1848-1918
Abbildung
Schiffswerft - Eigentum der Allgemeinen Deutschen Schiffszimmerer-Genossenschaft in Hamburg, 1875
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Produktivgenossenschaftliche Arbeiter mit Vorleser in der von Elm gegründeten Tabakarbeitergenossenschaft (TAG).
Ihren Bildungshunger und ihr Interesse an öffentlichen Angelegenheiten suchten die Hamburger Zigarrenmacher in einer Reihe von Werkstätten um die Jahrhundertwende dadurch zu befriedigen, daß einer von ihnen während der Arbeit aus Zeitungen oder Büchern vorlas. Der Arbeitsanteil des Vorlesers wurde dann von den Zuhörern übernommen.
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Die produktiv-genossenschaftliche
Sackgasse
Die in der traditionellen Arbeiterbewegung mit Abstand populärste Form des Selbsthilfeunternehmens, die Produktivgenossenschaft, war zugleich die am wenigsten erfolgreiche.
Die Idee der Produktivgenossenschaft erlebte ihren Höhepunkt in den Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1848 und der Gründung des Deutschen Kaiserreiches von 1871. Die Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung, im August 1848 in Berlin gegründet und zugleich die erste Arbeiter-Massenbewegung in Deutschland, sah in der Produktivgenossenschaft das entscheidende Mittel, eine Gesellschaftsreform und die Emanzipation des „vierten Standes" zu erreichen. Andere Formen der Interessenvertretung, wie etwa gewerkschaftliche Zusammenschlüsse und Streiks, hatten für die Arbeiterverbrüderung programmatisch nur untergeordnete Bedeutung1).
wikipedia Allgemeine_Deutsche_Arbeiterverbrüderung
Eine ersten produktivgenossenschaftliche Gründungswelle ging damals durchs Land. Das Scheitern der Revolution und die einsetzende politische Reaktion — zum Teil auch die Verschärfung der Gewerbeordnung — bliesen der Bewegung jedoch bald das schwache Lebenslicht aus. Erst das liberalere Klima der sechziger Jahre ermöglichte einen zweiten Anlauf. Für den Zeitraum von 1860 bis 1878 sind reichsweit etwa 300 Produktivgenossenschaftsgründungen bekannt geworden. Viele dieser Unternehmungen fielen, soweit sie bis dahin nicht aus anderen Gründen gescheitert waren, der schweren Gründerkrise nach dem Deutsch-Französischen Krieg im Jahre 1873 zum Opfer.
Damit war bis zum Ersten Weltkrieg die Konjunktur produktivgenossenschaftlicher Unternehmen weitgehend beendet. Nur noch vereinzelt kam es hier und da, nicht selten im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen, zur Gründung solcher Unternehmen. Ihre Lebensdauer war häufig auf die Dauer des Streiks begrenzt. Die wenigen, die überlebten, verdankten dies zumeist dem Zusammenschluß mit anderen Selbsthilfevereinigungen der Arbeiterschaft, darunter insbesondere den immer wichtiger werdenden Konsumgenossenschaften.
Auch in der Programmatik der Arbeiterbewegung verloren die Produktivgenossenschaften allmählich an Bedeutung, wenngleich die Faszination der Idee einer Produzentenvereinigung in vielen Arbeiterberufen lange weiterwirkte.
Die Ursachen für das Scheitern dieses Typus von Selbsthilfeunternehmen lagen nur zum geringeren Teil in äußeren Einflüssen. Die Hauptursachen sind vielmehr in innerbetrieblichen Abläufen und Zusammenhängen sowie in strukturellen Schwächen zu suchen2).
Das entscheidende Problem dieses Genossenschaftstyps lag in den widersprüchlichen Anforderungen, die im Auf und Ab der Konjunktur an die Mitglieder gestellt wurden. Daß Arbeitnehmer und Genosse ein und dieselbe Person waren, wurde zum Problem, wenn nach einer Phase des Aufschwungs Entlassungen anstanden. Die Folge waren nicht selten erbitterte interne Konflikte, die das Unternehmen lahmlegten.
Die einzige Möglichkeit, dem zu begegnen, bestand in der Trennung der Rollen und der Spaltung der Belegschaft in Genossen-Eigentümer mit Sonderrechten und einfache Arbeitnehmer — was freilich den alternativen Charakter des Unternehmens zerstörte.
So war es nicht die Produzenten-, sondern die Konsumentengenossenschaft — Konsument hier in einem weiten Sinne verstanden —, die sich zum erfolgreichsten Typus des Arbeiterselbsthilfeunternehmens entwickelte.
Wohnhaus und Verkaufsstelle der Produktivgenossenschaft der Bäckereiarbeiter Hamburg, gegründet 1895
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