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Friedrich Nietzsche 1888
Ecce Homo - Wie man wird, was man ist
An diesem vollkommenen Tage An diesem vollkommnen Tage, wo alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Leben: ich sah rückwärts, ich sah hinaus, ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal. Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich durfte es begraben, — was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich. Die Umwertung aller Werte, die Lieder Zarathustras, die Götzen-Dämmerung, mein Versuch, mit dem Hammer zu philosophieren — alles Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs! Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? — Und so erzähle ich mir mein Leben. |
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Inhalt Vorwort von Friedrich Nietzsche (461)
1.
Warum ich so weise bin (467)
4.
Zur Geburt der Tragödie (515) 5. Warum ich ein Schicksal bin (567) Kriegserklärung # Der Hammer redet |
Einführung von Jost Perfahl
Nietzsche faßte am 15. Oktober 1888 - seinem vierundvierzigsten Geburtstag - den Entschluß, eine Selbstbiographie zu schreiben. Am 14.11.1888 schrieb er an Salis-Marschlin:
"Inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück Literatur, das den Titel führt: <Ecce homo — Wie man wird, was man ist>, auch schon wieder mit Flügeln begabt und flatterte, wenn mich nicht alles täuscht, in der Richtung von Leipzig ... dieser homo bin nämlich ich selbst, eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schrecken zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen. Das letzte Kapitel hat zum Beispiel die unerquickliche Überschrift: <Warum ich ein Schicksal bin>. Daß dies nämlich der Fall ist, wird dermaßen stark bewiesen, daß man am Schluß bloß noch als <Larve>, bloß noch als <fühlende Brust> vor mir sitzen bleibt."
Die Absicht, die Nietzsche mit dieser Selbstdarstellung vorrangig verfolgte, war, durch eine bis an die äußersten Grenzen des bisher Gewohnten gehende Form auf sich aufmerksam zu machen und in der Öffentlichkeit das "absurde Schweigen" zu brechen, dem gerade seine letzten Werke begegnet waren.
Ausführlicher, auf die Hauptthemen seiner Autobiographie - die auch für das Verständnis seiner darin besprochenen eigenen Werke unumgänglich ist - eingehend, schrieb er am 20. November an Georg Brandes:
"Ich habe jetzt mit einem Zynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt. Das Buch heißt <Ecce homo> und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten; es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen alles, was christlich oder christlich-infekt ist, bei denen einem Sehen und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christentums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz vorfahren, von dem kein Gegner des Christentums auch nur die Existenz vermutet hat. — Das Ganze ist Vorspiel der <Umwertung aller Werte>, des Werks, das fertig vor mir liegt: ich schwöre Ihnen zu, daß wir in zwei Jahren die ganze Erde in Konvulsionen haben werden. Ich bin ein Verhängnis. — Erraten Sie, wer in <Ecce homo> am schlimmsten wegkommt? Die Herren Deutschen: Ich habe ihnen furchtbare Dinge gesagt ..."
Nach eigenen Angaben Nietzsches an seinen Verleger Naumann erfolgte die Niederschrift des Ecce homo zwischen 15. Oktober und 4. November 1888. Nietzsche schickte das Druckmanuskript zwischen 6. und 13. November an den Verleger Naumann nach Leipzig. Es kam aber in der Folgezeit bis 2. Januar 1889, dem Beginn von Nietzsches geistiger Umnachtung, noch zu Nachträgen, Änderungen und Revisionen. Nietzsches Freunde und Angehörige verzichteten zunächst auf die Veröffentlichung, und das Werk erschien erstmals 1908 in einer Liebhaberausgabe in kleiner Auflage.
In die vorliegende Ausgabe aufgenommen wurde die 1969 im Peter-Gast-Nachlaß (heute im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar) wiederentdeckte letztgültige Fassung des Abschnitts 3 im Kapitel „Warum ich so weise bin", die erstmals in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches, Berlin 1967 ff. (1969), hg. von G. Colli und M. Montinari, bzw. der dieser folgenden Kritischen Studienausgabe, Berlin/München 1980, anstelle des bisher bekannten Textes abgedruckt wurde.
Jost Perfahl
Vorwort von Friedrich Nietzsche
1
In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin.
Im Grunde dürfte man's wissen: denn ich habe mich nicht "unbezeugt gelassen". Das Missverhältnis aber zwischen der Grösse meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen ist darin zum Ausdruck gekommen, dass man mich weder gehört, noch auch nur gesehn hat.
Ich lebe auf meinen eignen Credit hin, es ist vielleicht bloss ein Vorurteil, daß ich lebe?... Ich brauche nur irgend einen "Gebildeten" zu sprechen, der im Sommer ins Oberengadin kommt, um mich zu überzeugen, dass ich nicht lebe ... Unter diesen Umständen giebt es eine Pflicht, gegen die im Grunde meine Gewohnheit, noch mehr der Stolz meiner Instinkte revoltirt, nämlich zu sagen: Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!
2.
Ich bin zum Beispiel durchaus kein Popanz, kein Moral-Ungeheuer, - ich bin sogar eine Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat. Unter uns, es scheint mir, dass gerade Das zu meinem Stolz gehört. Ich bin ein jünger des Philosophen Dionysos, ich zöge vor, eher noch ein Satyr zu sein als ein Heiliger. Aber man lese nur diese Schrift. Vielleicht gelang es mir, vielleicht hatte diese Schrift gar keinen andren Sinn, als diesen Gegensatz in einer heitren und menschenfreundlichen Weise zum Ausdruck zu bringen.
Das Letzte, was ich versprechen würde, wäre, die Menschheit zu "verbessern". Von mir werden keine neuen Götzen aufgerichtet; die alten mögen lernen, was es mit tönernen Beinen auf sich hat. Götzen (mein Wort für "Ideale") umwerfen - das gehört schon eher zu meinem Handwerk. Man hat die Realität in dem Grade um ihren Werth, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog... Die "wahre Welt" und die "scheinbare Welt" - auf deutsch: die erlogne Welt und die Realität ... Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über der Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden bis zur Anbetung der umgekehrten Werthe, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht auf Zukunft verbürgt wäre.
3.
Wer die Luft meiner Schriften zu atmen weiß, weiß, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer - aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt! - Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge - das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war. Aus einer langen Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher moralisirt und idealisirt wurde, sehr anders ansehn als es erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer grossen Namen kam für mich an's Licht. - Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser. Irrthum (- der Glaube an‘s Ideal -) ist nicht Blindheit, Irrthum ist Feigheit... Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntniss folgt aus dem Muth, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich ... Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloss Handschuhe vor ihnen an ... Nitimur in vetitum: in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit. -
4.
Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein <Zarathustra>. Ich habe mit ihm der Menschheit das größte Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist. Dies Buch, mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg, ist nicht nur das höchste Buch, das es giebt, das eigentliche Höhenluft-Buch — die ganze Thatsache Mensch liegt in ungeheurer Ferne unter ihm —, es ist auch das tiefste, das aus dem innersten Reichtum der Wahrheit heraus geborene, ein unerschöpflicher Brunnen, in den kein Eimer hinabsteigt, ohne mit Gold und Güte gefüllt heraufzukommen.
Hier redet kein "Prophet", keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muss vor Allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig Unrecht zu thun. "Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt "
Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süss: und indem sie fallen, reisst ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen.
Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süsses Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und Nachmittag –
Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht "gepredigt", hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort, eine zärtliche Langsamkeit ist das tempo dieser Reden. Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten; es ist ein Vorrecht ohne Gleichen hier Hörer zu sein; es steht Niemandem frei, für Zarathustra Ohren zu haben ... Ist Zarathustra mit Alledem nicht ein Verführer? ... Aber was sagt er doch selbst, als er zum ersten Male wieder in seine Einsamkeit zurückkehrt? Genau das Gegentheil von dem, was irgend ein "Weiser", "Heiliger", "Welt-Erlöser" und andrer décadent in einem solchen Falle sagen würde ... Er redet nicht nur anders, er ist auch anders ...
Allein gehe ich nun, meine Jünger!
Auch ihr geht nun davon und allein!
So will ich es.Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra!
Und besser noch: schämt euch seiner!
Vielleicht betrog er euch.Der Mensch der Erkenntnis muss nicht nur seine Feinde lieben,
er muss auch seine Freunde hassen können.Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.
Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?Ihr verehrt mich, aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt?
Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage!Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra!
Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen Gläubigen!Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich.
So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.Nun heisse ich euch,
mich verlieren und euch finden;
und erst,
wenn ihr mich alle verleugnet habt,
will ich euch wiederkehren ...
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