6. Ethik,
Humanität,
Religion
und ihre
Zusammen-
gehörigkeit

   

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Albert 
Schweitzer — 
ein Beispiel für 
Ethik,
Humanität 
und Religion

Dieser abschließende Abschnitt unseres Buches gibt zunächst eine Rückschau auf den bisher begangenen Weg der Daseins­orientierung zu dem Ziel einer humanen Selbstverwirklichung. Er zeigt dann, wie eine solche Orientierung folgerichtig zu einer ganzheitlichen Sinndeutung führt, die religiöse Züge besitzt und sich auf ein gläubiges Verhältnis zur Wirklichkeit gründet. Für eine solche ganzheitliche Sinndeutung und ihren religiösen Wesenszug werden Zeugnisse bedeutender Denker unseres Jahrhunderts vorgestellt. Schließlich wird das Bild eines ethisch handelnden, humanen und religiösen Menschen unserer Zeit als Aufgabe und Hoffnung gezeichnet.

 

6.1  Der Orientierungsgang zur Humanität  

Zuerst wollen wir uns die Grundlinie des bisher in diesem Buch durchgeführten Gedankenganges vergegenwärtigen. Sie lautet: Allmähliche Selbstverwirklichung des Menschen durch immer wieder neues Überschreiten der ihm jeweils gesetzten Grenzen.

Die kleine Welt der fast vollständig abgeschlossenen Mutter-Kind-Beziehung erweiterte sich durch Einbeziehung immer neuer Bezugs- und Orientierungspunkte des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens und Verhaltens. Die Räume, in denen sich der Heranwachsende tatsächlich sowie gedanklich und vorstellungsmäßig bewegte, wurden immer umfassender. Grenzen der eigenen Wohnung, der Heimat, des Kontinents und schließlich des Planeten Erde wurden überschritten, die gewaltigen Galaxien und ein sich immer noch ausdehnendes, unser räumliches Vorstellungsvermögen fast sprengendes Universum kamen in den geistigen Blick. Parallel dazu erweiterten sich die Gemeinschaften, denen der Mensch angehört bzw. denen er sich zugehörig fühlen kann. In jeder von ihnen, in Familie, Schule, Gemeinde, Heimat, Volk, in Gesellschafts-, Religions- und Weltanschauungsgruppen, im Staat und in überstaatlichen, z.B. wissenschaftlichen oder kulturellen Zusammenschlüssen verwirklichte sich jeweils ein Stück sozialer und kultureller Menschwerdung. Die Erkenntnis des Werdens der Person durch das Du der anderen und durch die Bezüge zu den Gemeinschaften und der von ihnen

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erfahrenen Welt führte zur grenzüberschreitenden Besinnung auf die Zeit des Menschen und der Menschheit, auf den langwierigen Evolutionsweg vom Tier zum Herrn über den Planeten Erde und auf das Wesen des Menschen. In seinem Selbstbewußtsein, seiner Selbstbestimmung, seiner Sprache und sinngebend-kulturellen Schöpfungskraft erkannten wir die letzten und tiefsten Gründe für seine Fähigkeit, sich in allen Richtungen und auf allen Wertgebieten selbst zu überschreiten.

Einem dieser Wertgebiete des Menschen, der Ethik, mußten wir noch eine besondere Grenzüberschreitungsaufgabe zusprechen, weil sie an alle Lebensbereiche, wie selbständig diese sonst auch sein mögen, also an Kultur, Wissenschaft, Kunst und Religion, an Wirtschaft, Sport, Genuß- und Gesellschaftsleben einen entscheidenden Maßstab legt, an sie höchste Forderungen stellt. Diese Forderungen standen und stehen stets mit der Frage im Zusammenhang, ob und inwieweit menschliches Verhalten auf einem dieser Wertgebiete oder auf allen zusammen der echten Menschwerdung des Menschen, der Gerechtigkeit, Gleichheit und Gemeinschaft aller menschlichen Wesen, ihrer Verantwortung für die Natur und für unseren Planeten dient.

Auf diese Weise gelangen wir zur ersten Feststellung einer Verbindung zwischen Begriffen, die in der Überschrift dieses Schlußkapitels genannt sind: Die Forderungen der Ethik decken sich mit denen einer umfassend verstandenen Humanität. Wir kamen im vorangegangenen Abschnitt 5 zu dem Ergebnis, daß der Mensch human im vollen Sinn dieses Wortes nur werden kann, wenn er alle Wertklassen bejaht und sie gemäß ihrer Stellung in der Wertrangordnung vollzieht und verwirklicht.

 

6.2  Die Aufgabe des Religiösen 

Welche Bedeutung, welche Aufgabe soll dann aber noch das Religiöse im Rahmen einer solchen umfassenden und höchsten Zusammenschau von Ethik und Humanität haben? Es scheint überflüssig zu sein und ist es auch, wenn man Religion nur auf einen persönlichen Gott als Sinngeber bezogen denkt, der den Menschen Gebote, d.h. ethische Normen offenbart hat, damit diese sie befolgen und so zu Menschen nach dem Willen Gottes werden. 

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Wir haben ja gesehen (vgl. 4.4), daß die Sinngebungsfähigkeit des Menschen eine ausschließliche und umfassende ist, d.h. in der von uns erkennbaren Wirklichkeit nur ihm zukommt und ihm von keinem anderen Wesen abgenommen bzw. durch kein anderes Wesen ersetzt werden kann. Selbst wenn es einen persönlichen Gott gäbe, änderte sich an diesem Tatbestand nichts. Die Tatsache, daß evangelische und katholische Theologen sich heute eifrig um die Erstellung einer neuen Ethik oder, wie sie es nennen, einer "Moralphilosophie und -theologie" bemühen, die der modernen Welt-, Kultur- und Wirtschaftssituation einigermaßen angemessen ist, und nicht auf eine neue Offenbarung warten, beweist dies zusätzlich.

Aber gerade in der Sinngebungsfähigkeit des Menschen treffen sich Ethik, Humanität und Religion, wenn man die letztere richtig, also nicht notwendig personal-theistisch auffaßt. Dies anzuerkennen, macht zunächst keinerlei Schwierigkeiten, wenn man anfänglich nur an eine begrenzte Gruppe, nämlich an echt religiöse Menschen mit diesbezüglichen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, also nicht mit kirchlich vorgefertigten religiösen Verrichtungsmustern, denkt. Diese Menschen haben eine derartige Ergriffenheit, einen religiösen Drang und Schwung, einen so leidenschaftlichen Glauben im Sinne des Zutrauens zur Wirklichkeit als einer sie tragenden und bergenden, daß sie gerade aufgrund dieser religiösen Haltung besonders befähigt sind, auch schwierigste ethische Forderungen zu erfüllen und eine besonders hohe Stufe der Humanität zu erklimmen. Bei ihnen muß man die Religion, ihre Art von Religion, geradezu als Grundlage von Ethik und Humanität bezeichnen.

Wie aber steht es mit den übrigen Menschen und Menschengruppen? Leicht fällt es noch, darauf hinzuweisen, daß in allen primitiven Gesellschaften und noch weitgehend in der antiken Kultur die Religion das umfassende Sinngefüge bereitstellte, aus dem sich die sittlichen bzw. unserem heutigen Empfinden nach vielleicht unsittlichen Forderungen und das Handeln danach ergaben. Schwerer nachzuweisen ist, was wir hier als Behauptung aufstellen und im folgenden zu begründen versuchen werden, daß nämlich ein im weitesten Sinne des Wortes religiöser Orientierungs- und Sinnrahmen auch heute und wohl immer die Basis jeder Ethik und Humanität bildet. 

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Es ist ja nicht so, daß es nur eine einzige Ethik im Sinne ihrer praktischen Durchführung durch ein Lebewesen, also nur eine einzige Moral gibt. Es gibt, abhängig von den menschlich-persönlichen, sittlichen Entscheidungen, von der jeweiligen Geschichtssituation und der gesellschaftlichen Gruppe, der einer angehört, verschiedene Ethiken. Für welche Ethik sich aber einer entscheidet, welcher Ethik er sich verpflichtet fühlt, das hängt wesentlich von seiner Welt- und Lebensanschauung, von dem Sinn ab, den er der Wirklichkeit und seinem eigenen Sein gibt oder nicht gibt, den er in ihr verwirklicht oder erreichbar bzw. nicht verwirklicht und nicht erreichbar sieht. Es steht dem Menschen keineswegs frei, eine solche Weltanschauung, einen solchen Sinn- oder Sinnlosigkeitsglauben zu haben oder nicht zu haben.

 

6.3 Glaube als ganzheitliche Sinndeutung des Daseins

Wir sprechen hier absichtlich von Glauben, dies natürlich nicht im Sinne des Glaubens einer bestimmten Konfession oder Religionsrichtung. Schon 1968 betonte ich diesbezüglich in meinem Buch "Der Mensch — das Wesen der Zukunft": Man kann ganz allgemein sagen, daß alle Menschen, sowohl die sogenannten Ungläubigen (wobei Unglaube nur Nicht-Glaube an einen Gott bzw. an eine bestimmte Gottesvorstellung, kein Fehlen von Glauben überhaupt ist) als auch die sogenannten Gläubigen (also die Anhänger der verschiedenen Religionen), einen Glauben im allgemeinsten Sinne dieses Wortes haben. "Gläubig" sind in diesem Sinne a//e Menschen, weil alle Menschen sich ein Letzturteil über die kosmische und menschliche Gesamtwirklichkeit und ihren Sinn oder ihre Sinnlosigkeit bilden bzw. mehr oder minder bewußt nach einem solchen Urteil leben. Gehen doch diese Letzt- und Ganzheitsurteile als grundsätzlich oder der Absicht nach alles umfassende Gesamtdeutungen des Daseins, des eigenen wie der Welt, über das experimentell und wissenschaftlich Nachprüfbare stets und wesentlich hinaus und sind daher im Sinne dieser Nachprüfbarkeit nicht beweisbar. Sie sind auf das von jeder menschlichen Wissenschaft uneinholbare Ganze bezogene Seins- und Sinnbejahungen oder -ablehnungen, die als Bejahung oder Ablehnung immer auch auf einer Entscheidung der Gesamtpersönlichkeit beruhen, mag diese dem einzelnen auch gar nicht besonders bewußt werden. 

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Als solche sind sie Glaubensurteile im weitesten Sinne des Wortes. Die hier erwähnte Gesamtdeutung des Daseins kann eine fast unbewußte, sehr primitive, ja triviale sein, aber sie wird in dieser oder jener Form praktisch von jedem Menschen vollzogen. Wir Menschen können gar nicht erkennen, ohne sofort das Erkannte mehr oder weniger bewußt zu deuten, indem wir ihm unwillkürlich einen Ort und Stellenwert im Gesamtrahmen unserer bisherigen Erkenntnisse und Erfahrungen geben.

 

Zeigen wir noch ein wenig deutlicher, daß jeder Mensch die eben erwähnte umfassende Sinndeutung des Daseins in irgendeiner, wenn auch mitunter sehr primitiven Form vollzieht: Wenn einer mehr oder weniger bewußt bzw. — wie es in der weit verbreiteten Erscheinung heutigen Massenmenschentums der Fall sein dürfte — fast ganz unbewußt nach dem Satz lebt, das Leben sei keinen höheren Werten verpflichtet; oder es habe keinen Sinn; oder es gebe nichts absolut Sicheres; oder alles hänge vom Standpunkt ab, den man einnehme; oder es lohne sich überhaupt nicht zu leben; oder es zähle allein der Erfolg, das Geld, die Macht, das Glück usw. — so wird mit jedem dieser Sätze jeweils das Dasein auf seine Gesamtheit hin gedeutet. Wenn einer das Leben in vollen Zügen genießt, ohne sich — wie man ein wenig oberflächlich sagt — "irgendwelche Gedanken dabei zu machen", so hat doch praktisch auch er eine Daseinsdeutung vollzogen, in der die höheren, geistigen Werte keinen Platz haben. Und selbst wo sich einer ganz bewußt jeden Letzturteils enthält, ist auch dort in einer Art von Agnostizismus (A) eine Deutung von Welt und Leben vollzogen, eine Deutung, die den Sinn des menschlichen Daseins in der erkenntnismäßigen Selbstbescheidung erblickt. Es scheint eine Auswirkung des Wesens des Menschen als eines mit Selbst- und Weltbewußtsein und mit Selbstbestimmung ausgestatteten Lebewesens zu sein, eine Gesamtdeutung von Welt und Leben wenigstens keimhaft vollziehen zu müssen, mag dieser Vollzug sich auch auf ein Mindestmaß an eigener Bemühung, z.B. auf gedankenlose Übernahme der Welt- und Lebensanschauung anderer oder auf triebhafte Nachahmung ihrer Lebenspraxis beschränken. Aber selbst diese Übernahme bzw. Nachahmung muß noch als innerliche Aneignung gelten, wenn sie nicht gerade unter äußerem Zwang geschieht; denn man übernimmt nur, was einem irgendwie zusagt.

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Jeder Mensch lebt also im Grunde immer schon mehr oder minder bewußt aus einer Gesamtinterpretation, d.h. aus einer ganzheitlichen Sinndeutung des Daseins heraus, die experimentell bzw. wissenschaftlich in ihrer Universalität und Vollständigkeit nie voll beweisbar ist. In diesem Sinne "glaubt" jeder Mensch, und auf der Grundlage dieses Glaubens vollzieht er sein Menschsein, verwirklicht er sich selbst und handelt er ethisch oder unethisch. So gesehen, liegt ein religiöser Sinn- und Orientierungsrahmen aller Humanität und Ethik zugrunde.

 

6.4 Zeugnisse ganzheitlicher Daseinsdeutung

Daß sich Ethik, Humanität und Religion in ganzheitlicher Sinndeutung des Daseins zu einer Einheit verbinden, das bestätigen zahlreiche Äußerungen von namhaften Wissenschaftlern unserer Zeit, insbesondere von Psychologen, Soziologen, Physikern und Biologen. Aus ihrer Zahl wählen wir, da der Umfang dieses Buches begrenzt ist, einige bedeutende Persönlichkeiten aus, die auch als Denker und Menschen die geistige Situation der Gegenwart nachhaltig beeinflußt haben oder noch beeinflussen.

 

6.4.1  Psychologen: Eduard Spranger, Erich Fromm 

Eduard Spranger, der zu den Psychologen gehört, die sich am tiefsten und umfassendsten mit dem religiösen Phänomen und der Psychologie der Werte befaßt haben, ist überzeugt: "Sobald ... das isolierte und noch so subjektive Werterlebnis in seiner Bedeutsamkeit für den ganzen Lebenssinn erfahren wird, hat es einen religiösen Ton ...

Wir nennen den dunkelgefühlsmäßigen oder vom Denken durchleuchteten Zustand, worin das Einzelerlebnis in positive oder negative Beziehung zum Gesamtwert des individuellen Lebenskernes gesetzt wird, Religiosität ... Den Inbegriff objektivgeistiger Gebilde, in denen sich diese Wertbeziehungen ausdrücken... nennen wir eine Religion... In der... Beziehung des Normerlebnisses auf den Totalsinn des persönlichen Lebens wurzelt die ethische Religiosität. Aber der typische Grundcharakter der Religiosität kann auch schon da auftre-

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ten, wo der Wert des Lebens nur an tatsächlichen Werterlebnissen gemessen wird. Auch die bloße Glücksempfindung oder die Sehnsucht nach Glück ist schon religiös, wenigstens wenn es sich um eine Psychologie der Religion handelt. Aus diesen Bestimmungen folgt, daß eigentlich nichts religiös indifferent ist, wohl aber, daß alles in verschiedener Nähe oder Ferne zum Religiösen stehen kann, je nach seiner Bedeutsamkeit für das geistige Gesamtleben der Person... Die Welt — als das Ganze der auf die Einzelseele wirkenden Seins- und Sinnzusammenhänge — ist selbst ein religiöser Begriff. Die Wissenschaft müht sich vergebens, das Wesen des Ganzen theoretisch zu erfassen. Mit der bloßen Erkenntnis des Seienden (im Sinne der rein herauspräparierten Gegenständlichkeit) dringt man nicht bis zu einem Sinn der Welt vor. Denn den Sinn haben wir als das Wertbezogene definiert; religiöser Sinn ist Bezogenheit auf die Werttotalität, die in einem höchsten Werte gipfelt. Der Sinn der Welt, d.h. des Ganzen, kann also immer nur in religiöser Einstellung erlebt werden."

Der bekannte Sozialpsychologe Erich Fromm, einer der bedeutendsten kritischen Weiterentwickler der Psychoanalyse Sigmund Freuds, kommt von ganz anderen Voraussetzungen her zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Auch er versteht unter dem Begriff "religiös" "weder ein System, das notwendigerweise mit einem Gottesbegriff oder mit Idolen operiert, noch gar ein System, das den Anspruch erhebt, eine Religion zu sein, sondern jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Verehrung bietet. In diesem weitgefaßten Sinn ist in der Tat keine Gesellschaft der Vergangenheit, der Gegenwart und selbst der Zukunft vorstellbar, die nicht 'religiös' wäre. Diese Definition von 'religiös' sagt nichts über den spezifischen Inhalt aus. Objekt der Verehrung können Tiere oder Bäume sein, Idole aus Gold oder Holz, ein unsichtbarer Gott, ein Heiliger oder ein diabolischer Führer; die Vorfahren, die Nation, die Klasse oder Partei, Geld oder Erfolg ...Die Anhängereiner bestimmten Überzeugung mögen ihr System als ein religiöses ansehen, das sich grundsätzlich von den Ideologien des profanen Bereichs unterscheidet, oder sie mögen glauben, keine Religion zu haben, und ihre Hingabe an bestimmte angeblich diesseitige Ziele wie Macht, Geld oder Erfolg einzig und allein mit praktischen Notwendigkeiten erklären. 

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Die Frage ist jedoch nicht: Religion oder nicht?, sondern vielmehr: Welche Art von Religion? Fördert sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifisch menschlicher Kräfte, oder lähmt sie das individuelle Wachstum? ... Unsere religiöse Grundhaltung ist somit als Aspekt unserer Charakterstruktur anzusehen, denn wir sind, was wir verehren, und was wir verehren, das motiviert unser Verhalten. Häufig ist sich der einzelne jedoch des wirklichen Gegenstands seiner persönlichen Verehrung gar nicht bewußt und verwechselt seinen 'offiziellen' Glauben mit seiner wahren, wenn auch geheimen Religion ... Das religiöse Bedürfnis wurzelt in den Existenzbedingungen der Spezies Mensch ... Da die Spezies Mensch kaum von Instinkten motiviert ist, die ihr sagen, wie sie zu handeln hat... brauchte sie einen Orientierungsrahmen und ein Objekt der Verehrung, um überleben zu können ... Das Bemerkenswerteste ist, daß es keine Kultur gibt, die ohne einen solchen Orientierungsrahmen auskäme. Das gleiche gilt für jedes Individuum. Oft leugnet der einzelne, ein solches Weltbild zu besitzen, und bildet sich ein, auf die verschiedenen Phänomene und Ereignisse seines Lebens von Fall zu Fall und gestützt auf sein eigenes Urteil zu reagieren. Aber es ist leicht nachzuweisen, daß der Betreffende lediglich seine eigene Weltanschauung für selbstverständlich hält, weil sie ihm als die einzig vernünftige erscheint, und ihm überhaupt nicht bewußt ist, daß alle seine Vorstellungen von einem allgemein akzeptierten Bezugsrahmen ausgehen ... Da uns die Determinierung durch den Instinkt fehlt und wir andererseits ein Gehirn haben, das es uns gestattet, uns viele Richtungen vorzustellen, in die wir gehen können, brauchen wir ein Objekt totaler Hingabe, einen Brennpunkt für all unser Streben und zugleich eine Grundlage für unsere tatsächlichen — nicht nur die proklamierten — Werte. Wir brauchen ein solches Objekt der Verehrung, um unsere Energien in eine Richtung zu lenken, um unsere isolierte Existenz mit all ihren Zweifeln und Unsicherheiten zu transzendieren und um unser Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben, erfüllen zu können. Die sozio-ökonomische Struktur, die Charakterstruktur und die religiöse Struktur sind voneinander untrennbar."

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6.4.2 Soziologen: Thomas Luckmann, Arnold Gehlen und andere

Nicht nur die Psychologen, deren zustimmende Aussagen zu unserer Sicht des Verhältnisses von Religiosität, Ethik und Humanität wir hier noch beträchtlich häufen könnten, auch die Soziologen haben klar erkannt, daß die vom Menschen als einem "Dasein in Gesellschaft und Welt" unabtrennbare Sinnfrage immer im Zusammenhang mit Religiosität oder Religion steht. Man kann ohne Übertreibung sagen: Alle soziologischen Studien der Gegenwart, die sich mit Sinnproblematik und Systemtheorie der Gesellschaft befassen, stoßen auf ein Hauptmerkmal der religiösen Erscheinungswelt, nämlich ihre gesellschaftliche "Integrationsfunktion": Religion stiftet Sinn, indem sie einer Gesellschaft Stabilität, Solidarität und Integrität, d.h. Standfestigkeit, Gemeinschaftsbewußtsein und Geschlossenheit verleiht. "Wo diese Funktion der Integration wirklich erfüllt wird, muß der Soziologe von Religion sprechen, auch bei säkularen (weltlichen) Ideologien und Riten" (O.H. v.d. Gablentz).

Mit Recht sagt auch einer der führenden Religionssoziologen der Gegenwart, Thomas Luckmann: "Mir scheint dagegen, daß eine andere, eben nicht Substantive (inhaltlich festgelegte) oder gar an einer einzigen historischen Religion ausgerichtete Bestimmung dessen, was Religion im Leben des Menschen, in Gesellschaft und Geschichte ist, not tut... Diese Deutung geht von einer 'funktionalen' Bestimmung des Religiösen aus. Sie verneint die Möglichkeit und Nützlichkeit, religiöse Konstanten (feste Bestandteile) inhaltlich zu bestimmen, z.B. als 'Glauben' an Übernatürliches. Vielmehr faßt sie 'Glauben' als besondere historische Ausprägung einer konstanten religiösen 'Funktion', der Menschwerdung. Die religiöse 'Konstante' im Menschen ist Sozialisierung in ein das Einzeldasein transzendierendes, meist historisch vorkonstituiertes Sinngefüge." (Wohlgemerkt: "Transzendieren" bedeutet hier nur "Überschreiten" im wörtlichen Sinne, nicht notwendigerweise das Überschreiten der Grenzen der Wirklichkeit zu einem himmlisch oder göttlich gedachten Jenseits, also im metaphysischen oder theologischen Sinne!)

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Der Anthropologe und Soziologe Arnold Gehlen meint mit seiner "Umweltstabilisierung durch Religion" etwas ganz Ähnliches wie Luckmann. Ausdrücklich zitiert er in einer seiner Arbeiten Luckmanns Definition der Religion: "Religion wird hier verstanden als die Grundfähigkeit, ja Notwendigkeit des Menschen, seine unmittelbare Situation zu transzendieren und umfassende Sinnwelten zu konstruieren." Und fügt gleich darauf hinzu: "Das ist eine Formel, der ich durchaus zustimme und die meiner eigenen Auffassung, wie sie hier vorgetragen wird, entspricht, wobei mitzudenken ist, daß diese Konstruktion eines umfassenden realen Sinnbereiches nicht nur im Bewußtsein vor sich geht, sozusagen als Weltanschauung, sondern sehr wesentlich tätig, nämlich rituell erfolgt. Die Notwendigkeit ... liegt in der Konstitution des Menschen, die ihm ein bewußtlos instinktsicheres Eingepaßtsein in irgendeine Daseinsnische versagt und ihn aussetzt — ungesichert in das Überraschungsfeld. Die Religion stabilisiert dieses Verhältnis, nicht die Wissenschaft."

Schon Emile Durkheim (1858-1917), Begründer der soziologischen Methode, hatte darauf aufmerksam gemacht, daß der Vorstellungskern, um den primitive Religionen, wie etwa die von australischen Urbewohnern, kreisen, nicht (der Aberglaube an) eine göttliche Macht sei, sondern die Gesellschaft, der etwa durch das Totemtier symbolisierte Clan (d.h. ihre Großfamilie oder Sippe). Ebenso hat der berühmte Ethnologe und Anthropologe Bronislaw Malinowski das Wesentliche der Religion bei Naturvölkern in ihrer Fähigkeit zur Integration gefunden: Sie füge die einzelnen Erlebnisbereiche einer primitiven Gesellschaft in Gestalt von Mythen, Bräuchen, Gewohnheiten, Einrichtungen usw. zu einem funktionstüchtigen, lebensfähigen Ganzen zusammen. Aus diesem Ganzen erhielten die Einzelbereiche erst ihren Sinn.

 

6.4.3 Physiker: Albert Einstein, Max Planck, Werner Heisenberg

Die landläufige Meinung geht dahin, daß zum Unterschied von den Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlern die Naturwissenschaftler gerade von ihrer Fachrichtung her unreligiöse Geister seien. Das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall, zumindest wenn es sich um eigentlich bahnbrechende Physiker und Biologen handelt, also um die Größten auf ihrem Gebiet.

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Nehmen wir gleich den größten Theoretiker der modernen Physik, Albert Einstein. Er ist nicht nur als tief religiöser Geist anzusprechen, sondern er hält auch die Religiosität für die wichtigste Grundlage von Wissenschaft und Humanität. Freilich gilt das nicht von jeder Religion und Religiosität. Er unterscheidet vielmehr grundsätzlich zwischen drei Religionsarten: der Furcht-Religion, der Moral-Religion und der kosmischen Religion. Die Moral-Religion ist Einstein zufolge noch eine Furcht-Religion, wenn auch höheren Grades. "Es ist der Gott der Vorsehung, der beschützt, bestimmt, belohnt und bestraft." Den beiden ersten Religionsarten "gemeinsam ist der anthropomorphe (durch menschliche Vorstellungen geprägte) Charakter der Gottesidee". Aber im Gegensatz zu diesen beiden Religionsarten wußte der Begründer der Relativitätstheorie um eine Form höherer Religiosität, die er als "kosmische" bezeichnete und für die wahre hielt. Sie läßt sich ihm zufolge "demjenigen, der nichts davon besitzt, nur schwer deutlich machen, zumal ihr kein menschenartiger Gottesbegriff entspricht." Charakteristisch für sie ist das Bewußtsein von der "Nichtigkeit menschlicher Wünsche und Ziele" und das Ergriffensein von der "Erhabenheit und wunderbaren Ordnung, welche sich in der Natur sowie in der Welt des Gedankens offenbart." Die kosmische Religiosität will über das individuelle Dasein als "eine Art Gefängnis" hinaus, "will die Gesamtheit des Seienden als ein Einheitliches und Sinnvolles erleben". 

Auch wenn sie "zu keinem geformten Gottesbegriff und zu keiner Theologie führen kann", waren doch "die religiösen Genies aller Zeiten ... durch diese kosmische Religiosität ausgezeichnet, die keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bild des Menschen gedacht wäre. Es kann daher auch keine Kirche geben, deren hauptsächlicher Lehrinhalt sich auf die kosmische Religiosität gründet. So kommt es, daß wir gerade unter den Häretikern (d.h. Ketzern) aller Zeiten Menschen finden, die von dieser höchsten Religiosität erfüllt waren und ihren Zeitgenossen oft als Atheisten erschienen, manchmal auch als Heilige. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, stehen Männer wie Demokrit, Franziskus von Assisi und Spinoza einander nahe."

Nach Einstein besteht nur zwischen den beiden ersten Religionsarten und der Wissenschaft ein unversöhnlicher Gegensatz. "Wer von der kausalen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens durchdrungen ist, für den ist die Idee eines Wesens, welches in den Gang des Weltgeschehens eingreift, ganz unmöglich ... Die Furcht-Religion hat bei ihm keinen Platz, aber

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ebensowenig die soziale bzw. moralische Religion. Ein Gott, der belohnt und bestraft, ist für ihn schon darum undenkbar, weil der Mensch nach äußerer und innerer gesetzlicher Notwendigkeit handelt, vom Standpunkt Gottes aus also nicht verantwortlich wäre."

Keinen Gegensatz sieht dagegen Einstein zwischen Vernunft und Wissenschaft auf der einen und kosmischer Religiosität auf der anderen Seite. Im Gegenteil: Die kosmische Religiosität ist nach ihm "die stärkste und edelste Triebfeder wissenschaftlicher Forschung". Sie verleiht die notwendige Kraft für die "ungeheuren Anstrengungen" und die "Hingabe", ohne die bahnbrechende wissenschaftliche Gedankenschöpfungen nicht entstehen können. "Nur wer sein Leben ähnlichen Zielen hingegeben hat, besitzt eine lebendige Vorstellung davon, was diese Menschen beseelt und ihnen die Kraft gegeben hat, trotz unzähliger Mißerfolge dem Ziel treu zu bleiben. Es ist die kosmische Religiosität, die solche Kräfte spendet." Für Einstein steht fest, "daß die ernsthaften Forscher in unserer im allgemeinen materialistisch eingestellten Zeit die einzigen tief religiösen Menschen" sind, daß man "schwerlich einen tiefer schürfenden wissenschaftlichen Geist finden kann, dem nicht eine eigentümliche Religiosität eigen ist". Kosmische Religiosität liege "im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist". Die religiös schöpferischen Naturen aller Zeiten seien von diesem Gefühl des Staunens ebenso erfüllt gewesen wie die großen Naturforscher.

Geradezu revolutionär wirkt es in Anbetracht der üblichen Entgegensetzungen von Religion und Wissenschaft, wenn der geniale Theoretiker der Physik recht verstandene kosmischmystische Religiosität zum eigentlichen Quellgrund echter Wissenschaft macht. "Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen. Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft. Wem dieses Gefühl fremd ist, wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot. Das Wissen darum, daß das Unerforschliche wirklich existiert und daß es sich als höchste Wahrheit und strahlendste Schönheit offenbart, von denen wir nur eine dumpfe Ahnung haben können — dieses Wissen und diese Ahnung sind der Kern aller wahren Reli-

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giosität... Meine Religion besteht in der demütigen Anbetung eines unendlichen geistigen Wesens höherer Natur... Diese tiefe gefühlsmäßige Überzeugung von der Existenz einer höheren Denkkraft, die sich im unerforschlichen Weltall manifestiert, bildet den Inhalt meiner Gottesvorstellung."

Ausdrücklich möchte Einstein seine Gottesvorstellung als pantheistisch im Sinne von Spinoza verstanden wissen. "Es ist gewiß, daß eine mit religiösem Gefühl verwandte Überzeugung von der Vernunft bzw. Begreiflichkeit der Welt aller feineren wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegt. Jene mit tiefem Gefühl verbundene Überzeugung von einer überlegenen Vernunft, die sich in der erfahrbaren Welt offenbart, bildet meinen Gottesbegriff; man kann ihn also in der üblichen Ausdrucksweise als 'pantheistisch' (Spinoza) bezeichnen."

Für einen anderen Großen auf dem Gebiet der Physik, den Begründer der Quantentheorie Max Planck, ist Religion Grundlage der Ethik: "Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, die Religion braucht er zum Handeln ..., weil wir mit unseren Willensentscheidungen nicht warten können, bis die Erkenntnisse vollständig und bis wir allwissend geworden sind." Auch Planck lehnt Religion ab, die einem persönlichen Gott zugeordnet ist: "Danach ist die Gottheit, die der religiöse Mensch mit seinen anschaulichen Symbolen sich nahezubringen sucht, wesensgleich mit der naturgesetzlichen Macht, von der dem forschenden Menschen die Sinnesempfindungen bis zu einem gewissen Grade Kunde geben."

Auch der Entdecker der Unschärferelation und Nobelpreisträger Werner Heisenberg sieht Religion als Grundlage von Wissenschaft, Humanität und Ethik, weil sie die umfassendste, auf das Ganze des Seins ausgerichtete Haltung sei und "die Beziehung der Menschen zur zentralen Ordnung der Welt" herstelle. Religion sei "der Kompaß, nach dem wir uns richten sollen, wenn wir unseren Weg durchs Leben suchen. Dieser Kompaß hat in den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sehr verschiedene Namen erhalten: Das Glück, der Wille Gottes, der Sinn, um nur einige zu nennen. Die Verschiedenheit der Namen weist auf sehr tiefgehende Unterschiede in der Struktur des Bewußtseins der Menschengruppen hin, die ihren Kompaß so genannt haben. Ich will diese Unterschiede sicher nicht verkleinern. Aber ich habe doch den Eindruck, daß es sich in allen Formulierungen um die Beziehung des Menschen zur zentralen Ordnung der Welt handelt.

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 ... Allerdings kann es im subjektiven Bereich, sei es des Einzelnen oder der Völker, viel Verwirrung geben.... Aber letzten Endes setzt sich doch wohl immer die zentrale Ordnung durch, das 'Eine', um in der antiken Terminologie zu reden, zu dem wir in der Sprache der Religion in Beziehung treten. Wenn nach den Werten gefragt wird, so scheint also die Forderung zu lauten, daß wir im Sinne dieser zentralen Ordnung handeln sollen."

 

6.4.4  Biologen: Julian Huxley, Bernhard Rensch, George Wald 

Wie die genannten Physiker haben sich auch viele bedeutende Biologen zu dem Zusammenhang von Ethik, Humanität und Religion geäußert; drei von ihnen sollen hier zu Wort kommen.

So trägt das atheistische Ideensystem Sir Julian Huxleys unverkennbar religiöse Züge (vgl. Abschnitt 1.3.4). Der berühmte Biologe, nach dem Zweiten Weltkrieg Generalsekretär des vorbereitenden Ausschusses der Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur der Vereinten Nationen (UNESCO), später Generaldirektor der UNESCO, konnte bedeutende Wissenschaftler der Gegenwart zu einer "Ideensystem-Gruppe" vereinigen, die "zu der Einsicht gelangte, daß die rasch zunehmende Erweiterung unserer Kenntnisse in den letzten hundert Jahren dem Menschen eine neue Offenbarung geschenkt hat, die ihm ermöglicht, sein Schicksal in einer neuen Schau zu erkennen". Diese aus den überwältigenden Erkenntnissen der letzten hundert Jahre resultierende "Offenbarung" sei ein neuer Humanismus, den Huxley als "evolutionären" bezeichnet. Er sei "nicht ein erstarrtes Lehrgebäude von Dogmen", sondern ein "offenes System, das einer unbegrenzten weiteren Entwicklung fähig" sei. Trotzdem biete es "einen festen Halt des Glaubens und der Lebensführung", wobei allerdings als Grundlage dieses Glaubens nur das "von menschlicher Phantasie beflügelte menschliche Wissen" gelten könne. Huxley glaubt, daß sein "neues verständliches Gerüst oder System von Ideen, von Glaubensüberzeugungen und Leitsätzen" für die gesamte menschliche Gemeinschaft "allgemeinverbindlich" sein könne, weil dieses universale System Geist und Materie in einem "Monismus" versöhne, "der doch ihren Dualismus nicht aufhob, und alle Phänomene —

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kosmologische und biologische, materielle und menschliche, kurz- und langfristige — in Verbindung mit dem allumfassenden Vorgang der Evolution brachte". Im Rahmen dieses Monismus "erschienen die Bereiche der Wissenschaft, der Kunst und Religion nicht mehr als voneinander unabhängige, sondern als eng miteinander verknüpfte Aufgabenbereiche unserer sich weiterentwickelnden Spezies". Dieses einheitliche monistische System schließt nach Huxley den Theismus (A) prinzipiell aus: "Jeder Glaube an einen übernatürlichen Schöpfer oder Herrscher oder an Wesen, die natürliche oder menschliche Vorgänge beeinflussen, spaltet in nicht wieder gutzumachender Weise das Universum und hindert uns daran, seine wahre Einheit zu erfassen. Jeder Glaube an Absolutes, sei es an die absolute Gültigkeit sittlicher Gebote, die Autorität einer Offenbarung, eine innere Gewißheit oder eine göttliche Inspiration, richtet eine bedrohliche Barriere auf gegen den Fortschritt und gegen die Möglichkeit einer ethischen, rationalen oder religiösen Vervollkommnung." Trotzdem sei mit einem reinen Rationalismus nichts zu bewältigen. Was die Welt heute braucht, ist nicht nur eine rationalistische Verneinung des Alten, sondern eine religiöse Bejahung von etwas Neuem ... Eines der wichtigsten Dinge, deren die Welt heute bedarf, ist ein einziges neues religiöses System, um die Vielfalt der miteinander im Streit liegenden und unvereinbaren religiösen Systeme zu ersetzen, die um die Seele des Menschen ringen."

Worin besteht nun aber die neue Religiosität im Sinne Huxleys? Sie besteht in einer neuen Schau des Universums und der Rolle des Menschen in ihm, wobei beide Sichten — und das ist das besondere Religiöse daran — "das Gefühl für ein heiliges Mysterium einschließen".

Ein besonderes religiöses Mysterium innerhalb des grundlegenden Mysteriums des Universums stelle der Mensch dar. Die Hauptaufgabe, die sich ihm heute stelle und die zugleich "die erwünschte Richtung der Evolution" sei, ließe sich als "die Vergöttlichung der Existenz" bezeichnen. Demgemäß "müssen im Glaubenssystem jeder sich neu entwickelnden Religion Achtung und Ehrfurcht den Hintergrund bilden. Eine solche Religion muß den Sinn des Menschen für das Wunderbare und Ungewöhnliche, für alles, was hohe Anforderungen an ihn stellt, besonders dann stets lebendig zu erhalten suchen, wenn er sich mit dem allgemeinen Problem der Existenz befaßt". 

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Religion läßt sich Huxley zufolge "am besten als angewandte spirituelle Ökologie" verstehen. Sie müsse ein umfassendes Leitsystem schaffen für die Beziehungen der Menschheit zur umgebenden Natur, des individuellen Ich zu den Kräften seines Innenlebens und des einzelnen zu den anderen und der Gesellschaft. "Heiligung des Lebens" bleibe eine ständige Aufgabe, auch in moderner Religion.

Auch der bedeutende Biologe und Evolutionsforscher Bernhard Rensch betont am Ende seines dem Verhältnis von Evolution und Naturphilosophie gewidmeten Buches "Das universale Weltbild;' daß nur ein bestimmter Religionstyp mit Naturwissenschaft und modemer ethischer Lebensführung nicht vereinbar sei. Es seien jene "Glaubensgemeinschaften", die "die Vorstellung eines höheren Wesens nicht aufgeben wollen, eines Wesens, das die Welt und ihre Ordnung schuf, das ihr Leben leitet, an das sie sich in ihren Nöten wenden können und von dem sie Schutz und Hilfe erwarten. Das zugrunde liegende religiöse Gefühl wird durch die in jeder Religion entwickelten Riten immer wieder wachgerufen und gestärkt durch Versenkung und Gebet, durch das Halbdunkel in Tempeln und Kirchen, durch die Größe der heiligen Stätten, die ein Gefühl der Erhabenheit und der eigenen Kleinheit und Machtlosigkeit bedingen, weiterhin auch durch heiliges Feuer, durch Räucherstäbchen oder Weihrauch, durch die besondere Stimmführung von Priestern oder Vorbetern oder durch gedämpfte Musik und getragene Choräle". So gewiß es für Rensch aber auch ist, daß "die Vorstellung eines persönlichen Gottes, d.h. eines Gottes mit menschenhaften Merkmalen ... mit heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vereinbar ist", so glaubt er dennoch nicht, daß sein "evolutionäres und identistisches (A) Weltbild in völligem Gegensatz zu religiösen Vorstellungen steht"......soweit ein christlicher oder

theosophischer Panentheismus (A) vertreten wurde oder auch heute noch vertreten wird, ein Panentheismus, demzufolge Gottes Existenz in allem Geschehen vorausgesetzt wird,... ist eine Konvergenz (Annäherung) unverkennbar. Von einer derartigen panentheistischen Auffassung trennt das evolutionäre Weltbild nur ein Wort. Man kann den Begriff 'Weltgesetzlichkeit' auch durch 'Gott' ersetzen, denn so wie Gott ist auch die nicht weiter erklärbare und insofern irrationale Weltgesetzlichkeit 'unerschaffen', 'selbst schaffend', 'allmächtig', 'allgegenwärtig', und sie führt auf Grund der universalen logischen Gesetzlichkeit zu Erkenntnis und 'Wahrheit'.

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Zudem werden die Beziehungen des evolutionären Weltbildes durch den von mir vertretenen panpsychistischen Identismus (Annahme einer durchgehenden Beseeltheit in allem), demzufolge alles sogenannte Materielle protopsychisch (vor-seelisch) ist, noch enger. Und schließlich vermag das Wissen um das unentrinnbare Eingefügtsein in eine universale Gesetzlichkeit allen Geschehens ein Gefühl der Erhabenheit, aber auch einer Geborgenheit unseres Daseins in ähnlicher Weise zu erzeugen wie ein religiöser Glaube."

Am treffendsten hat der Nobelpreisträger George Wald (Cambridge/USA) in seinem am 26. Juni 1978 auf der 28. Tagung der Nobelpreisträger in Lindau gehaltenen Vortrag "Life in a lethal society" die ethisch-politische Verantwortung des Naturwissenschaftlers aus einer geradezu als religiöse Berufung einzustufenden Haltung heraus gekennzeichnet: "Ich glaube, ein Wissenschaftler zu sein, ist in vieler Hinsicht eine religiöse Aufgabe im weitesten Sinne des Wortes." Gerade diese Einsicht in die religiöse, ganzheitliche, umfassende Eigenart seiner Aufgabe bringe den Wissenschaftler zu der Erkenntnis, daß es für ihn nicht bloß damit getan sei, "zu studieren, zu messen und zu registrieren ..., während die Menschheit im Abgrund versinkt". Aus seiner religiösen Verantwortung heraus hat der Wissenschaftler Wald denn auch in seinem Vortrag mutig und sehr klar die unheimliche ökonomisch-politische Situation aufgedeckt, in der wir uns befinden: "Ich glaube nicht, daß in der westlichen Welt — in unserer Welt — die Regierungen wirklich regieren. Ich glaube, sie dienen als Handlanger großer finanzieller und industrieller Macht". Die transnationalen (überstaatlichen) Riesenkonzerne stellen nach Wald "die größten Konzentrationen der Macht und des Reichtums dar, die es jemals in der menschlichen Geschichte gegeben hat. Das sind nicht Geschäftsunternehmen, das sind Weltmächte. Haben sie militärische Macht? Natürlich. Sie haben unsere militärische Macht. Haben sie Informations- und Überwachungssysteme? Natürlich. Bei den Amerikanern FBI und CIA. Haben sie Kontroll- und Lenkungssysteme? Natürlich: sie haben unsere Regierungen."

Angesichts des ungeheuren Atomwaffenvorrats, der gegenwärtig die Energie von 15 Milliarden Tonnen des herkömmlichen Sprengstoffs habe, angesichts der grauenerregenden Tatsache, daß die Atomwaffenreserven der USA und der

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UdSSR eine Explosionskraft von 5-15 Tonnen TNT (Sprengstoff; Vergleichseinheit für die Sprengwirkung von Atom- und Wasserstoffbomben) pro Kopf der Weltbevölkerung haben (!), können wir nach Wald mit dem heutigen bewaffneten Nationalismus nicht mehr lange leben. "Wir brauchen eine Art Weltregierung, und, wissen Sie, es gibt eine Art Weltregierung, das sind die transnationalen Firmen. Und da könnte man nun glauben, daß ... die transnationalen Konzerne den Weg für eine Weltregierung vorbereiten. Es gibt aber eine Schwierigkeit dabei, und das ist, daß sie 'letal' sind, daß sie eine lebensbedrohende Tätigkeit verfolgen, daß sie uns an den Rand der Selbstzerstörung bringen — so rasch, wie man es sich nur vorstellen kann, und in vieler Hinsicht."

 

6.4.5  Das "Genie der Menschlichkeit": Albert Schweitzer 

Zitieren wir am Schluß dieser beispielhaften Reihe von Aussagen bedeutender Vertreter der modernen Psychologie, Soziologie und Naturwissenschaft zum Verhältnis von Religion, Ethik und Humanität noch den Mann, der ethisch-religiöses Denken und ethische Praxis in seiner genialen und genial vielseitigen Persönlichkeit zur vollendeten Harmonie gebracht hat: den Kulturphilosophen und Kulturpionier, den "Urwalddoktor" und Orgelkünstler, den prophetischen Denker, Zeitkritiker und praktischen Organisator, den Theologen und Bibelforscher Albert Schweitzer. Von ihm sagt einer seiner Biographen, "daß die heutige Kulturwelt niemanden aufzuweisen hat, der in der ursprünglichen Vielseitigkeit und Kraft seiner intellektuellen, künstlerischen und ganz besonders ethischen Energien an ihn heranreicht."

Schweitzers Ethik mit ihrem Zentralbegriff der Ehrfurcht vor dem Leben steht nun in besonderer Nähe zur Religion. Er ist überzeugt, daß das tiefste Anliegen von Sittlichkeit und Religiosität im Grunde ein und dasselbe ist: "Der Wille zum Leben ist nicht darauf angewiesen, sein Dasein von dem, was ihm die unbefriedigend bleibende Erkenntnis der Welt bietet, zu fristen; er kann von Lebenskräften zehren, die er in sich selber vorfindet. Die Erkenntnis aus meinem Willen zum Leben ist reicher als die, die ich aus der Betrachtung der Welt gewinne. ... Seine Welt- und Lebensbejahung trägt ihren Sinn in sich selbst. Sie erfolgt aus innerer Notwendigkeit und

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genügt sich selber. Durch sie geht meine Existenz auf die Ziele des geheimnisvollen, universellen Willens zum Leben ein, von dem ich eine Erscheinung bin. In vertiefter Welt- und Lebensbejahung bekunde ich Ehrfurcht vor dem Leben. Mit Bewußtsein und Wollen gebe ich mich dem Sein hin. Den Idealen, die es in mir denkt, werde ich dienstbar, werde vorstellende Kraft wie die, die rätselhaft in der Natur wirkt. Damit setze ich meinem Dasein einen Sinn von innen heraus." Ehrfurcht vor dem Leben ist Ergriffensein von dem unendlichen, unergründlichen, vorwärts treibenden Willen, in dem alles Sein gegründet ist. Sie hebt uns über alle Erkenntnis der Dinge hinaus.....In der Ehrfurcht vor dem Leben liegt die Frömmigkeit in ihrer elementarsten und tiefsten Fassung vor."

An anderer Stelle sagt Schweitzer: "Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben hat also religiösen Charakter. Der Mensch, der sich zu ihr bekennt und sie betätigt, ist in elementarer Weise fromm. ... Diese tiefe, universale Ethik hat die Bedeutung einer Religion. Sie ist Religion."

 

6.5 Religiöse Sinndeutung — ein Grundzug menschlichen Strebens

Grundsätzlich ist zu der engen Verzahnung von Religion und Ethik zu sagen: Die Sinndeutung und Sinngebung des wissenschaftlich nie voll erfaßbaren Ganzen der Wirklichkeit ist etwas Religiöses, weil dabei ein Glaube im weitesten Sinne des Wortes, ein Vertrauen oder Mißtrauen gegenüber der Wirklichkeit bzw. gegenüber sich selbst sowie werthaft-gefühlsmäßig gefärbte Entscheidungen eine Rolle spielen. Diese Entscheidungen können gar nicht zur Gänze durch unsere vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Aufbau der Wirklichkeit gedeckt und abgesichert sein, wiewohl sie — das ist ein ethisches Erfordernis — vernünftig sein, d.h. im Rahmen der einem Menschen zugänglichen Kenntnisse von dessen Vernunft gebilligt werden müssen. Die Sinndeutung und Sinngebung ist also in diesem Sinne religiös. Aber daß ein Mensch eine solche Sinngebung vollziehe, ist noch eine ethische Forderung.

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Zwar vollzieht der Mensch — wir erwähnten es in diesem Schlußkapitel bereits mehrfach — diese Sinndeutung auch unwillkürlich, fast automatisch. Aber es ist für die Wertstufe der Sinndeutung nicht gleichgültig, ob er sie in bewußter, ethischer Verantwortlichkeit vollzieht oder gleichsam blind nachvollzieht, indem er den triebhaften inneren Neigungen oder den gesellschaftlichen Gepflogenheiten und Modeerscheinungen, also den Göttern des triebhaften Ich oder den Idolen der Gesellschaft folgt. Freilich zeigt sich gerade in diesen Fehlformen noch einmal die Gewalt des grenzüberschreitenden, immer das Ganze anpeilenden religiösen Sinngebungsstrebens. Denn der Mensch, der ein einzelnes Wertgebiet ausschließlich und einseitig bejaht, bleibt ja dabei nicht stehen. Er macht — wie wir sahen (vgl. 5.4) — dieses Gebiet, sei es der wirtschaftliche Erfolg, das Wirtschaftswachstum, sei es die politische Macht, die Lust, der Genuß des Schönen, die Wissenschaft usw., zu seinem einzigen Lebenssinn, er übersteigert es unendlich, er betreibt Grenzüberschreitung in einem verhängnisvoll-falschen Sinn, indem er einen Teil für das Ganze ansieht, ansehen will. Aufgrund des religiösen Unendlichkeitsdrangs, der in jedem steckt, überspitzt und verallgemeinert er gleichsam sein Interessengebiet, so daß er die Gesamtwirklichkeit und ihren Sinn nur noch als Gesamtgefüge ökonomischer Nützlichkeiten oder ästhetischer Ansichten und Spielereien oder gesellschaftlicher Bedingtheiten oder als Kampfplatz egoistischen Austobens umfassender Macht- und Ausbeutungsinteressen oder als reines Spiel der Ideen mit allerdings oft üblen Folgen für die Gesellschaft und die Natur zu sehen vermag. Gerade für die abendländische Menschheit gilt, daß ihr religiöser, grenzüberschreitender Vitalimpuls (Lebenswille) sich in der Neuzeit, nach der Abkehr von einem verjenseitigten Mittelalter, auf den so greifbaren, Erfolg und Mißerfolg so deutlich anzeigenden wirtschaftlichen Bereich von Produktion und Konsum geradezu stürzte und damit die ökonomischen und die durch sie mitvermittelten Genußwerte mit dem Glanz der Verheißung, ja Garantierung unendlichen Glücks ausstattete. Die Folgen dieser Vergötzung treiben die Menschheit heute in den gemeinsamen Untergang, wenn sie nicht noch im letzten Augenblick auf diesem furchtbaren Weg umkehrt.

Eben auch in diesen verhängnisvoll falschen, grenzüberschreitenden Sinndeutungen des Lebens sind noch jene Bestandteile enthalten, die diese Sinndeutungen zu etwas Religiösem machen: der Glaube (z.B. der falsche Glaube an

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die Notwendigkeit stetigen wirtschaftlichen Wachstums); das Ergriffensein vom Ganzen und Allgemeinen (das hier z.B. fälschlich mit der Allmacht des Kapitals verwechselt wird); das Vergöttlichen (z.B. die Absolutsetzung des Erwerbs- und Besitzstrebens, des Wettbewerbs um jeden Preis, des wirtschaftlichen Nutzens, des Körperkults, der Lust usw.). Diese Vergöttlichungstendenz in uns, die auch entscheidend an der Entstehung aller großen Menschheitsideale und Traumbilder mitwirkt, ist ja als solche nicht negativ zu bewerten. Denn der Mensch muß sich Ideale und Ziele stecken, die über ihn hinausgehen, die er verehren und bewundern kann, die sein Streben anziehen und zu denen er sich hinaufschwingt. In dieser Hinsicht hat der bei dem Gedanken eines persönlichen Gottes stets tiefstes Unbehagen empfindende Goethe durchaus psychologisch richtig gesehen: "Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf." Das Element des Göttlichen, der Vergöttlichung, sah sogar Karl Marx als notwendig für seine Sinngebungstheorie der Wirklichkeit an, denn er sagt: "Die Religion der Arbeiter ist eine Religion ohne Gott, weil sie die Göttlichkeit des Menschen wiederherzustellen versucht. ... Von dem Idealismus, den ich ... genährt, geriet ich dazu, im Wirklichen selbst die Idee zu suchen. Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jetzt das Zentrum derselben geworden."

Falsche, unecht-religiöse Grenzüberschreitung liegt vor, wie wir gesehen haben, wenn einzelne Wertklassen einseitig und ausschließlich bejaht und dann alleingestellt und als das Ganze des Reiches der Werte und der Wirklichkeit erlebt werden. Außerdem gibt es aber Grenzüberschreitung auch in einem positiven Sinne. Alle Wertgebiete des Menschen haben die Neigung, auf ihren Höhepunkten ins Ganze, Umfassende, eben Religiöse überzugehen. Das religiöse Ganzheits- und Unendlichkeitsstreben des Menschen, von dem der Vater aller modernen Religionskritik, Ludwig Feuerbach, gesagt hat, daß "das Bewußtsein des unendlichen Wesens nichts anderes ist als das Bewußtsein des Menschen von der Unendlichkeit seines Wesens", durchdringt ja alle Bereiche des menschlichen Seins. Es durchformt und durchströmt auch das gesamte Trieb- und Bedürfnisgefüge des Menschen, so daß sogar der Bereich der Lust- und Genußwerte sich selbst

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überschreiten will, hin zu zärtlicher und hingebender Liebe (vgl. Nietzsche: "Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit."). Ganz besonders aber ist vom ästhetischen Wertgebiet zu sagen, daß alles Schöne und Großartige in Natur und Kunst irgendwie religiöse Züge annimmt. Jede große Kunst "überbietet sich scheinbar selbst, indem sie unmittelbar zur Erfahrung des Göttlichen anleitet. Die Erschütterungen, die sie hervorzubringen vermag, sind nicht nur ästhetischer Natur, sondern ohne Zweifel auch religiöser Art" (K. Dunkmann). Besonders stark scheint das für die Musik zu gelten, von der man immer wieder gesagt hat, sie sei imstande, religiöse und ästhetische Eindrücke miteinander zu verschmelzen. Selbst ein Skeptiker und Atheist wie Schopenhauer hat ihr eine unmittelbar metaphysische, über das körperlichsinnlich Wahrnehmbare der Töne weit hinausgehende Bedeutung zugesprochen. Den Eindruck des Erhabenen, wie es uns etwa in der Orgelmusik Bachs oder den Symphonien Beethovens begegnet, hat Kant bekanntlich als das erklärt, "was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemütes beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft". Nach Hegel ist das Erhabene der "Versuch, das Unendliche auszudrücken, ohne in dem Bereich der Erscheinungen einen Gegenstand zu finden, welcher sich für diese Darstellung passend erwiese".

 

6.6  Gefährdung und Stärkung des Menschseins  

Untersuchungen der Psyche des modernen Menschen, neuerdings etwa die Studie von Michael Maccoby über den Charakteraufbau von 250 Managern und Ingenieuren von zwei der bestgeleiteten amerikanischen Konzerne, zeigen mit erschreckender Deutlichkeit in vielen Zeitgenossen einen Zug zu immer größerer Verflachung, ja zum Verlust der Gefühlswelt auf. Die gesamte Darstellung in diesem Schlußkapitel des vorliegenden Buches beweist, daß eine Heilung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft allein im Willen jedes einzelnen zu einer lebendigen Verbindung von Ethik, Humanität und Religion liegen kann, weil diese drei Größen auch sachlich zusammenstehen und zusammengehören, ja auf ihren Höhepunkten und bei voller Verwirklichung ineinander übergehen. Die Richtschnur sollte also für alle lauten: Steigerung der Empfindsamkeit, Verfeinerung, Vertiefung und

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Stärkung des Menschseins, gleichgültig durch welche Methoden dies der einzelne seinen Neigungen und seinem Charakter gemäß erreichen will: durch Methoden der Selbstversenkung (Meditation, Zen, Yoga, autogenes Training usw.) oder durch gruppendynamische Erlebnisse (Gesprächsgruppen, Freundeskreise, therapeutische Zirkel, kreative Verbindungen usw.) oder durch Erweckung der Bereitschaft und Empfänglichkeit in sich selbst zu Tiefenerlebnissen der Kunst, der Natur, des Du oder durch Besinnung auf Stammesgeschichte, Geschichte und eigene Lebenserfahrungen oder durch religiöse Verinnerlichung im Sinne der Vergegenwärtigung des religiösen Übergangs- und Zusammenhangscharakters aller großen Kunst, allen Naturerlebens, allen kosmischen und Gemeinschaftserlebens. Gerade religiöse Gemeinschaften, die auf der Grundlage der Freiwilligkeit, ähnlicher Überzeugungen und Gesinnungen und nicht aufgrund kultischen Zwangs, wie z.B. der Kindertaufe, entstehen, sind als offene, demokratische Systeme besonders befähigt, Wertverstärkung und Wertvertiefung durch die Pflege der religiösen Anteilnahme, durch religiösen Gemeinschafts- und Feiervollzug zu bewirken.

 

6.7  Der neue Mensch — Ziel und Hoffnung 

Auf dieser Grundlage und nach dieser Richtschnur kann die wahre, ethisch-religiöse Humanität entstehen, die das Ziel unserer Bildungsbemühungen ist und auf die wir unsere Hoffnung für die Zukunft setzen: der neue, im vollen Sinne der natürlichen und kulturellen Evolution menschlich gewordene Mensch. Er ist

der eigenständige Mensch, d.h. der Mensch mit einer unverwechselbaren Identität (Eigentümlichkeit seiner Person) im Gegensatz zu der Rolle, die die meisten unter dem Druck der Gesellschaft übernehmen und mit ihrem wahren Sein verwechseln;

der für die ganze Wirklichkeit offene Mensch, d.h. der Mensch der Universalität, der sich nicht körperlich, seelisch oder durch Teilinteressen verklemmen, hemmen und einengen läßt und deshalb die Gesamtwirklichkeit auf sich einwirken lassen, sein Verankertsein in ihr unbehindert erleben und eine umfassende Sinngebung des Daseins durchführen kann;

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der gesammelt-schöpferische Mensch, d.h. der Mensch der Konzentration und Kreativität, der Spontaneität und Freiheit, der infolge seiner Gelöstheit und Gelassenheit den Geistesblitzen der Eingebung und Fantasie, den lebendigen Aufbrüchen des menschlichen Seins, den Regungen des Gemüts geöffnet ist, dem deshalb jene Energieströme zufließen, die kraftvolles ethisches Handeln in Selbstbestimmung ermöglichen, — frei von Nervosität, Zerfahrenheit und seelischer Störungsanfälligkeit;

der Mensch der neuen Mitmenschlichkeit, der also eine neue Form der Verständigungsbereitschaft, Anteilnahme und Geschwisterlichkeit lebt, der einen unbestechlichen Gerechtigkeitssinn und eine besondere Feinfühligkeit bei ungleicher Behandlung von Einzelmenschen, religiösen, völkischen, rassischen, kulturellen und anderen Minderheiten entwickelt, somit eine tätige Toleranz für die Verteidiger andersartiger Lebensstile und Daseinsentwürfe entfaltet, der Freude und Teilnahme an Lust und Glück der anderen erlebt anstatt Mißgunst, Neid und Eifersucht;

der Mensch der umfassenden Verantwortung für Umwelt und Welt, der im Namen und Rahmen dieser Verantwortung persönliche Einsatzbereitschaft, Charakterfestigkeit, Unbestechlichkeit, Mut, Zivilcourage, ja — wo es nottut — schöpferischen Ungehorsam aufbringt und dabei materielle Nachteile in Kauf zu nehmen bereit ist, der kritische Haltung und vernünftigen Protest gegen Druck und Nötigung durch wirtschaftliche, politische, religiöse und gesellschaftliche Machtinhaber zeigt, der für die ökologische Rettung der Erde und ihrer Bewohner, für Dezentralisierung von Wirtschaft und Verwaltung, für die wirtschaftliche Besserstellung und Sicherung der sozial Schwachen kämpft;

der neue Mensch also, der klare Vernunft im Sinne der Bewußtmachung aller für die heutige Menschheitssituation entscheidenden Tatbestände mit einem hohen Maß von Wärme und Tiefe des Gemüts zu einer lebendigen Einheit verbindet.

Hohe Humanität, vertiefte Ethik und umfassende Religiosität vereinigen sich in diesem neuen Menschen zu einem lebensbejahenden, sinnvollen Dasein. Angesichts dessen wird selbst der kritisch-zweifelnde Beobachter der weltanschaulichen, sozialen und seelischen Situation der Gegenwart auch dann, wenn er Religion für unwirkliches Wunschdenken hält, zugeben müssen, daß diese Religion heute in einer Menschheit, die die größte Krise seit ihrer Entstehung erlebt, unentbehrlicher ist denn je. Vorausgesetzt, man versteht Religion nicht mehr in überlieferter enger Bedeutung, sondern als ganzheitliches Ringen des Menschen um grundlegenden Sinn, als schöpferischen Gestaltungs- und grenzüberschreitenden Lebenswillen.

 

 

 

 

Ende

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