Klaus Novy + Michael Prinz 

Illustrierte Geschichte

der Gemeinwirtschaft 

Wirtschaftliche Selbsthilfe
in der Arbeiter­bewegung
von den Anfängen bis 1945

 

1985 im Verlag Dietz Nachf, Bonn 

Klaus Novy / Michael Prinz :  Illustrierte Geschichte der Gemeinwirtschaft   (1985)    Wirtschaftliche Selbsthilfe in der Arbeiterbewegung - von den Anfängen bis 1945  

1985   239 Seiten  

DNB.Buch 

wikipedia  Novy 1944-1991 (56)

wikipedia  Prinz  1952-2016 (64)

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detopia:

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2014: 125 Jahre Genossenschaftsgesetz 

Sehr schönes, anschauliches Buch über die Anfänge aller deutschen Arbeiter­bewegungen. 

Inhalt

Vorwort  (9)  

Einleitung: 
Arbeiterbewegung und Genossenschafts-
bewegung
  (11) 

Wirtschaftliche Selbsthilfe, Genossenschaften, Gemeinwirtschaft  (12)

Ausblick:
Die Entwicklung nach 1945  (231)

 

Anmerkungen (235)

Bildnachweise (237)

Literatur  (239)  

Farbtafeln:

# Genossenschaftliche Selbsthilfe — die Anfänge der Gemeinschaft (49) 
# Christliche Konsumgenossenschaften in der Weimarer Republik (69)  
# Gemeinwirtschaftsbewegung im Bau- und Wohnungssektor (105)  
# Sozialistische Konsumgenossenschaften der Weimarer Republik (145)  
# Gemeinwirtschaftskultur in der Weimarer Republik (185)  
# "Von der 'Systemzeit' errichtet, von Hitler vernichtet" — Gemeinwirtschaft im Dritten Reich (205) 


1985 by Verlag Dietz Nachf, Bonn 
Vorderseite: Abbildung aus dem Konsumgenossenschaftlichen Volksblatt, ca. 1930; 
Rückseite: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn 
Layout: Hans-Jürgen Serwe, Aachen  #  Satz: Fotosatz Froitzheim, Bonn #  Repro: Keseberg & Liedtke, Köln # Druck: SDV Saarbrücken  #  ISBN 3-8012-0111-2 # Die Bilder zusammengestellt von Bimberg, Mersmann, Novy,  Prinz.

 

 


Genossenschaften galten früher als dritte Säule der Arbeiterbewegung.

Dieser Band – die erste illustrierte Geschichte der Gemein­wirtschaft als Reformbewegung – versucht zweierlei sichtbar zu machen: 1) die Gemein­wirtschaft war entstehungs­geschichtlich ein politisches Handlungsfeld – Alternative und Ergänzung zum partei­politischen und gewerk­schaft­lichen Kampf. 

Tausendfach entstanden von unten her wirtschaftliche Selbst­hilfe­projekte als Versuch einer "positiven Ökonomie des demokratischen Sozialismus".  2)

Diese Gemein­wirtschaft war nie bloße Ökonomie, sondern immer auch Träger sozialer und kultureller Hoffnungen und wirklicher Neuerungen.

Daher die Namen: Hoffnung, Vorwärts, Befreiung, Ideal, Freie Scholle, Paradies, Reform, Fortschritt, Zukunft.

Klaus Novy,
geboren 1944, ist Professor für Planungs- und Bauökonomie an der Technischen Universität Berlin. Gründer und Mitarbeiter der Ausstellungsgruppe Genossenschaften im Wohnbund. Veröffentlichungen: Strategien der Sozialisierung 1978; Genossenschafts-Bewegung 1983; Anders Leben 1985; Lexikon des Sozialismus (Mitherausgeber) 1985.

Michael Prinz,
 geboren 1952, Hochschulassistent an der Fakultät für Geschichtswissenschaften an der Universität Bielefeld, Studium der Romanistik, Sozialwissenschaft und Geschichte. Veröffentlichungen und Hauptarbeitsgebiet: Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus.

1848 — 1918   (14)

Die produktiv-genossenschaftliche Sackgasse  (17)
Konsumgenossenschaften (18)  Etappen des Aufstiegs (18)  Entstehung und Entwicklung der konsum­genossenschaftlichen Organisationen seit 1850 (18)  Arbeiterbewegung und Konsumgenossenschaften (28)
Arbeiterwohnungsbau zwischen Selbsthilfe und Fremdhilfe (36)  Wohnungsreform von oben (36)  Wohnreform der organisierten Arbeiterschaft (46) 
Von der Fürsorge-Vereinigung zur Kapitalgesellschaft  (56)  Der langwierige Gründungsprozeß der gewerkschaftlich-genossen­schaftlichen "Volksfürsorge AG"  (56)  Die "Volksversicherung" im Deutschen Reich (56)  Die Gründungs­vorbereitungen (59)  Konflikte im Innenverhältnis: Gewerkschaften gegen Genossenschaften (61)

 

1918 — 1933   (64)

Gründerjahre — Die Wirtschaftsunternehmen der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik ... 67
Im Wechselbad der Konjunktur: die Konsumgenossenschaften ... 68

Wirtschaftskampf in der Bauwirtschaft — die Bauhüttenbewegung ... 82 
#  "Sozialisierung von unten" – in der Bauwirtschaft 83   #  Die Grenzen des Erfolges – Bauproduktiv­genossenschaften im Dilemma 84  #  Von der Bauproduktivgenossenschaft zur Bauhütte – das notwendige Ende der Belegschafts­selbstverwaltung 89  #  Vom Erfahrungs­austausch zur Vereinheitlichung – Gründung des Verbandes sozialer Baubetriebe 93  #  Nicht Genossen-, sondern Gemeinwirtschaft – die schwierige Solidarität 94  #  Dialektik des Organisations­zwanges – die produktiven Folgen des privaten Abwehr­kampfes 96

Auf dem Weg zu einer neuen Wohnungspolitik — gewerkschaftlicher Wohnungsverbund ... 99 
#  Verspätete Konzepte, vertane Chancen 99   #  Selbsthilfe der Wohnungssuchenden — Deutschlands größte wohnungs­baugenossen­schaftliche Gründungswelle 101  #  Entlastung und Einbindung durch vertikale Arbeitsteilung und Verbundbildung 103  #  "DEWOG-Bewegung" - freigewerkschaftlich-genossenschaftliche Wohnungsfürsorge 118   #  "DEWOG-Bewegung" und Probleme mit der Genossenschafts-"Basis" 121  #  "DEWOG-Bewegung" im ganzen Reichsgebiet 124   #  Stein um Stein — Sozialisierung. Funktion um Funktion - Schließung der Finanzierungslücke? 127  # Wohnungsreform der Weimarer Republik —  der visualisierte Pluralismus der Richtungs­gewerkschaften und anderer Träger 134  #  Weltwirtschaftskrise — die erzwungene Selbsthilfe ... 138

Aufstieg und Konsolidierung der Volksfürsorge ... 143  #   Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung 143  #  Der Ausbau der Unternehmens­verwaltung 153  #  Rationalisierung und Volksversicherung 155   #   Geschäftspolitik und Reformerwartungen der Gründer 157    #  Der Ausgang des "Experimentes Volksfürsorge" 162 

Banken der organisierten Arbeiterbewegung 165  #  Gewerkschafts-Fahrrad: Lindcar-Fahrradwerke AG 171  #  Moderne Technik in verstaubte Gewerkschaftsbüros — Büropa  174  #  Elektro-Hütte — auch die Metallarbeiter ziehen mit 176  #  Gewerkschaftstaxis - Gemeinwirtschaftsaufbau durch den Deutschen Verkehrsbund  177  #  "Wissen ist Macht" - eigene Druckmedien und ihr marktloser Vertrieb 179  #  Die Ökonomie der Arbeiterreise- und Freizeitbewegung 189

Gewerkschaftshäuser, Gemeinschaftsbauten und Volkshausbewegung ... 193  #
Ursprünge und Funktionen der Volks- und Gewerkschaftshäuser 193  #  Die strapazierte Ökonomie der Solidarität — der Preis des Gemeinschaftsluxus 193 # Volkshäuser — die "Kathedralen des Sozialismus" 198

 

1933 — 1945   (202)  

Die Gleichschaltung (204)  Im Streit um das konsumgenossenschaftliche Erbe (213)  Gewerkschaftliche Bau- und Wohnungswirt­schaft im NS-Staat (217)  Hartnäckige Strukturen: Die Volksfürsorge (224)  Aufstieg und Verwandlung der Arbeiterbank (228)

   

Vorwort  

9

Die Geschichtsschreibung der wirtschaftlichen Selbsthilfeunternehmen der Arbeiterbewegung ist jahrzehnte­lang vernachlässigt worden. Vorenthaltene Geschichte? Außer den Unternehmen selbst fühlte sich auch keine Institution für eine regelmäßige Archivierung zuständig. Die Archive der frühen Unternehmen aus der Zeit vor 1933 wurden durch NS-Herrschaft, Krieg und die Teilung Deutschlands zerstört, aufgelöst oder sind kaum zugänglich. Eine Hilfe waren die Archive der Volksfürsorge, des Bundes deutscher Konsumgenossenschaften, der Neuen Heimat sowie die Archive des DGB und der SPD, für die wir an dieser Stelle danken möchten.

Besonderer Dank gilt jedoch der Ausstellungsgruppe Genossenschaften im Wohnbund mit ihrem Archiv für Genossenschafts­kultur. Ohne deren Vorarbeit und das Bildmaterial aus privaten Beständen, das durch die "wachsenden Ausstellungen"* dort gewonnen werden konnte, hätte dieser Band in der reich illustrierten Form nicht entstehen können. Bei der Illustrierung haben U. Bimberg und A. Mersmann mitgewirkt.

* Vgl. beispielsweise das Buch zur Ausstellung in Nordrhein-Westfalen von K. Novy, B. Hombach, F. Karthaus, U. Bimberg, A. Mersmann, A. Schepers (Hrsg.): Anders Leben. Geschichte und Zukunft der Genossenschaftskultur, Berlin und Bonn 1985


10

Abb.: 

Werbeschrift der Konsum-Genossenschaft Berlin. 
Im Hintergrund sind die genossenschaftlichen Einrichtungen abgebildet: 
Kindererholungsheim, Großbäckerei, Zentrale

 


  11

Einleitung
Arbeiterbewegung und Genossenschaftsbewegung

 

In der Geschichte der Arbeiterbewegung haben Selbsthilfeunternehmen eine große, von Historikern wie Ökonomen bis in die jüngste Zeit fast völlig vernachlässigte Rolle gespielt. Was für die Fachwissenschaft gilt, trifft für eine breitere Öffentlichkeit allemal zu.

Wer, außer wenigen Spezialisten, weiß, daß in der Programmatik der frühen Arbeiterbewegung genossenschaftliche Selbst­hilfe­unternehmen einen höheren Stellenwert besaßen als etwa die gewerkschaftliche Organisation? Nur wenig bekannter dürfte die Tatsache sein, daß die mit der Arbeiterbewegung eng verbundene konsumgenossenschaftliche Bewegung bereits um die Jahrhundertwende eine Massenorganisation mit mehr als einer Million Mitglieder bildete. Konsumvereine erfaßten in der Weimarer Republik, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, annähernd vier Millionen Haushalte, während es alle drei großen Gewerkschaftsverbände zusammen gerade auf knapp sechs Millionen Mitglieder brachten.

Die Bandbreite der Selbsthilfeunternehmen in der Arbeiterbewegung war außerordentlich groß. Sie reichte von den Produktiv­genossen­schaften der 1840er Jahre über die Konsumvereine und Baugenossen­schaften der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis hin zu Banken, Versicherungsgesellschaften, Buchverlagen, ja selbst Fahrradfabriken, Reiseunternehmen u.v.a.m. in den zwanziger Jahren. Die Verengung dieses Spektrums auf verhältnismäßig wenige, zentralisierte Großunternehmen ist eine Entwicklung der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg — eine Entwicklung, die im übrigen viel mit dem scharfen Einschnitt durch den National­sozialismus und den Spätfolgen seiner Gesellschaftspolitik zu tun hat.

Die Geschichte der Selbsthilfeunternehmen der Arbeiterbewegung ist bis zum Ersten Weltkrieg und mit gewissen Einschränkungen auch noch bis zum Ende der Weimarer Republik eine Geschichte der Genossen­schaften.

Von allen möglichen Organisationsmustern entsprach die Genossenschaft am ehesten dem Bewußtsein, den Zielsetzungen und auch den Möglichkeiten der Arbeitnehmerschaft in dieser Zeit. Die Voraussetzungen für wirtschaftliche Gründungen, über die die Arbeiter verfügten, waren neben einem gemeinsamen materiellen Interesse vor allem ein Gemeinsamkeits­bewußtsein sowie ein gewisses Maß an organisatorischer Disziplin und praktischen Qualifikationen, aber nie, oder zumindest nur sehr selten, größere Kapitalien wie auch spezielle wirtschafts-organisatorische und juristische Kenntnisse. Die beiden zuletzt genannten Erfordernisse entstanden erst allmählich aus der erfolgreichen wirtschaftlichen Tätigkeit heraus oder aber mußten um den Preis des Autonomie­verlustes zunächst von bürgerlichen Gruppen geborgt werden.

Die genossenschaftliche Form wurde den Arbeitern indessen nicht nur durch ihre äußeren Lebensumstände aufgezwungen. In ihr spiegelte sich auch etwas von den Wertvorstellungen und Idealen der klassen­bewußten Arbeiterschaft wider. Die Idee der Genossenschaft stand für Gleichberechtigung, Mitsprache und Solidarität und erschien vielen Arbeitern damit als die alternative Wirtschaftsform zur kapitalistisch-hierarchischen Organisation der Produktion schlechthin.

Gleichwohl zeigten sich auch schon in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in einzelnen Bereichen strukturelle Grenzen des genossen­schaftlichen Selbsthilfeprinzips. Vor allem galt dies für solche Branchen, in denen es Arbeitnehmer als mögliche Unternehmensgründer mit einer kapitalkräftigen, großbetrieblichen Konkurrenz zu tun hatten. In solchen Fällen wurde besonders in den Weimarer Jahren die Initiative von "unten" zunehmend durch die Hilfestellung von "oben", sprich: das Eingreifen der gewerkschaftlichen Organisationen und ihrer Leitungen, ergänzt. Die ersten großen, nichtgenossenschaftlichen Arbeiter- und Gewerkschafts­unternehmen entstanden in diesen Jahren.

Was den genossenschaftlichen wie den kapitalgesellschaftlichen Wirtschaftsunternehmen der Arbeiterbewegung bis in die Weimarer Zeit hinein gemeinsam war und was schließlich diese Phase ihrer Entwicklung von der Zeit nach 1945 deutlich abhebt, ist ihre enge Einbindung in die verschiedenen sozialkulturellen Milieus der Arbeiterbewegung. Von dieser Einbindung her wurden Mitgliedschaft, Führungsstil, Selbstdarstellung, Geschäftspolitik und Zielsetzungen entscheidend mitbestimmt.

Der Nationalsozialismus hat diese Bindungen, in denen er Widerlager zu seiner Gleichschaltungspolitik erblickte und denen er nicht zu Unrecht eine große Bedeutung für das Identitätsgefühl und das Selbstbewußtsein der klassenbewußten Arbeiterschaft zuschrieb, planmäßig zerstört. Mit der NS-Herrschaft, ihren direkten wie ihren Spätfolgen, ging eine Epoche in der Geschichte der Selbsthilfeunternehmen zu Ende.


12

     

Die Großbäckerei 
der Berliner Konsumgenossenschaft 
in Tempelhof, 
errichtet 1916

   

Wirtschaftliche Selbsthilfe — Genossenschaften — Gemeinwirtschaft  

 

 

Es heißt immer, Genossenschaften seien Kinder der Not. Die Tatsache, daß der Entstehungs­zusammenhang von genossen­schaftlicher Selbsthilfe jedoch komplizierter ist, zeigt, daß der verallgemeinernde Satz, jede Not führe zu wirtschaft­licher Selbsthilfe, nicht stimmt. Der massenhafte Rückgriff auf Formen gemeinschaftlicher Selbstversorgung erfolgt schub- oder wellenartig; und diese Gründungswellen verlaufen keineswegs spiegelbildlich zu den "langen Wellen" von wirt­schaft­lichem Aufschwung und Niedergang, wie es manche Autoren gerne hätten.

Sicherlich, zum Mittel der gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Selbstversorgung wird man nur dann greifen, wenn andere Formen der Reproduktionssicherung ausgefallen, nicht vorhanden oder weniger attraktiv sind; wenn beispielsweise privatwirtschaftliche Marktangebote zu teuer oder schlecht sind, wenn die karitativen oder staatlich-fürsorgerischen Hilfen unter demütigenden Bedingungen gewährt werden oder das Werksangebot (Konsumanstalten, Werkswohnungen, Bierhallen) in den Pflichten zu industriefeudalistisch ist. 

Man wird sich auch nur dann im großen Maßstab auf die unmittelbare wirtschaftliche Selbsthilfe konzentrieren, wenn die Erfolgsaussichten dieser Bewegungsform einigermaßen hoch eingeschätzt werden. Oder umgekehrt: Gründungswellen von Genossenschaften und anderen Formen der Selbsthilfe entstanden meist dann, wenn andere, vertrautere Aktionsformen — wie der politische Kampf um Macht im Staat oder der gewerkschaftliche Zusammenschluß gegen die Übermacht des Privatkapitals — gescheitert oder zumindest auf Probleme gestoßen waren und des Ersatzes oder der

 

Wirtschaftliche Selbsthilfe ist eine Form gemeinschaftlicher Selbstversorgung, bei der ein Markt von den Beteiligten umgangen oder ausgeschaltet wird. Betroffene schließen sich zusammen — "Kooperation statt Konkurrenz" — und organisieren sich selbst das Angebot, das ihnen versagt oder ausbeuterisch zugemutet wird. Wie schon Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" herausstellten, beschränkte sich die Ausbeutung nicht auf den Bereich der Produktion: "Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten soweit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt bekommt, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.". 

Und damit sind die Ansatzpunkte der wirtschaftlichen Selbsthilfe der Arbeiter auch schon genannt:


13

In allen Fällen übernimmt die Gruppe der Mitglieder und Kunden als Gemeinschaft auch die andere Marktrolle: Vermieter und Mieter, Händler und Kunde, Kreditgeber und Kreditnehmer sind "eins" (Identitäts­prinzip). Abgesehen von diesem Identitätsprinzip zeichnet sich die Genossenschaft als Hauptform wirtschaftlicher Selbsthilfe durch ihren Mitgliederbezug aus (Förderprinzip). Die Genossenschaft dient nicht der Kapitalverwertung, sondern der Mitgliederversorgung. Daher werden die Überschüsse nicht entsprechend dem Kapitaleinsatz verteilt, sondern entsprechend der "Nutzung" als Rückerstattung vergeben. Auch ist das Stimmrecht nicht — wie sonst in der Wirtschaft — nach Kapitalanteilen gewichtet, sondern demokratisch organisiert (Demokratieprinzip).

In der Arbeiterbewegung setzten sich diejenigen Selbsthilfeformen durch, die verallgemeinerungsfähig waren, das heißt ihr Wirken nicht strukturell nur auf eine Teilgruppe beschränkten. Letzteres gilt für die Genossenschaften der abstiegsbedrohten Handwerker (Schultze-Delitzsch) und der existenzgefährdeten Kleinbauern (Raiffeisen). Es gilt aber auch für die Produktiv­genossen­schaften, die — abgesehen von zahlreichen anderen Problemen — interessenslogisch zur "Schließung" neigen; das heißt, die Ursprungsgenossen, für die die Identität von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gilt, stellen im Falle der Ausweitung ihres Unternehmens eher zusätzliche Lohnarbeiter ein, als neue Vollgenossen aufzunehmen.

Die wenigen erfolgreichen Produktivgenossenschaften haben sich demzufolge langfristig in Kapital­unternehmen der Ursprungs­genossen umgewandelt (Gesetz der Transformation). Anders bei den Konsumgenossenschaften, zu denen auch die Wohnungs­baugenossen­schaften zu zählen sind. Genossenschaften der Endverbraucher organisieren das "allgemeinste" Interesse, das Konsumenteninteresse; sie sind somit tendenziell gemeinwirtschaftliche und nicht bloß kollektiv-privat­wirtschaft­liche Gebilde, wie die Mittelstands­genossenschaften.

Dieser reformpolitisch wichtige Aspekt der Verallgemeinerungsfähigkeit kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Selbsthilfe­unternehmen im Dienste der Endverbraucher auf Öffnung, auf Mitgliederzuwachs, angelegt sind; ja sie ziehen strukturell daraus auch Vorteile, wie die ungeheure Anfangsdynamik der Konsumgenossenschaften eindrucksvoll belegt. Das historische Verdienst der Gewerkschaften, die Überwindung der Standesorganisationen zugunsten der Vertretung des allgemeinen Arbeitnehmer­interesses nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit, drückt sich auch in dem Bemühen aus, Sonderinteressen im Bereich der wirtschaftlichen Selbsthilfe abzubauen. Daher wurden die meisten Unternehmen, an denen sich die Gewerkschaften unmittelbar beteiligten, beginnend mit der Volksfürsorge, nicht in der Rechtsform der mitgliederbezogenen Genossenschaft gegründet.

Die wirtschaftlichen Selbsthilfeorganisationen, die "positiven Ökonomien", der Arbeiterbewegung unterscheiden sich auch darin von ihren mittelständischen Verwandten, daß sie sich als Teil der umfassenden Emanzipationsbemühungen verstanden haben. Viele verfolgten selber soziale, kulturelle sowie politische Ziele und suchten aktiv die Verbindung zu den anderen Organisations­säulen der Bewegung.

 

Abbildung: Das Kinder-Erholungsheim der Berliner Konsumgenossenschaft, erworben 1927

 

 

   

Das zentrale Verwaltungsgebäude
der Berliner  Konsumgenossenschaft
in Lichtenberg, 
erbaut 1913-14

 

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