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Der öko-religiöse Mensch trägt zur Vollendung der Sinngestalt des Universums der Natur bei
(oder: Die Natur drängt den Menschen, sie in den ihr gebührenden Rang zu erheben)
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Mit der in dieser Überschrift formulierten Thematik wird das im vorigen Abschnitt Behandelte lediglich fortgesetzt und weitergeführt. Denn schon die Sprache, von der dort die Rede war,177 trägt zur Vollendung der Sinngestalt der Natur und zu ihrer Erhebung in den ihr gebührenden Rang entscheidend bei. Indem sich die Natur im Menschen zur Sprache bringt, kommt sie ja zu sich selbst. Insofern wird uns die Sprache auch bei den Überlegungen des jetzigen Abschnitts stets begleiten. Sie ist von dem Beitrag, den der Mensch für die Vollendung der Sinngestalt der Natur leistet, fast stets unabtrennbar.
Der Mensch erfüllt nun die Aufgabe, die ihm die »sich mit ihm forttreibende« Natur gestellt hat, u. a. dadurch, daß er ihre Werte (die im ersten Kapitel ausführlich charakterisierten ästhetischen, sozialen, logisch-mathematischen, biotechnischen usw. Wertaspekte) ins Bewußtsein hebt und zur Sprache bringt. Das Fundament dieser Werte ist — ohne unser Zutun — in der Natur verankert, aber es »schreit«, es verlangt danach, von einem entsprechenden Erkenntnisvermögen gewürdigt und damit zum eigentlichen Wert erhoben zu werden.178
Der öko-religiöse Mensch versucht, immer tiefer in die Natur einzudringen und ihre ungeheuer vielfältigen Aspekte und Werte zu erkennen und zu artikulieren, aber er tut es nicht in der zugreifenden Neugierhaltung des homo faber, der nur wissen will, um machen, um verändern und ausbeuten zu können, sondern in der Haltung der Ehrfurcht, der Bereitschaft, von der Natur (ihrem Reichtum, ihrer Weisheit) zu empfangen, zu lernen, das eigene Sein durch die Natur, als deren Teil er sich versteht, wachsen zu lassen.
Die Ehrfurcht ist nicht etwa nur ein nettes Gefühl, das man beim Erkennen der Natur so mitschwingen läßt, aber auch lassen kann, da es ja zur eigentlichen Erkenntnis vermeintlich nichts beiträgt; sie ist vielmehr jene Haltung, ohne die man im Grunde der Wert- und Seinstiefe der Natur nie ansichtig wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Ehrfurcht geradezu ein Erkenntnisorgan, und ohne dieses Organ kann der Mensch den Sinn des Universums der Natur nicht ergründen, vermag er also zur Vollendung ihrer Sinngestalt absolut nichts beizutragen. Meines Wissens hat kein Denker die Notwendigkeit der Ehrfurchtshaltung für die Ergründung der Wirklichkeit so überzeugend dargetan wie der große deutsche Philosoph Max Scheler. Sie ist nach ihm »kein Gefühlszusatz zum fertigen, wahrgenommenen Ding«, aber auch keine »bloße Distanz, die das Gefühl zwischen uns und den Dingen aufrichtet«. Sie ist »im Gegenteil die Haltung, in der man noch etwas hinzu wahrnimmt, das der Ehrfurchtslose nicht sieht und für das gerade er blind ist: das Geheimnis der Dinge und die Werttiefe ihrer Existenz« .
Kein öko-religiöser Mensch, der nicht ein um das andere Mal bei seinen Begegnungen mit der Natur das empfunden und erlebt hätte, was Scheler als Gegensatz zur ehrfurchtslosen Haltung folgendermaßen umschreibt: »Wo immer wir von der ehrfurchtslosen, z. B. der durchschnittlich wissenschaftlich erklärenden Haltung, zur ehrfürchtigen Haltung gegenüber den Dingen übergehen, da sehen wir, wie ihnen etwas hinzuwächst, was sie vorher nicht besaßen, wie etwas an ihnen sichtbar und fühlbar wird, was vorher fehlte: Eben dies >Etwas< ist ihr Geheimnis, ist ihre Werttiefe. Es sind die zarten Fäden, in denen sich jedes Ding in das Reich des Unsichtbaren hineinerstreckt.«
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Nicht nur die Haltung des Durchschnittswissenschaftlers, auch eine rationalistische Philosophie, eine viel zu intellektualistisch gewordene Theologie, die sich von ihrer religiösen Erlebnisbasis fast vollständig abgekoppelt hat,179 die positivistische und die agnostische Denkhaltung haben dazu beigetragen, daß heute die Forderung nach einer Haltung der Ehrfurcht als dem der Natur allein angemessenen Verhalten seitens des Menschen in der Öffentlichkeit weitgehend auf Unverständnis stößt, somit die seelische oder genauer: seelenlose Grundlage für das naturfeindliche, unökologische, technokratische Weiterwursteln auf unserem Planeten nicht ernsthaft gefährdet ist oder behindert wird. Scheler hat nicht nur auf die eben erwähnten Denksysteme als (Mit-)Ursachen der modernen Durchschnittshaltung der Ehrfurchtslosigkeit hingewiesen, er hat auch den Marsch in die letale Gesellschaft der Oberflächlichkeit und Bedeutungslosigkeit, der durch diese Haltung begründet wird, schon vor mehr als einem halben Jahrhundert signalisiert: Die Fäden, durch die sich jedes Seiende im Universum der Natur in eine Tiefendimension hinein erstreckt, »zu durchschneiden, sei es dadurch, daß man die Sphäre, in der sie enden, in klaren Begriffen zu entwickeln und eine starre Ontologie und Dogmatik über sie aufzustellen sucht, sei es dadurch, daß man den Menschen auf das sinnlich Greifbare der Dinge verweist, ist gleichsam eine Ertötung des geistigen Lebens und eine Fälschung der vollen Wirklichkeit. Den ersten Weg ging in der Geschichte alle rationale Metaphysik und Theologie; den zweiten aller Positivismus und Agnostizismus. Sie sind beide gleich ehrfurchtslos! Die Ehrfurcht ist aber die einzige und notwendige Haltung des Gemütes, in der diese >Fäden ins Unsichtbare hinein< zur geistigen Sichtbarkeit gelangen. Wo sie künstlich ausgeschaltet wird oder gar nicht vorhanden ist, da nimmt die Welt der Werte einen Charakter der Flächenhaftigkeit an und einen Charakter der All-Verschlossenheit, die sie entleeren, und die zugleich jeden Reiz zum Fortleben und zum Eindringen in die Wertewelt, jeden Reiz des Fortentwickeins unserer Existenz im tieferen Eindringen in die Welt vernichten. Wir vermögen nur wahrhaft zu >leben<, indem wir das je-
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weilig Sicht-Fühl-Greifbare unserer Umwelt von einer in tausend Stufen sich abdunkelnden Sphäre von Gestaden umschwebt fühlen, die uns zur Entdeckung reizen und locken... Die Welt wird sofort ein flaches Rechenexempel, wenn wir das geistige Organ der Ehrfurcht ausschalten. Sie allein gibt uns das Bewußtsein der Tiefe und Fülle der Welt und unseres Ichs und bringt uns zur Klarheit, daß die Welt und unser Wesen einen nie austrinkbaren Wertreichtum in sich tragen; daß jeder Schritt uns ewig Neues und Jugendliches, Unerhörtes und Ungesehenes zur Erscheinung bringen kann. «180
Unschwer ließe sich nachweisen, daß nur die von Scheler getadelte wissenschaftliche Durchschnittshaltung ehrfurchtslos ist, daß aber die Spitzen der Wissenschaft im Bereich der Astronomie, der naturwissenschaftlichen Kosmologie, der Atomphysik, der Biologie, teilweise auch der Psychologie, also die großen wissenschaftlichen Entdecker und Forscher stets von einer tiefen Ehrfurcht gegenüber der Natur erfüllt, ja überzeugt waren, ohne dieses geistige Organ nicht in die Tiefen der Wirklichkeit eindringen zu können. Wir hörten Albert Einstein sagen: »Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot.« Auch Scheler sieht die Spaltung zwischen »Pionier-Wissenschaft« und »Durchschnitts-Wissenschaft«, wie diese letztere in Medien und Schulen dem säkularistischen, technokratischen, utilitaristischen Zeitgeist entsprechend dargeboten wird: »Wo die Wissenschaft ihre Gipfelpunkte erreichte, gerade da haben ihre Träger das geistige Organ für das Unsichtbare, zu dem auch die Ehrfurcht gehört, mit dem in ihnen treibenden Logos zu einer Einheit verschmolzen... Denken wir den Prozeß der Erkenntnis vollendet: Müßte dann nicht alles wieder pures Wunder sein? Es ist nicht die Wissenschaft der Forscher, sondern jene der rationalistischen, systemgierigen Schulmeister, welche in Gegensatz zur Ehrfurcht gerät. Wer nicht für Schüler >darstellt< und >beweist<, sondern >findet< und >forscht<, der hat jede Sekunde mit dem Phänomen zu kämpfen, daß seine Anschauung die Grenzen seines Verstandes überflutet und daß ihm sein Gefühl schon Tatsachen und
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Verhältnisse verrät, von denen er sich noch keinen >Begriff< machen kann. Was wir die >Wissenschaft< nennen, verdankt historisch seinen Ursprung einer allmählichen Berührung des staunenden, ehrfürchtigen, metaphysischen Geistes mit dem Streben nach nutzbaren Regeln zur Herrschaft über die Materie: eine Berührung, die sich auch in der langsamen Verschmelzung eines Standes der Freien mit einem solchen der Gewerbetreibenden darstellt. Nur beides zusammen konnte das eigentümliche Produkt >Wissen-schaft< erzeugen.« Gerade in bezug auf die Astronomie sagt Scheler mit Recht: »Prüft man näher die mannigfaltigen Epochen des Fortschritts, z. B. der Astronomie, so wird man an ihrer Quelle stets eine neue und tiefere Ehrfurcht vor dem Unsichtbaren gewahren ... Es war also nicht zu viel, sondern zu wenig echte Ehrfurcht vor dem Göttlichen und der Welt, was den Fortschritt der Astronomie< gehemmt hatte.«181
Wissenschaft als »Pionier-Wissenschaft«, die, dem Gesagten entsprechend, mit Ehrfurcht gepaart ist und sein muß und die der Versuchung der demiurgischen Hybris-Haltung, die nur erkennen will, um auszunutzen, widersteht, trägt also zur Vollendung der Sinngestalt der Natur bei, indem sie ihre Seinstiefe und Wertfülle immer weiter erforscht und entdeckt. Aber überhaupt jeder Mensch, insbesondere der öko-religiöse Mensch, der ja heute auch Pionier, nämlich bei der Realisierung einer neuen Geisteshaltung gegenüber der Natur sein muß, erhebt die Natur in den ihr zukommenden Seinsrang, wenn er sich intuitiv-meditativ den imposanten Reichtum der Natur, die Vielfalt ihrer Bezüge, ihren sinnvollen Gesamtzusammenhang, der sich ins Größte wie ins Kleinste erstreckt, die Erhabenheit ihrer Gesetze, die höhere Logik ihrer Seinsordnungen und -Strukturen und die ansprechende und bewegende Fülle ihrer Wertaspekte zum Bewußtsein bringt, ihnen sich zu assimilieren, sie sich — im Sinne des Wachstums des inneren Seins — anzueignen, zu integrieren sucht. Ist ihm dies einigermaßen gelungen, dann wird er, erfüllt vom Wertekosmos der Natur, aus seiner Innerlichkeit heraustreten und in der »Welt«, in der öffentlichen Arena alles tun, um der Natur die Achtung und Geltung zu verschaffen, die ihr gebührt.
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Erst mit dieser praktischen Realisation hat er alles in seinen Möglichkeiten Stehende für die Vollendung der Sinngestalt der Natur getan. Er wird also »praktisch«, aktiv, initiativ werden müssen, um z. B., wovon in einem weiteren Abschnitt noch die Rede sein wird, die Interessen und Rechte der Tiere und Pflanzen gebührend zu vertreten.
Aber verweilen wir noch einen Augenblick bei der Erhebung der Natur in der Fülle ihrer Wesens- und Wertaspekte in unser Bewußtsein. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß das Universum seit dem Urknall und in vielen seiner wichtigsten Prozesse darauf ausgerichtet ist, eine erkenntnismäßige, bewußtseinsmäßige Komponente zu entwickeln, zu realisieren. Das Universum der Natur hat eine innere, in seinem Kern liegende Hinordnung auf das Erkennen. Es »will« sich gleichsam zur Erkenntnis seiner selbst bringen. Im Menschen — und nicht nur in ihm, sondern in jedem denkenden Wesen irgendwo in diesem unerhört großen Universum — kommt die Natur zur Klarheit über sich selbst, ihren (zurückgelegten) Weg, ihr Wesen, ihren Sinn und ihre Bestimmung. Der Mensch ist »die zum Bewußtsein ihrer selbst gelangte Evolution« der Natur, hörten wir J. Huxley sagen. Erst im menschlichen Erkennen, nicht im Tier, dem das Welt- und Selbstbewußtsein und die damit verbundenen Vermögen der Meditation, Kontemplation und Reflexion fehlen, wird die Natur sich ihrer Evolution und der Sinnrichtung dieser Evolution ganz bewußt, findet sie sozusagen eine neue Innerlichkeit auf höherem erkenntnis-, begriffs- und sprachmäßigen Niveau.
Da das Tier keine von einer Instanz in ihm selbstmächtig ausgelöste Objektivierungsfähigkeit der Innen- und Außenwelt als selbständiger Größen, keine Möglichkeit echten Sich-Distanzierens von der es (auch noch dort, wo es flieht) widerstandslos durchflutenden kosmischen Wirklichkeit besitzt, weil es also in die Raum-Zeit hineinverwoben ist, deshalb hat es auch keinen Distanz-, keinen Zeit-, Ziel-, Fortschritts-, Geschichts-, Seins- und Wertbegriff. Damit ist gesagt, daß die Evolution der Natur ohne den Menschen nicht zum Bewußtsein ihrer selbst als eines stammesgeschichtlichen, erkenntnisgewinnenden Prozesses gelangen könnte.
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Das dunkle, letztlich aber doch folgerichtige Drängen, die sich zu immer höheren, psychisch vollkommeneren Lebensformen herauf tastende Strebigkeit, die wir Evolution nennen, wird im Menschen gleichsam »erlöst«, weil als solches erkannt, begriffen, verstanden. Daß diese Strebigkeit, dieses Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten, diese keimhafte Wahl zwischen verschiedenen Chancen des Aufstiegs ein schattenhafter Anfang von Geschichte war, daß diese Geschichte nicht sinnlos war — dies alles »weiß« die Evolution in reflex-begrifflicher Form erst in dem und durch den Menschen. So hebt sich die Natur im Menschen zur (erkannten) Würde ihrer eigenen Geschichte empor.
Unübertrefflich hat Goethe die Art und Weise ausgedrückt, wie sich die Natur im Menschen zur Vollgestalt ihres intendierten Sinnes bringt. In ihm empfindet sie sich, in ihm weiß sie von sich.
»Freue Dich, höchstes Geschöpf der Natur!
Du fühlst Dich fähig, ihr den höchsten Gedanken,
zu dem sie schaffend sich aufschwang, nachzudenken!«182
An anderer Stelle: »Wenn die gesamte Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt — dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.«183
K. Meyer-Abich kommentiert die zweite der beiden Aussagen Goethes treffend so: »Das Weltall kann sich m. E. selbst empfinden, nämlich im Menschen, wenn er ganz Mensch im Ganzen der Welt ist. In Kepler hat es sich empfunden und in Goethe gleichermaßen. Als ein Ausdruck des Ganzen nehmen auch wir am Leben Teil. Wir haben es weder mit uns selber noch nur mit den Mitmenschen und uns selber zu tun, sondern die menschliche Gesellschaft ist Teil eines Ganzen, der Natur, die >sich mit uns forttreibt<.«184
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Die Natur selbst drängt also den Menschen, durch sein Erkennen ihr Sinngeber zu sein. Er ist, wie Teilhard de Chardin richtig gesehen hat, der »Schlüssel« (zum Begreifen) des Universums.185 Sein Bewußtsein ist Sammel-, Mittel- und Brennpunkt der gewaltigen kosmischen Massen, Prozesse, Ereignisse, denen er durch sein Erkennen ein neues, gewissermaßen vergeistigtes, weil vom menschlichen Denken durchlichtetes, gewürdigtes Sein verleiht. Der Mensch vermag grundsätzlich das ganze All der Natur in sein Bewußtsein aufzunehmen. Aber meist sehen wir dabei nur das, was der Mensch der Natur gibt. Vergessen aber, daß sie es selbst ist, die den Menschen aufbaut und gleichsam für sich herrichtet, damit er ihr Bewußtseins- und Erkenntnisorgan sei, damit er ihr den gebührenden Ausdruck verleihe und den Sinn offenbare, den sie in sich trägt, der latent immer schon in ihr steckt. Auch nach seinem erkenntnismäßigen Heraustreten aus der Biosphäre ist der Mensch ja weiterhin getragen von dem gewaltigen Lebens- und kosmischen Werdestrom, der auch noch sein höchstes Bewußtsein und seine vergeistigtesten Taten energetisch mitspeist und aufrechterhält. Zwar scheint sich der Mensch gerade mittels seines Erkennens außerhalb dieses Lebensstromes zu stellen. Aber gerade dadurch gewinnt er einen festen Standpunkt und vermag so seine Stellung gegenüber Leben, Natur und Kosmos wirklichkeitsentsprechend zu bestimmen. Auf dieser Grundlage kann er nun in ein neues, andersartiges Einheitsverhältnis zur Welt treten, in eine Einheit, die zwar jedes naive Unmittelbarkeitsverhältnis zur Natur im Sinne des Verhaftetseins an sie, des Aufgehens in ihr ausschließt, die aber um so inniger und tiefer zu sein vermag, als sie durch die wertfühlende Innerlichkeit des menschlichen Geistes gestiftet wird, die alles in sich aufzunehmen und zu assimilieren imstande ist ohne die Gefahr der geringsten Beschädigung oder gar der Zerstörung. Der Mensch ist also auch insofern Sinngeber der Natur, als sie ihm durch ihr Drängen, durch ihre vorwärts- und aufwärtstreibende Energie die Aufgabe der Verinnerlichung des Seienden, der Vergeistigung der Natur durch deren Hereinnahme in ein wertfühlendes Bewußtsein zuweist.
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In der Tat: Die unerhörte Mannigfaltigkeit der von der Evolution hervorgetriebenen Lebensformen, die Grandiosität und gewaltige Amplitude des kosmischen Entwicklungsgeschehens, die Schönheit und Erhabenheit des unbelebten und belebten Universums wären nicht das, was sie sind, wären sinnlos ohne ein Bewußtsein, welches all dies zu würdigen, ja zum Teil erst zu seiner eigentlichen Würde und Schönheit emporzuheben vermag.
Bei all diesen Ausführungen über die Würde des menschlichen Bewußtseins und Erkennens darf gerade im Rahmen einer Ökologischen Religion (die ja, wie wir sahen, Natur-Religion auf einer höheren Stufe des menschheitlichen Bewußtseins ist) nie vergessen werden, daß es die Natur selbst ist, die sich im Menschen zur Geltung bringt. Allzulange waren wir dem Irrtum der Spaltung von Geist und Natur, von Denken und Materie verhaftet (der berühmte cartesianische Dualismus von res cogitans — res extensal) und haben vergessen, daß auch das Denken, daß auch das Bewußtsein ein naturgeschichtlicher Prozeß ist. Unser Denken, unsere Selbstbewußtwerdung ist das Denken der Natur, ist ihr eigener Prozeß des zum Bewußtsein Gelangens. »Treibt die Natur sich mit uns fort, so ist nicht nur sie unser Leben, sondern wir wiederum sind es, die ihrem Leben so Raum geben sollen, daß sie auf eine ganz besondere Weise wirklich wird, nämlich in uns zum Bewußtsein ihrer selbst und so zu sich kommt. Wenn wir die Welt durchlaufen, läuft sie auch durch uns hindurch. Dies ist weder nur vom Ganzen noch nur vom Teil her gedacht, sondern es geht um beides ... In der erinnernden Vergegenwärtigung der Naturgeschichte, die in uns fortlebt, erfahren wir uns als Natur, die im Menschen geschichtlich wird.«186 Die Natur in ihrem Entwicklungsprozeß selbst ist es, die den (scheinbaren) Gegensatz von (vermeintlich seelen- und geistloser) Materie und Geist in sich, und besonders im Menschen, überwindet, ihn als klassischen Irrtum überzeugend demonstriert.
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Die Evolution der belebten Natur auf unserem Planeten ist gekennzeichnet nicht nur durch den Aufstieg zu immer höherem Bewußtsein, sondern auch durch eine Zunahme der Autonomie und Umweltunabhängigkeit in dem sich immer höher organisierenden Tierreich. Diese Entwicklung konnte, ohne sinnlos zu bleiben, auch bei den höher und höchstorganisierten Tieren nicht haltmachen, weil diese trotz ihrer größeren Umweltunabhängigkeit und gesteigerten individuellen Autonomie eben nicht frei im eigentlichen Sinne geistiger Ursächlichkeit sind, die ohne Selbstbewußtsein und Reflexion nicht möglich ist.187
Auch mit seiner im Verhältnis zu allen anderen terrestrischen Lebewesen relativ höchsten Freiheit trägt also der Mensch zur Vollendung der Sinngestalt der Natur bei. Ohne den Menschen bliebe die Steigerung der tierisch-sinnlichen Innerlichkeit, des Bewußtseins, das trotzdem kein Welt- und Selbstbewußtsein wird, der Autonomie und Umweltunabhängigkeit, die sich dennoch nicht zur eigentlichen geistigen Freiheit und Selbstbestimmung erheben, letztlich sinnlos. Ja, es gäbe im Grunde nicht einmal einen Maßstab, um die Bewußtseinszustände verschiedener Tiergruppen auf der Stufenleiter der Evolution als höher oder niedriger zu bezeichnen. Das soeben Gesagte gilt auch von allen anderen Kennzeichen (Kriterien) des biologischen Aufstiegs.
Die Natur drängt im Rahmen der ganzen Evolution auf größere Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung der Individuen. Die Evolution ist auch ein Individualisationsprozeß. Im Menschen erreicht sie in dieser Hinsicht einen (relativen) Kulminationspunkt. Der Kosmos der Natur stellt einen — wenn auch nicht statisch, sondern dynamisch zu denkenden, durch Höherentwicklung errichteten — Stufenbau auch in bezug auf die Freiheit des Willens dar, d.h., daß jede höhere Stufe der Weltwirklichkeit einen Fortschritt zur Willensfreiheit hin bedeutet. Die unterste Stufe des kosmischen Seins, die Materie, ist als Kraft, Wirksamkeit, Energie, Bewegung, Ursächlichkeit das niedrigste Analogon zum menschlichen Willen. Die Lebensschicht nähert sich als Selbstbewegung und Selbstgestaltung aus einem Inneren heraus, als Selbstentwicklung und gewisse Selbstursächlichkeit schon weit mehr der Selbstbestimmung und freien Ursächlichkeit des Geistes. Die höhere Stufe im Bereich des Lebens, wie sie die Tiere, vor allem die höher organisier-
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ten Tiergruppen, bilden, bedeutet in der Form der Begierde, des Begehrens durch eine sinnliche Innerlichkeit, die stärkste Annäherung an den geistigen Willen des Menschen. Die Freiheit des Menschen bildet die zumindest keimhaft höchste Stufe des Universums der Natur, sie ist zugleich Sinn und Ziel aller untergeistigen Entwicklungskräfte und Ursächlichkeiten des Kosmos; Sinn und Ziel in dem Maße, daß diese für den spezifisch menschlichen Willen — und d.h. für einen Willen, der ohne ein System materiellvital-sinnlicher Kräfte gar nicht seine beabsichtigte Wirkung aus sich hervorzubringen und in der Weltwirklichkeit herzustellen vermöchte — die Schaffens- und Existenzgrundlage bewirken. Man kann den Fortschritt, den jede höhere Seinsschicht der Wirklichkeit in bezug auf die Annäherung an den freien Willen bedeutet, an solchen Begriffen wie Kraft, Ursächlichkeit, Aktivität, Entwicklung, Bewegung, Spontaneität, Leben usw. aufweisen. Man kann nachweisen, daß die diesen Begriffen entsprechenden Realitäten in den je höheren Seinsschichten sich immer voller verwirklichen, um dann in der menschlichen Freiheit mit ihrer (relativen) Selbsttätigkeit, Selbstursächlichkeit, Selbstbewegung und Selbstentwicklung ihren eigentlichen und vollen Sinn zu erreichen.
Der Makrokosmos der Natur hat sich im Menschen einen »Mikrokosmos« geschaffen, einen zentrierten Miniatur-Spiegel seiner selbst. Wie es nämlich die Eigenart des Menschen ist, alle Schichten des Kosmos in sich zu tragen und zu vereinigen, so fließen auch in seine freie Aktivität alle (soeben kurz erwähnten) Wirkkräfte dieser Schichten ein, freilich so, daß ihnen die freie Ursächlichkeit des Willens neuen Sinn, neue Richtung und Form verleiht. Wenn wir also sagen, der Mensch sei auf Grund seiner Freiheit ein Mikrokosmos, so soll dies bedeuten, daß er in einem gewissen Sinn alle Wirkkräfte des Kosmos, genauer: gleichsam einen Extrakt all dieser Kräfte, in sich vereinigt. Die gewaltigen, aber blinden und gebundenen Kräfte des Universums und der Lebensevolution werden auf dem Höhepunkt ihrer gewaltigen Aufwärtsbewegung, nämlich im Menschen, zur Freiheit entbunden und »erlöst«.
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Die Kräfte und Ursächlichkeiten der untergeistigen Schichten finden in ihm Sinn und Vollendung: sie partizipieren an der geistigen Freiheit, sie ordnen sich höheren Normen unter und werden dadurch selber erhöht. So ist der Mensch Sinngeber des Kosmos der Natur auch durch seine Freiheit. Die Freiheit des menschlichen Willens versittlicht die Sinnlichkeit, vergeistigt die materiellen Kräfte, vermag die naturhafte Selbstsucht in Liebe umzuwandeln, löst die dumpfe Naturgebundenheit des Tierischen in uns und reißt dieses mit hinein in die Bewegung zu den hohen und universalen Zielen des Geistes: der Wahrheit, (sittlichen) Gutheit und Schönheit. Bleibt zu hoffen, daß die die Spitze der Evolution bildende Willenskraft des Menschen sich in Zukunft auf ihre Aufgabe, Sinnvollenderin aller Weltkräfte zu sein, besinnt und den verheerenden, umweltvernichtenden Folgen des ökonomischen Egoismus und Eigeninteresses der Völker und Staaten endlich Einhalt gebietet, ehe es gänzlich zu spät ist. Der Sinn der Evolution auf unserer Erde, vielleicht sogar der der ganzen Welt, steht auf dem Spiel. »Von uns hängt es ab, ob die Natur die Chance der Freiheit, die sie im Menschen hat, wahrnimmt oder verfehlt.«188
Der Mensch wurde eben als »Sinngeber des Kosmos der Natur« apostrophiert. Auch dabei darf nicht übersehen werden, daß es die allumfassende, alles durchdringende, überall waltende Natur mit ihrer inneren Weisheit ist, die sich in dem und durch den Menschen (durch sein Bewußtsein, seine Freiheit) ihren Sinn gibt. Der Mensch könnte den von der (Gesamt-)Natur erhaltenen Auftrag, Mitvollender ihrer Sinngestalt zu sein, gar nicht erfüllen, wenn er sich nicht ständig an der Weisheit der Natur, dem Reichtum ihrer Sinnbezüge, ihren Werten und Ordnungsstrukturen orientieren würde und sich ihnen anzugleichen suchte. Mit Recht sagt der Gießener Professor für die Philosophie der Naturwissenschaft, B. Kanitscheider, am Schluß seines von Detailkenntnissen und -überlegungen fast ausufernden Werkes über die Geschichte und Systematik kosmologischer Hypothesen und Theorien: »Sicher nicht erst seit Kants Worten über den gestirnten Himmel haben viele Menschen sich immer wieder von der Erhabenheit des Kosmos beeindrucken lassen.
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Gerade in einer Zeit der Motiv- und Orientierungslosigkeit, da so viele Menschen nach einer Aufgabe, einem Sinn und dergleichen suchen, ist es vielleicht angebracht, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, in einem wie großartigen, reichstrukturierten, mit vielfach noch geheimnisvollen Objekten bestückten und dennoch verstehbaren Universum wir leben. Wie sehr könnte die grenzenlose Langeweile, die so vielen Menschen zur Plage geworden ist, gemildert werden, wenn sie sich bewußt machten, daß unsere kurze Lebensspanne sinnvoll dadurch genützt werden kann, daß wir ein wenig von unserer großräumigen Einbettung, von unserem Universum, zu verstehen suchen.«189)
Auch Bertrand Russell, wiewohl einer der kritischsten, ja skeptischsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, hält das demütige Lernen vom Universum der Natur für eine Grundvoraussetzung intellektueller und ethischer Menschwerdung. »Wenn wir es nicht fertigbringen, unsere Interessen zu erweitern, bis sie die ganze Außenwelt umfassen, sind wir in der gleichen Lage wie die Garnison einer belagerten Festung: wir wissen, daß der Feind uns nicht entkommen lassen wird und daß die Kapitulation letzten Endes unvermeidlich ist... Und wenn unser Leben groß und frei sein soll, müssen wir diesem Streit und unserer Gefangenschaft in ihm entkommen. Ein Ausweg ist die philosophische Kontemplation... Jeder Gewinn an Wissen ist auch eine Erweiterung unseres Selbst... In der Kontemplation... gehen wir vom Anderen aus, und durch seine Größe werden wir selber zu etwas Größerem gemacht. Der betrachtende Geist gewinnt einen Anteil an der Unendlichkeit der von ihm betrachteten Welt... Er wird seine Ziele und Wünsche als Teile des Ganzen betrachten... Die Unparteilichkeit, die in der Kontemplation das unvermischte Verlangen nach Wahrheit ist, ist dieselbe Qualität des Geistes, die sich im Handeln als Gerechtigkeit ausdrückt, und im Fühlen als jene umfassende Liebe, die allen gelten kann und nicht nur jenen, die man für nützlich oder für bewunderungswürdig hält. So vergrößert die Kontemplation nicht nur die Gegenstände unseres Denkens, sondern auch die unseres Handelns und unserer Neigungen: Sie macht uns zu Bürgern der Welt und nicht nur zu Bewohnern einer um-
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