen Planeten" geschenkt. Sie verdeutlichen die Aussage, die der Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen, Adlai Stevenson, 1956 in einer wegweisenden Ansprache gemacht hat: "Alle Menschen sind auf gemeinsamer Fahrt als Passagiere eines kleinen Raumschiffes, abhängig von seinem verletzlichen Vorrat an Luft und Boden — alle zu ihrer eigenen Rettung auf seine Sicherheit und seinen Frieden angewiesen."
2.3.2 Die Sonne und ihr Planetensystem
Die Sonne, das Zentralgestirn unseres Planetensystems, ist ein heißer Gasball, der sich in 25 Tagen einmal um seine Achse dreht. Sie ist um ein Vielfaches größer als die Erde: Ihr Durchmesser beträgt 1,4 Millionen km (= 109 Erddurchmesser), ihr Rauminhalt ist der 1,3 millionenfache der Erde. Trotzdem wird sie von den Astronomen ein "Zwerg" genannt, da es sehr viel größere Sterne gibt. Im Inneren der Sonne erzeugen atomare Umwandlungsvorgänge so viel Energie, daß ihre Oberfläche bei einer Temperatur von 5.500 Grad Celsius starke Strahlungen aussendet. Auf jeden Quadratmeter der Erdoberfläche trifft eine Wärmestrahlung der Sonne von 1,3 Kilowatt pro Minute. Dazu kommen weitere Arten von Strahlen, z.B. der "Sonnenwind", ein Strom von elektrisch geladenen Materieteilchen (Korpuskeln). Die Energieeinwirkung der Sonne auf Lufthülle und Oberfläche der Erde ist die unentbehrliche Voraussetzung für alles Leben auf unserem Planeten. Noch nicht alle Einflüsse der Sonne auf die Erde, z.B. auf das Wetter, sind genügend erforscht.
Unsere Erde ist nicht der größte Planet, der die Sonne umkreist. Diesen Rang nimmt vielmehr der Planet Jupiter ein; er hat einen Durchmesser von 142.800 Kilometer und einen Rauminhalt, der 1317mal größer ist als der der Erde.
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Im Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, passiert die US-Planetensonde "Voyager 1" in einer Entfernung von knapp 276.000 Kilometer den Riesenplaneten mit seinen 13 bisher bekannten Monden, die wegen ihrer teilweise auch von der Sonde fotografierten, herrlichen Lichteffekte zu den "kosmischen Juwelen" gerechnet werden.
Aber unser Sonnensystem umfaßt nicht nur 9 Planeten (außer Jupiter und Erde noch Merkur, Venus, Mars, Saturn, Uranus, Neptun und Pluto) mit ihren Satelliten oder Monden. Zu ihm gehören noch Planetoiden und Kometen, die trotz ihrer in die Tausende gehenden Zahl ebenso wie die großen Planeten von der Schwerkraft der Sonne in ihrer Umlaufbahn gehalten werden. Auf keinem dieser zahlreichen Mitglieder unseres Planetensystems konnten bisher Spuren von organischem Leben oder die Voraussetzungen dafür entdeckt werden. Das ganze System ist auch nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Ganzen des Weltalls. Klein — das klingt wie ein Hohn auf die Entfernungen, die wir gewohnt sind. Denn für uns ist schon der Abstand zwischen der Sonne und dem am weitesten von ihr entfernten Trabanten, dem Planeten Pluto, riesengroß. Er beträgt "nur" 5900 Millionen Kilometer!
2.3.3 Unsere Milchstraße
Unser Planetensystem mit der Sonne als Mittelpunkt gehört einem gewaltigen Sternsystem an, der Milchstraße. Jeder von uns hat schon in der Nacht jenes schwache, milchige Lichtband gesehen, das sich fast über den ganzen Himmel erstreckt. Es ist das Licht von Millionen und Abermillionen von Sternen. Etwa 200 Milliarden Sterne enthält das Sternsystem der Milchstraße — einer davon ist unsere Sonne. Dieses System ist eine rotierende, sehr lockere Masse, die außer aus Sternen noch aus Staub- und Gasmaterie besteht. Wie atemberaubend die Rotation dieses Systems ist, wird klar, wenn man wiederum Zahlen sprechen läßt: Unser Sonnensystem dreht sich zusammen mit der ganzen Milchstraße in hoher Geschwindigkeit um das Zentrum derselben. Dabei beträgt die Geschwindigkeit der Sonne 250 Kilometer in der Sekunde. Trotzdem braucht sie für einen Umlauf ungefähr 250 Millionen Jahre.
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Unser eigener Planet dreht sich mit einer Geschwindigkeit von 1.660 Kilometer in der Sekunde um sich selbst, umkreist mit 30 Kilometer pro Sekunde die Sonne und macht mit 250 Kilometer pro Sekunde die Bewegung unseres Planetensystems um das Zentrum der Milchstraße mit. Welche Dynamik der anscheinend so ruhig am Himmel feststehenden Sterne offenbart sich da! Alles befindet sich in rasender, unvorstellbar schneller Bewegung, und doch erhält sieh das Ganze einigermaßen in einem dynamischen Gleichgewicht. Zugleich aber gibt es im einzelnen auch ständig Veränderungen innerhalb der Milchstraße: es bilden sich stetig neue Sterne, während andere zugrundegehen.
Innerhalb unseres Milchstraßensystems gab es Vorgänge, "Turbulenzen" genannt, also ungeordnete verwirbelte Strömungen, die zu einer Rotation führten, aufgrund derer Sterne, Gase und Sternstaub vom Zentrum der Milchstraße wegströmten und Spiralarme bildeten. So kam es zu einer Abplattung der Milchstraße, zu ihrer der Diskusform angenäherten Gestalt. Der Durchmesser dieser Rundscheibe beträgt ungefähr 100.000 Lichtjahre (ein Lichtjahr ist die Entfernung, die das Licht bei einer Geschwindigkeit von 300.000 Kilometer pro Sekunde in einem Jahr zurücklegt; in Kilometer ausgedrückt, sind das 9,461 Billionen Kilometer). Unser Sonnen- bzw. Planetensystem ist vom Zentrum der Milchstraße etwa 32.000 Lichtjahre entfernt. Bei der ungeheuren Anzahl von Sternhaufen und Sternen innerhalb unserer Milchstraße, von denen viele größer sind und heller leuchten als die Sonne, läßt sich die Wahrscheinlichkeit nicht von der Hand weisen, daß es noch andere Planetensysteme innerhalb dieses gewaltigen Sternsystems gibt.
2.3.4 Andere Galaxien — das Universum
Unser Milchstraßensystem ist nur eines von zahllosen anderen, gleichartigen Sternsystemen oder Galaxien (Einzahl: Galaxis, dem griechischen Wort für "Milchstraße" nachgebildet). Aufgrund des bisher mit astronomischen Geräten erforschten Ausschnitts des Weltraums dürfen wir ungefähr 80 bis 100 Millionen Galaxien annehmen. Eine ungeheure Zahl, wenn man noch dazu die Milliarden Sterne bedenkt, die jede dieser Galaxien enthält. Je stärkere Teleskope die menschliche Technik baut, um so mehr neue Milchstraßensysteme werden entdeckt.
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Die Entfernung unseres eigenen Milchstraßensystems vom nächsten, dem Andromedanebel, beträgt ungefähr 2 Millionen Lichtjahre. Abstände von durchschnittlich einigen Millionen Lichtjahren dürften auch jeweils zwischen allen anderen Galaxien liegen. Die entferntesten Sternobjekte, die unsere Teleskope bislang einfingen, befinden sich uns gegenüber in einem Abstand von etwa zwei Milliarden Lichtjahren. Und ein Ende dieser Suche, eine Grenze dieses Universums mit seinen Millionen von Galaxien und Milliarden von Sternen, ist nicht abzusehen.
Die Milchstraße gehört zusammen mit über zwanzig enger benachbarten Galaxien zu einem Galaxienhaufen, dessen Gesamtdurchmesser zwischen vier und fünf Millionen Lichtjahren beträgt. Solche Galaxienhaufen mit sogar Hunderten und Tausenden von Galaxien mit Durchmessern bis zu zwanzig Millionen Lichtjahren machen das Ganze des uns bekannten Universums aus. Mathematische Schätzungen beziffern die Gesamtmasse des Universums auf 1048 Tonnen (eine Zahl mit 48 Nullen!), den Durchmesser seiner größten Ausdehnung auf ungefähr 13 Milliarden Lichtjahre.
Fassen wir zusammen: Der Mensch lebt auf dem Planeten Erde. Dieser gehört mit 8 anderen Planeten, Planetoiden usw. zu unserem Sonnensystem. Dieses Sonnensystem ist ein verschwindend kleiner Teil unseres Sternsystems, der Milchstraße, die ihrerseits wieder nur eine von vielen Millionen Galaxien im weiten Raum des Universums ist. Daraus ergibt sich, daß dem Heimatplaneten des Menschen keine Mittelpunkts- oder Vorzugsrolle im Weltall zukommt, sondern nur ein unauffälliger und bescheidener Seitenplatz. Die Erde ist lediglich ein winziges Teilchen in riesigen kosmischen Zusammenhängen, von denen ihre Existenz und alles Leben auf ihr abhängen.
2.3.5 Mensch und Kosmos
Schon in der Frühzeit ihrer Kultur haben die Menschen erst geahnt, dann schrittweise erkannt, daß die kosmischen Erscheinungen für ihr eigenes Dasein von großer Bedeutung sind, und haben daraus Folgerungen gezogen. Sie ordneten ihr tägliches Leben mit Hilfe von Kalendern und nach dem Lauf der Gestirne. Vor allem aber suchten sie Verbindung mit den für sie wunderbaren und unheimlichen Mächten durch religiöse Verehrung, die sich in mythischer Dichtung, in Gebeten, Opfern und anderen kultischen Bräuchen ausdrückte.
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Viele frühe Religionen dachten sich Himmel und Erde als göttliche Wesen. Die Ägypter kannten eine Himmelsgöttin Nut, die sich über dem Erdgott Geb aufwölbte. Bei den Sumerern gab es den Himmelsgott An und die Erdgöttin Ki; die frühen Griechen verehrten neben der als "Mutter Erde" gedachten Gaia (oder Ge) den Himmelsherrscher Uranos. Einzelne Religionen entwickelten aus solchen Gottesvorstellungen einen strikten Dualismus, d.h. eine ständige Auseinandersetzung zwischen zwei einander feindlichen Mächten, z.B. Licht und Finsternis bei Zarathustra, Yang und Yin im alten China, Jahve als Prinzip des Guten und Satan als Verkörperung des Bösen im späten Judentum.
Weit verbreitet war die religiöse Verehrung der Sonne. Sie galt meist als männliche Gottheit wie bei den Inkas oder wie Samatsch in Babylon; die Japaner jedoch haben eine Sonnengöttin Amaterasu, von der ihr Kaiserhaus abstammen soll. In Nordeuropa lassen riesige Steinsetzungen wie in Stonehenge (England) auf Sonnenverehrung in der Jungsteinzeit (Megalithkultur, etwa ab 1900 vor unserer Zeitrechnung) schließen. In Ägypten erhob ein Pharao um 1370 vor unserer Zeitrechnung den Sonnengott Aton zum alleinigen All-Gott (sogenannter solarer Monotheismus) und nannte sich selbst "Echnaton", d.h. Glanz der Sonne; seine Nachfolger beseitigten diese Lehre wieder. Im römischen Reich verbreitete sich seit Nero die aus Persien stammende Religion des Sonnengottes Mithras und machte lange dem wachsenden Christentum den Rang streitig; als dieses durch die Entscheidung des Kaisers Konstantin siegte, übernahm es manche Einzelheiten, wie das Heilige Mahl und die Priestergewänder, aus dem Mithraskult.
Auch andere Gestirne fanden göttliche Verehrung, insbesondere der Mond und die deutlich beobachtbaren Planeten. Sternreligionen entstanden unter anderem in Mexiko, im ältesten China, vor allem aber in Babylonien/Assyrien; dort galt der Sternhimmel als Offenbarung göttlicher Mächte, die das Schicksal der Menschen bestimmen. Die heutige Astrologie ist eine Nachwirkung dieses Astralkultes im volkstümlichen Aberglauben.
Das Weltall als Ganzes, das Universum, ist Gegenstand religiöser Verehrung für jede Art von Pantheismus. In mehreren Weltreligionen ist es von zentraler Bedeutung; es ist z.B. gemeint mit dem chinesischen Begriff des Tao (vgl. 2.2.3). Fast alle Religionen haben eigene Mythen von der Entstehung der Welt, sogenannte Kosmogonien, geschaffen, wie z.B. der biblische Schöpfungsbericht eine darstellt. Diese Dichtungen zeigen eine bemerkenswerte Vielfalt an religiös-dichterischer Fantasie.
Der Begriff "Kosmos" spielt in der frühgriechischen Philosophie eine bedeutende Rolle; er enthält sowohl den Sinn von "Weltall" als auch den von "Weltordnung". Aus dem Nachdenken über den Kosmos entwickelte sich im Abendland die wissenschaftliche Kosmologie, die vor allem mit den exakten Mitteln der Astronomie und der Physik arbeitet. Sie findet ihre moderne technische Anwendung in der Raumfahrt, die der menschlichen Erkenntnis vom Wesen der Erde, des Sonnensystems und des ganzen Universums erhebliche Fortschritte vermittelt hat und diese ständig noch erweitert.
In der Gegenwart ist dadurch ein neues Verhältnis des Menschen zum Kosmos und zu seinen Erscheinungen entstanden. Wissenschaftliche Einsicht läßt uns die Erde als einen von kosmischen Systemen abhängigen, für menschliche Zivilisation nur begrenzt verfügbaren Lebensraum verstehen. In seine Lebensbedingungen muß sich das menschliche Verhalten und Handeln in vernünftiger Anpassung und Rücksichtnahme verantwortungsbewußt einordnen, wenn ein humanes Dasein für längere Zeit gewährleistet werden soll.
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