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Einleitung - 1993 des Autors

 

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Jeder möchte wissen, was beim Sterben vor sich geht, auch wenn nur wenige das offen aussprechen. Ob wir uns unser eigenes Sterben vorstellen, ob wir besser verstehen wollen, was mit todkranken Mitmenschen geschieht oder, wahrscheinlicher, ob wir der Faszination des Todes erliegen, die aus dem Unbewußten in uns emporsteigt — der Gedanke an das Lebensende zieht uns alle an. 

Für die meisten Menschen bleibt der Tod geheimnisumwittert; er ängstigt sie und fasziniert und erregt sie zugleich. Gerade was uns angst macht, zieht uns unwiderstehlich an, so als gehe von der Gefahr ein Reiz aus, der an tiefe Schichten unserer Persönlichkeit appelliert. Die Motten und die Kerzenflamme, die Menschen und der Tod — hier wie dort wirkt eine ähnliche Anziehungs­kraft.

Kein Mensch scheint seelisch in der Lage, den Gedanken an seinen Tod zu ertragen, die Vorstellung dauernder Bewußtlosigkeit, in der nicht Leere oder Mangel ist, sondern schlicht nichts. Auch scheint dieses Nichts so verschieden von dem Nichts, das dem Leben voranging. Wie bei jedem Schrecken, der uns überkommt, und jeder Versuchung, die uns anfällt, suchen wir auch beim Tod nach Mitteln und Wegen, uns gegen seine Macht zu wappnen und uns aus seinem Bann zu lösen.

Die beständige Nähe des Todes hat den menschlichen Geist schon früh zu Formen der bewußten oder unbewußten Verschleierung seiner Realität geführt, sei es im Märchen, in der Allegorie oder selbst im Witz. Seit einiger Zeit kommt dazu noch etwas Neues: Wir haben eine moderne Form des Sterbens geschaffen. Gestorben wird heute im Krankenhaus. Der Sterbende wird von der Außenwelt abgeschottet, klinisch sauber gehalten und zuletzt zum Begräbnis abtransportiert. Wir können heute nicht nur den Stachel des Todes, sondern die Macht der Natur schlechthin leugnen. Wir legen die Hand vor die Augen, um uns den Anblick des Schrecklichen zu ersparen, spreizen die Finger aber doch ein wenig, denn irgend etwas in uns kann einem heimlichen Blick nicht widerstehen.

Wir wünschen todkranken Menschen, die uns nahestehen, einen schönen Tod, und daß einige tatsächlich aus dem Leben scheiden, wie wir es uns vorgestellt haben, läßt uns an diesen hohen Erwartungen festhalten. In der abendländischen Kultur gibt es sie schon lange: Jahrhundertelang galt ein »guter Tod« als Zeichen für die Rettung der Seele und als erhebende Erfahrung für Freunde und Familienangehörige. 

In Literatur und Bildender Kunst wurde des guten Todes in der Ars moriendi gedacht, der Kunst des Sterbens. Ursprünglich war die Ars moriendi eine religiöse und geistliche Übung, die Kunst, wie William Caxton, der erste englische Buchdrucker und Verleger, im 15. Jahrhundert schrieb, »so zu sterben, daß die Seele des Menschen keinen Schaden nimmt«. Später entwickelte sich daraus die Vorstellung vom guten Tod und der richtigen Art zu sterben.

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Heute ist eine Ars moriendi kaum noch vorstellbar, und das liegt gerade an unseren Bemühungen, den Tod zu verbergen und klinisch sauber zu machen, vor allem aber, ihn möglichst zu steuern. Das Ergebnis sind Sterbeszenen, die nur noch in besonderen abgeschirmten Orten wie Intensivstationen, onkologischen Forschungs­kliniken und Notaufnahmen stattfinden. Der gute Tod wird immer mehr zum Mythos. Das war er für die meisten Sterbenden zwar schon immer, doch heute mehr denn je. Der wichtigste Bestandteil dieses Mythos ist das Ideal eines »würdigen Todes«.

In meinem Sprechzimmer hatte ich unlängst eine dreiundvierzigjährige Rechtsanwältin zur Untersuchung, die ich drei Jahre zuvor wegen Brustkrebs operiert hatte. Obwohl sie beschwerdefrei war und alles auf eine vollständige Heilung deutete, schien sie an dem bewußten Tag ungewöhnlich aufgeregt. Gegen Ende der Untersuchung fragte sie, ob sie noch für eine Aussprache bleiben dürfe. Dann berichtete sie vom Tod ihrer Mutter, die vor kurzem in einer anderen Stadt an dem gleichen Leiden gestorben war, von dem die Tochter sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erholt hatte. 

»Meine Mutter starb nach einem qualvollen Todeskampf«, sagte sie. »Wie sehr sich die Ärzte auch bemühten, sie konnten ihr das Sterben nicht erleichtern. Alles war ganz anders, als ich es mir vorstellt hatte. Ich hatte an ein friedliches, geistig bewußtes Ende gedacht, an ein Gespräch über das Leben meiner Mutter und über uns beide. Doch es kam ganz anders — die Schmerzen waren zu groß, und sie hatte wohl zuviel Demerol bekommen.«  

Weinend sagte sie schließlich: »Dr. Nuland, der Tod meiner Mutter hatte keine Spur von Würde!« 

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Ich mußte meiner Patientin erst versichern, daß in der Art und Weise, wie ihre Mutter gestorben war, nichts Ungewöhnliches lag, und daß sie als Tochter nicht schuld daran war, daß ihre Mutter nicht den »geistig bewußten«, würdigen Tod gehabt hatte, den die Tochter sich für sie vorgestellt hatte. Die intelligente Frau war verzweifelt, weil all ihre Bemühungen und Erwartungen umsonst gewesen waren. 

Ich legte ihr dar, daß wir und die ganze Gesellschaft an die Möglichkeit eines würdigen Todes glauben, weil für uns dadurch eine Wirklichkeit erträglich wird, die nur allzuoft aus einer Reihe zerstörerischer Ereignisse besteht, in deren Verlauf sich die Persönlichkeit des Sterbenden Schritt für Schritt auflöst. Ich habe nur selten Würde beim Sterben erlebt.

Das Bemühen um Würde scheitert, wenn der Körper uns im Stich läßt. In seltenen, sogar höchst seltenen Fällen mögen einmalige Umstände dafür sorgen, daß ein Mensch mit ausgeprägter Persönlichkeit sein Leben in Würde beschließt. Daß so viele günstige Faktoren zusammenkommen, ist jedoch ungewöhnlich und darf nur bei sehr wenigen Menschen erwartet werden.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um das Sterben zu entmythologisieren. 

Keinesfalls will ich ein Schreckens­gemälde qualvoller und ekelerregender Verfalls­erscheinungen malen, vielmehr möchte ich ein getreues Bild der biologischen und klinischen Wirklichkeit geben, wie es den Aussagen von Sterbenden oder von Menschen, die Zeuge des Sterbens anderer geworden sind, entspricht. 

Nur wenn wir offen über das sprechen, was beim Sterben vor sich geht, können wir auch seinen schrecklichen Aspekten begegnen. Nur wenn wir die volle Wahrheit kennen und auf sie gefaßt sind, können wir uns von der Furcht vor der Terra incognita des Todes befreien, die uns sonst zu Selbstbetrug und Enttäuschung führt.

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Zum Thema Sterben und Tod existiert bereits eine umfangreiche Literatur. Fast alle Titel bieten Hilfe bei der Bewältigung des seelischen Traumas an, das mit dem Sterben und seinen Folgen verbunden ist. Auf den physischen Verfall wird dagegen in den meisten Fällen nicht weiter einge­gangen. Nur in medizin­ischen Fachzeitschriften findet man Beschreibungen der Prozesse, durch die uns bestimmte Krank­heiten die Lebenskraft und schließlich das Leben nehmen.

Meine Erfahrung als Arzt und mein lebenslanger Umgang mit dem Tod bestätigen für mich John Websters Bemerkung, daß dem Menschen »Zehntausende von Türen offenstehen, durch die er abgehen kann«. Mein Wunsch ist es, mitzuhelfen, daß das Gebet des Dichters Rainer Maria Rilke in Erfüllung geht: »O Herr, gieb jedem seinen eigenen Tod.«

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Vorliegendes Buch handelt von den Türen und Wegen, die zu diesem Ziel führen. Ich habe mich um Klarheit und Verständlichkeit bemüht, denn es soll helfen, Entscheidungen zu treffen, die uns, soweit die Umstände es erlauben, einen eigenen Tod ermöglichen. Ich habe sechs der häufigsten Krankheiten unserer Zeit ausgewählt. Nicht nur weil sie die todbringenden Krankheiten sind, denen die meisten von uns einmal erliegen werden, sondern auch weil sie Merkmale gemeinsam haben, die repräsentativ für bestimmte lebensbeendende Prozesse sind. 

Kreislaufstillstand, mangelnde Sauerstoffversorgung der Organe, Aussetzen der Gehirntätigkeit, Absterben einzelner Organe und Erlöschen vitaler Zentral­funktionen: Über diese Waffen verfügt jeder der apokalyptischen Reiter des Todes. Wenn wir sie kennen, werden wir auch besser verstehen, wie wir an Krankheiten sterben, die nicht in diesem Buch beschrieben sind. Die ausgewählten Krankheiten sind die häufigsten Straßen des Todes; ihre gemeinsamen Merkmale charakterisieren jedoch jeden Tod, egal, wie ausgefallen die jeweilige tödliche Krankheit ist.

Meine Mutter starb eine Woche vor meinem 11. Geburtstag an Dickdarmkrebs, und dieses Ereignis hat mein ganzes Leben geprägt. Was aus mir geworden oder nicht geworden ist, führe ich direkt oder indirekt auf ihren Tod zurück. Als ich mit dem Schreiben des Buches begann, lag der Tod meines Bruders, der ebenfalls an Dickdarmkrebs gestorben ist, etwas über ein Jahr zurück. 

Persönlich und beruflich lebe ich nun schon seit einem halben Jahrhundert im Bewußtsein der Gegenwart des Todes, und abgesehen von meinem ersten Lebens­jahrzehnt arbeite ich ständig in seiner Nähe. In diesem Buch will ich berichten, was ich dabei erfahren und gelernt habe. 

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 Sherwin Nuland, New Haven, Juni 1993 

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