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    3  Unser Leben währet siebzig Jahre  

"Babe"

 

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Niemand stirbt an Altersschwäche, zumindest würden amtliche Statistiker das so statuieren, wenn sie die Welt regierten. Alljährlich im Januar, wenn der Winter sein hartes Regiment führt, veröffentlicht die amerikanische Regierung den »Vorläufigen Bericht über die Sterbestatistik«. Weder unter den fünfzehn häufigsten Todesursachen noch irgendwo sonst in dieser amtlichen Erhebung gibt es eine Rubrik für diejenigen, deren Lebensflamme einfach erloschen ist. Mit manischer Genauigkeit führen die Verfasser des Berichts für jeden Achtzig- oder Neunzigjährigen klinische Begriffe auf, die ihm einen pathologischen Befund zuweisen. Selbst die wenigen Hundert­jährigen entgehen dem strengen Begriffsschema der Statistiker nicht. 

Jedermann hat an einer benennbaren Krankheit zu sterben, so will es nicht nur das US-Gesundheits­ministerium, sondern auch die Weltgesund­heitsbehörde WHO. In den fünfunddreißig Jahren meiner Praxis als Arzt habe ich nie die Kühnheit besessen, die Diagnose »Alterstod« auf einen Totenschein zu schreiben, denn ich wußte nur zu gut, daß mir ein Beamter das Formular mit der Bemerkung zurücksenden würde, ich hätte mich nicht an das Gesetz gehalten. An Altersschwäche zu sterben, ist überall auf der Welt ungesetzlich.

Für Statistiker gibt es offensichtlich keine natürlichen Phänomene, sofern sich diese nicht genau definierten Kategorien zuordnen lassen. Die jährliche Sterbe­statistik ist akkurat und ohne Originalität, die hier ja auch fehl am Platze wäre, aber sie spiegelt das wirkliche Leben (und Sterben) meiner Ansicht nach nicht getreu wider. Ich bin fest davon überzeugt, daß viele Menschen den Alterstod sterben. Was ich als praktizierender Arzt auch auf den Totenschein geschrieben habe, um dem Amt für Bevölkerungsstatistik Genüge zu tun, ich tat es wider besseres Wissen.

Gegenwärtig leben 5 Prozent der alten Menschen der Vereinigten Staaten in Pflegeheimen. Die große Mehrheit der Insassen, die dort länger als ein halbes Jahr bleibt, wird das Heim nicht lebend verlassen, außer vielleicht zu einem kurzen letzten Aufenthalt in einem Krankenhaus, wo irgendein junger Assistenz­arzt dann mit einem akkurat ausgefüllten Totenschein ihr Ableben bescheinigt.

Aber woran sterben die vielen alten Menschen eigentlich?

Zwar geben die Ärzte pflichtbewußt genau definierte Ursachen wie Hirnschlag, Herzversagen oder Lungenentzündung an, doch eigentlich sind die Menschen gestorben, weil etwas in ihnen verschlissen war. Vor dem Aufschwung der naturwissen­schaft­lichen Medizin leuchtete dies jedem ein. 

So schrieb der einundsiebzigjährige Thomas Jefferson, der führende Kopf der amerikanischen Unabhängig­keitsbewegung, am 5. Juli 1814 an den achtund­siebzigjährigen John Adams:

»Die Maschinen unserer Körper sind nun siebzig oder achtzig Jahre gelaufen. Verschlissen, wie sie sind, müssen wir damit rechnen, daß hier ein Zapfen, dort ein Rädchen, hier ein Ritzel, dort eine Feder den Dienst versagen. Und wenn sie auch nach einer Reparatur wieder für eine Weile laufen, über kurz oder lang werden sie doch einmal für immer stillstehen.«

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Wie immer es sich auch konkret physisch zeigt, ob als Veränderung im Großhirn oder als Trägheit des senilen Immunsystems, was auf jeden Fall zur Neige geht, ist die individuelle Lebenskraft.

Ohne ein Gegner jener Mediziner zu sein, die auf zellpathologische Prozesse verweisen, um den naturwissen­schaft­lichen Charakter ihrer Weltsicht zu unterstreichen, glaube ich doch für meinen Teil, daß diese Mediziner das eigentliche Problem gar nicht sehen.

 

Ich war noch kaum zu bewußtem Leben erwacht, da konnte ich schon die ersten Beobachtungen machen, wie jemand ganz allmählich den Alterstod starb. Der Statistiker ist noch nicht geboren, der mich davon überzeugen könnte, daß die Todesursache, wie sie auf dem Totenschein meiner Großmutter steht, etwas anderes ist als eine Ausflucht, um nicht ein ehernes Naturgesetz nennen zu müssen.

Meine Großmutter war bei meiner Geburt achtundsiebzig, obwohl ihre vergilbten Einwanderungspapiere ihr erst dreiundsiebzig Jahre bescheinigten. Fünfundzwanzig Jahre zuvor auf Ellis Island, der kleinen Insel vor New York, hatte sie es für geraten gehalten, sich jünger zu machen, als sie tatsächlich war. Man hatte ihr gesagt, die Zahl neunundvierzig sei im Vergleich zu vierundfünfzig akzeptabler für den streng und soldatisch wirkenden amerikanischen Einwanderungs­beamten, der ihr in einer Uniform mit gelben Messing­knöpfen gegenübersaß und ihr direkte Fragen stellte, von deren Beantwortung, so nahm sie an, ihr Schicksal abhing.

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Wie man sieht, bin ich nicht der einzige in meiner Familie, der aus Furcht vor staatlicher Repression manchmal fünf gerade sein läßt. In unserer Vierzimmer­wohnung in der Bronx lebten drei Generationen miteinander, insgesamt sechs Personen: meine Großmutter, meine ledige Tante Rose, meine Eltern, mein älterer Bruder und ich. Damals war es undenkbar, ein betagtes Familienmitglied in eines der wenigen Heime zu schicken. Selbst wenn der Wille dazu vorhanden war, was selten vorkam, wäre es nicht möglich gewesen. Vor einem halben Jahrhundert hätte man einer Familie, die eine Großmutter ins Altenheim abschiebt, den Vorwurf gemacht, sich herzlos aus der Verantwortung zu stehlen.

Meine High-School lag nur einen Häuserblock von unserem Mietshaus entfernt, und selbst für den Weg ins College brauchte ich nicht mehr als zwanzig Minuten. Jeden Morgen steckte meine Großmutter ein Butterbrot und einen Apfel in eine braune Papiertüte, die ich dann mit den Schulbüchern unter den Arm klemmte, wenn ich mich auf den Schulweg machte. Auf dem Weg schlossen sich mir Kameraden an, die ich schon seit meinem Schulantritt kannte. Zu Beginn der zweiten Unterrichtsstunde am Morgen war die Tüte bereits fettig von der dicken Schicht Butter, die meine liebevolle Großmutter mir immer großzügig aufs Brot strich. Bis heute kann ich keine Fettspuren auf braunem Papier sehen, ohne ein wehes Gefühl in der Brust zu spüren. 

Jeden Morgen verließen meine Tante Rose und mein Vater schon in aller Frühe das Haus und fuhren mit der Untergrundbahn nach Manhattan, wo sie als Schneider in der Bekleidungsbranche arbeiteten. Meine Mutter starb, als ich elf war, und so zog mich meine Großmutter groß.

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Abgesehen von einem Kranken­hausaufenthalt wegen einer Blinddarmentzündung und zwei zweiwöchigen Ferienlagern, die ein betuchter Verwandter für mich bezahlte, habe ich die meiste Zeit meiner Kindheit und Jugend in ihrer Nähe verbracht. Ohne mir darüber im klaren gewesen zu sein, habe ich so die ersten achtzehn Jahre meines Lebens mit angesehen, wie sie langsam dem Tod entgegenging.

Wenn sechs Personen in einer Wohnung mit vier kleinen Zimmern zusammenleben, gibt es nur wenige Geheimnisse. In den letzten acht Jahren vor ihrem Tod teilte meine Großmutter ein Schlafzimmer mit meiner Tante und mir. Bis zu dem Tag, an dem ich das College abschloß, machte ich meine Hausaufgaben an einem Kartentisch, den ich in unserem Wohnzimmer aufgestellt hatte. Währenddessen gingen nur ein paar Schritte von mir die übrigen anwesenden Familien­mitglieder ihren Tätigkeiten im Haushalt nach. War ich mit den Hausaufgaben fertig, klappte ich Tisch und Stuhl zusammen und verstaute sie hinter der stets offenen Tür, die auf die kleine Diele führte. Wenn ich auch nur einen Fetzen Papier im Wohnzimmer liegen ließ, durfte ich mich auf eine Bemerkung meiner Großmutter gefaßt machen. 

Allerdings nannten wir das weibliche Oberhaupt unserer Familie nicht »Großmutter«, denn sie sprach nur wenige Wörter der Sprache ihrer neuen Heimat. Mein Bruder und ich sagten »Babe« zu ihr, das jiddische Wort für »Großmutter«. Für sie waren wir Herschel (mein Bruder hieß Harvey) und Shepsel. Bis heute nennen mich alle Shep, und das verdanke ich meiner Babe. 

Das Leben meiner Babe war nicht leicht gewesen. Ihr Mann war ihr wie so viele andere osteuropäische Einwanderer in das goldene Land ihrer Träume voran­gegangen und hatte die beiden Söhne mitgenommen, während sie für mehrere Jahre mit den vier kleinen Töchtern in ihrem abgelegenen Heimatdorf in Litauen zurückblieb.

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Wenige Jahre nachdem die Familie wieder vereint war und in einer überfüllten Wohnung an der Lower East Side in New York wohnte (andere Verwandte hatten hier ebenfalls ein Unterkommen gefunden), starben mein Großvater und die beiden Söhne rasch hintereinander, ob an Tuberkulose oder Grippe blieb ungeklärt. 

Damals arbeiteten drei der vier Töchter in der Bekleidungsbranche, wo sie zwar ausgebeutet wurden, aber immerhin etwas Geld verdienten. Als meine Babe eine finanzielle Beihilfe von einer jüdischen philanthropischen Gesellschaft erhielt, kratzte sie alle verfügbaren Dollars zusammen und machte eine Anzahlung auf eine Farm mit achtzig Hektar Land in der Nähe von Colchester in Connecticut. Dort gab es bereits eine kleine Kolonie litauischer Landsleute. Meine Großmutter bestellte die Felder mit Hilfe von Saisonarbeitern. Gewöhnlich waren es polnische Einwanderer, die auch nicht mehr Englisch sprachen als sie. 

Wie es diese kleine Frau, die kaum einen Meter fünfzig maß, aber über einen eisernen Willen und viel Energie verfügte, geschafft hat, diese schwierige Zeit durchzustehen, ist mir rätselhaft. Die Farm warf kaum Ertrag ab. Wenn überhaupt Geld ins Haus kam, dann von den Verwandten und Freunden aus der alten Heimat, die vorübergehend hier in Pension wohnten, um der tuberkulose­verseuchten Enge des Zehnten Bezirks in Manhattan zu entgehen. 

Im verwirrenden Rummel des amerikanischen Way of life übernahm Babe die Rolle einer jiddischen mater et magistra in einer weitverzweigten Schar junger Einwanderer, für die sie Zuflucht und Quelle innerer Stärke wurde. Obwohl sie keinen halbwegs verständlichen englischen Satz zuwege brachte, begriff sie doch auf ihre Weise die Regeln und den Rhythmus des amerikanischen Lebens.

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Während es in der alten Heimat »Wunderrabbis« gegeben hatte, fand die immer größer werdende Sippe in der neuen Heimat ein weibliches Orakel und verlieh ihm die jiddische Ehrenbezeichnung »Tante«. Als »Tante Pesche«, was mit Tante Pauline nur unzureichend wiedergegeben ist, flößte sie der großen Schar selbsternannter Neffen und Nichten, von denen manche kaum jünger als sie selbst waren, die so dringend benötigte Zuversicht ein.

Die Farm mußte schließlich aufgegeben werden, als drei der vier Mädchen heirateten. Schon lange vorher war die älteste Tochter Anna in den Zwanzigern an Kindbettfieber gestorben, und ihr junger Mann war fortgegangen, um ein neues Leben zu beginnen. Das Kind, ein Junge, blieb bei der trauernden Babe, die ihn auf der Farm wie ihren eigenen Sohn großzog. Er war fast zwanzig, als die Farm verkauft wurde und unsere Zeit in der Bronx begann.

Als ich elf Jahre war, lebte von den Kindern meiner Großmutter nur noch Tante Rose. Eines war schon im Kleinkindalter gestorben, die anderen in Amerika, dem Land ihrer Träume, in das sie mit soviel Hoffnung gekommen waren. Babe war neunundachtzig, eine kleine, müde Person, die nur noch für ihre drei Enkelkinder lebte: meinen Bruder und mich und meine dreizehnjährige Kusine Arline. Arline war zwei Jahre vorher zu uns gezogen, nachdem ihre Mutter an Nierenversagen gestorben war. Dann, als meine Mutter nicht lange nach meinem elften Geburtstag an Krebs starb, zog sie zur Familie ihres Vaters. 

Wer die Geschichte von Babes Witwenschaft schreiben wollte, hätte vor allem über Mühsal, Krankheit und Tod zu berichten. Ihr Mann und sechs Kinder waren ihr ins Grab vorangegangen und mit ihnen auch Babes Hoffnungen. Übrig blieben nur noch Tante Rose und wir drei Kinder, die bereits in Amerika geboren waren, dem Land, das meiner Großmutter das Herz gebrochen hatte.

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Es muß nach dem Tod meiner Mutter gewesen sein, als mir zum erstenmal bewußt wurde, wie alt Babe eigentlich war.

Soweit ich zurückdenken kann, habe ich aus Übermut mit der schlaffen, losen Haut auf ihren Handrücken oder an ihren Ellbogen gespielt. Zuerst zog ich daran wie an einem weichgekauten Sahnebonbon, dann beobachtete ich mit immer gleichem Erstaunen, wie sich die Haut wieder langsam, mit sirupähnlicher Viskosität an ihren Platz zurückzog. Babe gab mir dann immer einen kräftigen Klaps auf die Hand und zeigte sich über meine Frechheit verärgert. Ich lachte herausfordernd, bis ihre Augen verrieten, daß sie selbst Vergnügen an meinen Neckereien hatte. In Wirklichkeit mochte sie es, wenn ich so mit ihrer welken Haut spielte. Später merkte ich, daß ich eine Delle in das Gewebe an ihrem Schienbein machen konnte, indem ich die strumpfbedeckte Haut kräftig mit der Fingerspitze gegen den Knochen drückte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Delle wieder auffüllte. Wir saßen dann still da und beobachteten gemeinsam, wie sie allmählich verschwand. Im Laufe der Zeit wurden die Dellen immer tiefer, und das Auffüllen dauerte immer länger.

Babe bewegte sich in ihren Pantoffeln mit großer Vorsicht von einem Zimmer ins andere. Mit den Jahren wurde ihr Gang zu einem Schlurfen, und schließlich schob sie sich ganz langsam vorwärts, wobei immer beide Füße auf dem Boden blieben. Mußte sie sich aus irgendeinem Grund rascher als gewöhnlich bewegen oder hatte eines von uns Kindern sie aus der Fassung gebracht, geriet sie schnell in Atemnot. Dann schien sie leichter atmen zu können, wenn sie die Luft durch den offenen Mund einsog.

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Manchmal streckte sie sogar die Zunge ein wenig über die Unterlippe heraus, als könne sie auf diese Weise mehr Sauerstoff aufnehmen. Zwar wußte ich das damals nicht, aber sie zeigte allmählich alle Symptome einer chronischen Herzinsuffizienz. Sicher verschlimmerte sich die Insuffizienz noch dadurch, daß das Blut von alten Menschen erheblich weniger Sauerstoff aus dem verbrauchten Lungengewebe aufnehmen kann als das Blut von jungen. 

Auch ihr Augenlicht wurde schwächer. Schon früh wurde es meine Aufgabe, ihr die Nadeln einzufädeln. Als sie merkte, daß ihr die Finger nicht mehr gehorchten, gab sie das Flicken ganz auf. Von da an mußten die Löcher in meinen Strümpfen und Hemden so lange warten, bis die immer erschöpfte Tante Rose an ihren wenigen freien Abenden Zeit zum Stopfen und Flicken fand. Über meine Versuche, mir das Nähen selbst beizubringen, lachte Babe nur. (Im Rückblick ist es kaum zu glauben, daß ich später Chirurg geworden bin; hätte Babe das noch erlebt, wäre sie sehr stolz, aber auch sehr erstaunt gewesen.) 

Nach ein paar Jahren reichte Babes Augenlicht auch nicht mehr zum Abwaschen oder Fegen aus. Doch obwohl sie weder die Essensreste noch den Staub auf dem Boden sah, ließ sie sich diese Hausarbeiten nicht ausreden, so als wollte sie unbedingt einen Rest von Nützlichkeit behalten. Ihre hartnäckigen Versuche, weiterhin die Wohnung sauberzuhalten, gaben Anlaß zu täglichen Reibereien, und allmählich mußte sie das Gefühl bekommen, daß sie sich immer mehr von uns entfernte. 

Mit dreizehn, vierzehn Jahren konnte ich an meiner Großmutter beobachten, wie die letzten Spuren ihrer kämpferischen Natur verschwanden und sie geradezu demütig wurde. Sie war immer sanft zu uns Kindern gewesen, doch Demut war etwas Neues. Vielleicht war es auch weniger Demut, als vielmehr eine Form des Rückzugs in sich selbst, als fügte sie sich in die Einsicht, daß ihre Kräfte immer mehr schwanden. 

Dabei blieb es nicht.

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Babe wurde zunehmend unbeweglich und unsicher auf den Beinen. Schließlich schaffte sie es nicht mehr, nachts auf die Toilette zu gehen, und schlief von nun an mit einer großen, leeren Kaffeedose unter dem Bett. Fast jede Nacht weckten mich Geräusche, wenn sie im Dunkeln ungeschickt nach der Dose suchte oder wenn ihr dünner Strahl den Blechboden der Dose traf. Oft lag ich im morgendlichen Halbdunkel wach im Bett und lugte zu Babe hinüber, die in unbequemer Haltung neben ihrem Bett hockte. Mit der einen Hand hielt sie die Kaffeedose unter ihr Nachthemd, mit der anderen versuchte sie ihren wackeligen Körper gegen die Matratze abzustützen.

Damals verstand ich nicht, wieso Babe so oft nachts aufstehen und die Kämpfe mit der Kaffeedose austragen mußte. Erst viel später lernte ich, daß im hohen Alter das Fassungsvermögen der Harnblase beträchtlich abnimmt. Im Gegensatz zu vielen alten Menschen litt Babe aber nie an Inkontinenz, auch wenn es vermutlich ab und zu Vorfälle gegeben hat, von denen ich nichts erfahren habe. Erst in den letzten Monaten vor ihrem Tod verriet sie sich bisweilen durch einen schwachen Uringeruch, aber auch nur dann, wenn ich ganz in ihrer Nähe stand oder ihren gebrechlichen kleinen Körper in meine Arme nahm.

 

Babe verlor ihre letzten Zähne, als ich ein Teenager war. Sie hatte alle Zähne in einer Geldbörse gesammelt, die sie hinten in der obersten Schublade des Schreibtisches aufbewahrte, den sie mit Tante Rose teilte. Es gehörte zu den geheimen Ritualen meiner Kindheit, heimlich in der Schublade zu stöbern und mit leisem Schauder die zweiunddreißig gelblichweißen Zähne zu betrachten, von denen keiner dem anderen glich. Sie kamen mir vor wie kleine Meilensteine, die das langsame Altern meiner Großmutter und die Geschichte unserer Familie markierten.

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Auch ohne Zähne schaffte es Babe, das meiste zu essen. Gegen Ende hatte sie aber auch dafür keine Kraft mehr, und ihre Ernährung ließ zu wünschen übrig. Die mangelnde Nährstoffzufuhr erhöhte noch den altersbedingten Muskelschwund, so daß sich ihre ganze Gestalt sichtbar veränderte. Aus der kräftigen, ein wenig untersetzten alten Dame wurde eine geschrumpfte, kleine Greisin. Ihre Falten wurden immer tiefer, ihre Hautfarbe zeigte überall die gleiche Blässe, ihre Gesichtshaut wirkte schlaffer denn je. Die Schönheit einer Dame der alten Welt, die sie sich bis ins neunte Lebensjahrzehnt hinein bewahrt hatte, schwand schließlich doch dahin.  

Für vieles, was ich an meiner Großmutter in ihren letzten Lebensjahren beobachtete, gibt es einfache klinische Erklärungen, aber sie scheinen mir in mancher Hinsicht auch heute noch unbefriedigend. Gewiß spielen bestimmte Faktoren eine Rolle, etwa die verminderte Blutzufuhr zum Gehirn oder das altersbedingte Absterben von Gehirnzellen, ein Prozeß, der nur unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht werden kann. Aber wie nüchtern und distanziert klingt die rein biologische Beschreibung gerade jenes Organs, das einst eine Neunzigjährige in den Stand versetzte, klare und manchmal mutige Gedanken zu fassen. 

Auch die Arbeiten von Physiologen, Endokrinologen und Psychoneurologen und von Gerontologen, deren Disziplin sich in stürmischer Entwicklung befindet, können dazu beitragen, zu erklären, was sich vor meinen jugend­lichen Augen abspielte. Doch gerade das Schauen ist es, was unsere ganze Aufmerksamkeit verdient, denn es enthüllt uns einen Prozeß, an dem wir alle teilhaben.

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Wir können uns diesem Prozeß nicht entziehen, und dennoch versucht etwas in uns die Tatsache zu verdrängen, daß auch wir altern. Etwas in uns stemmt sich dagegen, daß unser Körper dem gleichen Prozeß unterliegt, der uns einmal zu Vergreisung und Tod führt.

Im Gehirn meiner Großmutter waren schon lange vor dieser Zeit Zellen abgestorben, so wie auch in mir Zellen absterben und in jedem anderen Menschen ebenfalls. Nur war meine Großmutter damals schon viel älter als ich heute, und sie hatte bereits den Rückzug aus der Welt angetreten. Deshalb verband sich der Zellenschwund bei ihr mit offenkundigen Verhaltensänderungen. 

Wie alle alten Leute wurde sie immer vergeßlicher und reagierte verärgert, wenn man sie daran erinnerte. Sie, die für ihre Offenheit im Umgang mit Menschen bekannt war, zeigte sich gereizt und ungeduldig gegenüber Personen, die nicht zum engen Familienkreis gehörten. Sie schien dann zum Leben zu erwachen, wenn sie Personen beleidigen konnte, die sich in der Vergangenheit ihrer Führung anvertraut hatten. Dann kam die Zeit, da sie auch in Gesellschaft nur noch still dasaß. Sie sprach nur noch, wenn es unbedingt sein mußte, und ohne rechte Anteilnahme.

Am auffälligsten war ihr langsamer Rückzug aus der Welt der anderen (freilich nur im nachhinein betrachtet, wie ich gestehen muß). In meiner Kindheit und sogar noch in meiner Teenagerzeit ging meine Großmutter an hohen Feiertagen zum Beten in die Synagoge. Mochte der Weg zur fünf Blöcke weiter gelegenen Synagoge auch noch so beschwerlich sein, sie pilgerte unbeirrt über das schadhafte Pflaster der Bronx, das Gebetbuch fest unter den Arm geklemmt, damit ihr nicht die Sünde unterlief, es auf den Boden fallenzulassen.

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Meine Aufgabe war es, sie dorthin zu begleiten. Wie sehr bereue ich heute jedes Wort der Klage, wie wünsche ich mir, ich hätte mich nicht bisweilen, nein sogar oft, geschämt, mit dieser alten, schlurfenden Frau im schwarzen Kopftuch gesehen zu werden, diesem Relikt der schon längst untergegangenen Kultur des Schtetls, auch wenn sie sich hartnäckig weigerte, dies zur Kenntnis zu nehmen. Die Großeltern der anderen Kinder schienen soviel jünger, sie sprachen Englisch und waren unabhängig — meine Großmutter hingegen blieb der verschwundenen Welt des osteuropäischen Judentums verhaftet. 

Mehr noch, sie erinnerte mich an meinen Konflikt mit den emotionsgeladenen Resten einer Kultur, die ich heute euphemistisch mein Erbe nenne.

Mit der freien Hand hielt sich Babe an meinem Arm fest, manchmal klammerte sie sich auch an meinen Ärmel. So gingen wir geradezu beängstigend langsam durch die Straßen, dann die Treppe hinunter in den Betsaal der Synagoge (unsere Familie betete auf den billigsten Plätzen, und selbst die waren für uns noch teuer) und schließlich zu ihrem Platz neben anderen Frauen, die wir »älter« nannten, von denen aber nur wenige ebenso verstörend fremd oder abgehärmt aussahen wie sie. Dann verließ ich sie gewöhnlich. Sie beugte sich sogleich über das alte, tränengetränkte Buch, aus dem sie schon als Mädchen gebetet hatte. 

Die Gebete waren in Hebräisch und Jiddisch gedruckt, aber sie betete nur nach dem jiddischen Wortlaut, denn das war die einzige Sprache, die sie verstand. Während der ganzen langen Feiertagsliturgie sprach sie leise die vorgeschriebenen Worte. Mit jedem Jahr machte ihr das Lesen mehr Mühe, bis sie es am Ende nicht mehr konnte. Etwa fünf Jahre vor ihrem Tod schaffte Babe den Weg zur Synagoge nicht mehr, selbst wenn beide Enkel sie stützten.

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Dank ihrem immer noch intakten Langzeitgedächtnis rezitierte sie die Liturgie nun zu Hause, am offenen Fenster sitzend, wie sie es jeden Samstagmorgen all die Jahre lang getan hatte. Nach ein paar Jahren wurde ihr auch das zuviel. Die Sätze in ihrem Gebetbuch konnte sie kaum noch entziffern, und allmählich ließ sie auch ihr Gedächtnis für die Gebete im Stich. 

Schließlich hörte sie auf zu beten. 

Mit dem Beten gab Babe fast alles andere auch auf. Sie aß kaum noch, verbrachte den größten Teil des Tages ruhig am Fenster sitzend und sprach manchmal vom Sterben. Aber sie war nicht krank. Gewiß hätte ein eifriger Arzt auf ihre Herz­insuffizienz und eine wahrscheinlich ebenfalls vorhandene Athero­sklerose verweisen können. Vielleicht hätte er auch ein Digitalispräparat verschrieben. Mir scheint das allerdings genauso fragwürdig, wie wenn man dem Verschleiß ihrer Gelenke mit dem medizinischen Ausdruck Osteoarthrose mehr Würde hätte verleihen wollen. Natürlich hatte sie Osteoarthrose, und natürlich war ihr Herz chronisch insuffizient, aber nur, weil die Bolzen und Schrauben unter der Last der Jahre verschlissen waren. 

Babe war in ihrem ganzen Leben nie krank gewesen. 

Statistiker und Kliniker bestehen auf präzisen Bezeichnungen, wenn ein schwacher Kreislauf oder ein altes Herz schließlich zum Tod führen. Das kann ich als Arzt auch akzeptieren, wenn damit nicht der Anspruch verbunden ist, daß mit der medizinischen Etikettierung aus einem natürlichen biologischen Zustand eine Krankheit wird. Wie die Nervenzellen können sich auch die Muskelzellen nicht reproduzieren, sie verschleißen mit zunehmendem Alter und sterben schließlich ab. Die biologischen Prozesse, die das ganze Leben über für den Ersatz von absterbenden Strukturen innerhalb der Zelle sorgen, können ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. 

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Der Mechanismus, dank dem regenerierte Teile der Zellmembran oder der interzellulären Strukturen an die Stelle abgestorbener oder abgenutzter Abschnitte treten können, funktioniert schließlich nicht mehr. Nach lebenslanger Aktivität erlöschen die regenerierenden Kräfte der Nerven- und Muskelzellen. Statt dessen gewinnt jener Prozeß die Oberhand, mit dem das Altern das eigentliche Ziel erreicht: die Zerstörung des Individuums. Wie die Zähne meiner Großmutter hören die Zellen des Herzmuskels eine nach der anderen auf zu leben, und das Herz verliert an Kraft. Der gleiche Prozeß läuft im Gehirn und im übrigen Nerven­system ab. Selbst das Immunsystem ist gegen das Altern nicht immun. 

Biochemische Veränderungen innerhalb der Zelle führen zu sichtbaren Ergebnissen, wenn die Funktion ganzer Organe betroffen ist. Die Pumpleistung des Herzens nimmt im Ruhezustand langsam ab. Wenn körperliche Anstrengung oder Aufregung das Herz unter Streß setzen, kann es nicht mehr so rasch schlagen, daß eine ausreichende Durchblutung von Armen, Beinen, Lunge und den anderen Organen gewährleistet ist. 

Die maximale Schlagfrequenz, die ein vollkommen gesundes Herz erreichen kann, verringert sich jährlich um einen Schlag. Als Faustregel kann gelten, daß die Zahl 220 minus das jeweilige Alter die maximal erreichbare Schlagfrequenz ergibt. Mit fünfzig kann ein Herz wahrscheinlich nicht mehr als 170 Schläge pro Minute ausführen, auch wenn es noch so sehr unter Streß gesetzt wird. 

Das sind nur einige Beispiele, wie der alternde Herzmuskel immer mehr die Fähigkeit verliert, die vielfältigen Anforderungen des Alltagslebens zu erfüllen. 

Das Blut zirkuliert in den Gefäßen langsamer. Die linke Herzkammer braucht länger für eine Füllung und entspannt sich nach einer Kontraktion länger. 

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Der Herzschlag treibt weniger Blut aus als noch im Jahr zuvor, und selbst das Volumen der gefüllten Kammer wird kleiner. Vielleicht als Ausgleich für diesen Mangel steigt oft der Blutdruck. Zwischen dem sechzigsten und achtzigsten Lebensjahr nimmt er um 20 mmHg zu. Ein Drittel aller Personen über fünfundsechzig leidet an überhöhtem Blutdruck. Nicht allein der Herzmuskel, auch das Erregungs­leitungs­system läßt mit zunehmendem Alter nach. Bei einem Fünfund­siebzig­jährigen kann der Sinusknoten bis zu 90 Prozent seiner Zellen eingebüßt haben; das His-Bündel enthält weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Fasern. Mit dem Verlust an Muskeln und Nerven gehen Veränderungen einher, die an der Herzstromkurve eines EKGs leicht ablesbar sind. 

Je mehr die Pumpe altert, desto dicker werden die Kammerwände und Ventile. Kalkablagerungen bilden sich im Muskel und an den Ventilen; das Myokard verfärbt sich gelbbraun, da sich Lipofuscin, ein Alterspigment, im Gewebe einlagert. Das Herz verrät sein Alter wie das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht eines alten Seemanns. Auch für diese Veränderungen stehen selbstverständlich Krankheitsbezeichnungen bereit. Herzinsuffizienz ist bei Personen über fünfundsiebzig zehnmal häufiger als bei Personen zwischen fünfundvierzig und fünfundsechzig. Deswegen konnte ich so leicht Dellen in die hautnahen Gewebe meiner Großmutter drücken, und ohne Zweifel war dies auch die Ursache ihrer Kurzatmigkeit. Vermutlich deshalb äußert sich ein Herzanfall bei älteren Patienten auch als schwerer Infarkt und nicht in der sonst typischen Form anhaltender heftiger Brustschmerzen.

Nicht nur das Herz selbst, auch die Blutgefäße zeigen Altersveränderungen. Die Innenwände der Arterien werden dicker und damit unelastischer. Sie können sich nicht mehr zusammenziehen und dehnen wie in einem jugendlichen Körper.

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Folglich wird es für den Körper immer schwieriger, das zur Versorgung von Muskeln und Organen nötige Blutvolumen bedarfsgerecht zu regeln. Zudem schreitet die Atherosklerose mit jedem Jahr weiter fort. Auch ohne zusätzliche Belastung durch hohe Cholesterinwerte, Tabakkonsum oder Diabetes — Faktoren, die atherosklerotische Veränderungen auch in jüngeren Jahren verursachen — verengen sich die Arterienwände, weil aus dem ständigen, jahrzehnte­langen Kontakt mit dem zirkulierenden Blut immer mehr Atherome entstehen.

Schon lange vorher erhalten die Organe weniger Nahrung, als sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben eigentlich brauchen. Die Blutzufuhr zu den Nieren beispielsweise verringert sich mit jedem Jahrzehnt ab dem vierzigsten Lebensjahr um 10 Prozent. Zwar geht die Funktionsminderung der Organe nur zum Teil auf die nachlassende Herzleistung und verengte Blutgefäße zurück, aber diese Faktoren verschärfen die altersbedingten Veränderungen in den Nieren selbst. Im Alter zwischen vierzig und achtzig verliert eine normale Niere rund 20 Prozent ihres Gewichts und verödet in manchen Bezirken. Wenn sich obendrein die feinen Blutgefäße innerhalb der Niere verengen, nimmt der Blutfluß weiter ab. Das kann zur Zerstörung von Harnfiltern führen, die für die wichtigste Funktion der Niere, das Ausscheiden von Schlacken, Säuren und Salzen, verantwortlich sind. Im Alter kann die Hälfte der Harnfilter absterben. 

Solche Veränderungen in der Struktur verringern die Leistungsfähigkeit der Niere. Mit zunehmendem Alter verliert sie die Fähigkeit, überschüssiges Kochsalz auszuscheiden bzw. den Stoff im Körper zurückzuhalten, wenn er gebraucht wird.

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Alte Menschen leiden daher oft an einem unstabilen Wasser- und Salzhaushalt mit der Folge, daß sich das Risiko eines Herzversagens oder der Dehydrierung des Körpers vergrößert. Kardiologen müssen deshalb einen heiklen Kurs steuern zwischen der Scylla des Herzversagens, induziert durch überhöhten Kochsalzgehalt, und der Charybdis der Austrocknung alten Gewebes.

Alle diese Störungen erhöhen das Risiko des Nierenversagens. Auch wenn es nicht zum akuten Versagen kommt, sondern nur zu einer Unterfunktion der Niere, erholt sich ein altes Organ viel langsamer als ein jugendliches. Die Altersniere ist streßanfällig: Tod durch Nierenversagen ist eine verbreitete Todesursache bei Menschen, die durch ein anderes Leiden wie etwa Krebs im Endstadium oder einen Leberschaden geschwächt sind. Die nicht ausgeschiedenen Giftstoffe stauen sich im Blut; andere Organe, vor allem das Gehirn, werden geschädigt. In solchen Fällen ist der Tod durch Blutharnvergiftung oder Urämie, dem oft ein Koma vorangeht, unausweichlich. Urämische Patienten sterben gewöhnlich an Herzrhythmusstörungen, weil die Nieren dem Blut das überschüssige Kalium nicht mehr entziehen können. Ein Nierenversagen stellt sich meist allmählich ein, dann aber kommt der Tod blitzartig in Form von Herzrhythmusstörungen. Den Opfern bleibt dann keine Zeit für letzte Worte oder Versöhnungen am Sterbebett. 

Obwohl altersbedingte Veränderungen im Harnsystem vor allem in den Nieren auftreten, kann auch die Blase in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Harnblase ist ein mit Schleimhaut ausgekleideter Hohlmuskel. Mit zunehmendem Alter verliert der Muskel seine Dehnbarkeit und kann nicht mehr soviel Urin wie früher fassen. Alte Menschen müssen ihre Blase öfter entleeren als junge, deswegen stand meine Großmutter nachts ein- oder zweimal auf und mühte sich im Dunkeln mit ihrer Kaffeedose ab.

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Im Alter setzt oft auch die erlernte Kontrolle der Blasenentleerung aus, wenn die Koordination zwischen dem Hohlmuskel und den Schließmuskeln, die das Austreten des Urins verhindern, gestört ist. Die daraus resultierende Inkontinenz kann für manche alte Menschen weitreichende Folgen haben, wenn Infektionen, Prostataleiden, psychische Störungen oder Probleme bei der Medikamentengabe hinzutreten. Kann die Blase nicht vollständig entleert werden, kommt es leicht zu Infektionen der Harnwege, die gerade bei geschwächten alten Menschen hohe Risiken bergen. 

Wie der Herzmuskel können sich auch Gehirnzellen nicht reproduzieren. Sie leben nur deshalb jahrzehntelang, weil ihre Strukturkomponenten immer wieder ausgetauscht werden. Innerhalb der Zelle ist so etwas wie ein Reparaturdienst tätig, der Verschleißteile, denen die Zellbiologen so merkwürdige Bezeichnungen wie Organellen, Enzyme und Mitochondrien gegeben haben, immer wieder auswechselt. Wie der ganze Körper hat auch jede Zelle ihre Äquivalente für die Schrauben und Rädchen, von denen Thomas Jefferson sprach. Funktioniert der Reparaturdienst nicht mehr richtig, dann überlebt die Nerven- oder Muskelzelle den ständigen Verlust wichtiger Komponenten nicht.

Der Reparaturdienst innerhalb der Zelle ist auf die Mitwirkung bestimmter Molekularstrukturen angewiesen. Doch die Moleküle haben in biologischen Systemen eine begrenzte Lebensdauer. Ist sie erreicht, verändern sie sich durch die ständige Kollision miteinander so sehr, daß sie keine neuen Ersatzteile hervorbringen können. Sind sie verschlissen, kann auch die Gehirnzelle, der sie dienen, nicht mehr weiterleben.

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Diesen biochemischen Prozeß nennen die Biologen Zellaltern. Die Zelle stirbt langsam und ihre Nachbarn mit ihr. Ist ein bestimmtes Ausmaß erreicht, zeigt das Gehirn altersbedingte Ausfallerscheinungen.

Nach dem fünfzigsten Lebensjahr verliert das Gehirn alle zehn Jahre 2 Prozent seines Gewichts. Bei Babes Tod mit siebenund­neunzig Jahren wog ihr Gehirn also rund 10 Prozent weniger als zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Amerika. Die Gyri, jene Windungen der Großhirnrinde, in denen sich die für unser Wahrnehmen und Denken entscheidenden Aktivitäten abspielen, schrumpfen am meisten. Gleichzeitig verbreitern sich die Furchen zwischen ihnen, ebenso die mit Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit gefüllten Kammern tief in der Hirnsubstanz, die sogenannten Hirnventrikel. Gleichsam als äußeres Zeichen der biologischen Alterung tritt auch hier Lipofuscin auf und gibt den Zellen der weißen und grauen Substanz eine cremig-gelbe Färbung, die mit zunehmendem Alter dunkler wird. Auch das Altern hat seine eigentümliche Farbe.

Sind diese Veränderungen schon mit unbewehrtem Auge zu erkennen, so zeigt die mikroskopische Untersuchung das ganze Ausmaß der Gehirnschrumpfung. Besonders auffällig ist die Abnahme der Nervenzellen oder Neuronen als Folge des versagenden Reparaturdienstes in der Zelle. Die Vorgänge in der Großhirnrinde sind repräsentativ für das Ganze. Die im Stirnlappen gelegenen motorischen Zentren verlieren zwischen 20 und 50 Prozent ihrer Neuronen; das Sehzentrum im Hinterhauptslappen verliert rund 50 Prozent; die an der Grenze zwischen Stirn- und Scheitellappen gelegene Körperfühlsphäre verliert ebenfalls rund 50 Prozent.

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Glücklicherweise haben die Zentren für höhere intellektuelle Leistungen einen erheblich geringeren Zellverlust zu verschmerzen, und vieles scheint dank Überlappung und Redundanz ausgeglichen zu werden. Möglicherweise erhöhen die verbliebenen Neuronen auch ihre Leistung, jedenfalls bleibt die Fähigkeit zum Denken und Urteilen bei den meisten Menschen bis ins hohe Alter ungeschmälert erhalten.

Die Ergebnisse der jüngsten Forschung legen sogar den Schluß nahe, daß bestimmte Neuronen der Großhirnrinde in reiferen Jahren zahlenmäßig zunehmen, und diese Zellen befinden sich gerade in den Zentren, die für die höheren intellektuellen Leistungen zuständig sind. Berücksichtigt man weiterhin die Beobachtung, daß die faserartigen Fortsätze oder Dendriten vieler Neuronen auch bei alten Menschen noch wachsen, sofern diese nicht an der Alzheimerschen Krankheit leiden, so drängen sich interessante Schlußfolgerungen auf: Neurologen könnten eine wissenschaftliche Erklärung für die sogenannte Altersweisheit gefunden haben, die wir uns alle für unseren Lebensabend wünschen. 

Von diesen eng umschriebenen Bezirken abgesehen, verliert die Großhirnrinde nicht nur Neuronen; fast alle verbleibenden Neuronen zeigen eine verringerte Leistungsfähigkeit. Im Alltag können wir dies an den langsameren Bewegungen unserer älteren Mitmenschen und relativ früh auch an uns selbst beobachten. Das Gehirn arbeitet langsamer und braucht auch mehr Zeit, um sich von Schäden an seiner biologischen Substanz zu erholen - besonders von solchen, die sein Überleben in Frage stellen.

Besonders gefährlich sind Durchblutungsstörungen. Wird die Blutzufuhr zu bestimmten Bezirken des Gehirns unterbrochen (eine Katastrophe, die gewöhnlich plötzlich eintritt), kommt es zur Dysfunktion oder zum Absterben der Nervenzellen, die von der verstopften Arterie versorgt wurden.

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Das ist die eigentliche Bedeutung des Ausdrucks »Schlaganfall«. Schlaganfälle können vielerlei Ursachen haben, aber der häufigste ist bei älteren Menschen ein atherosklerotischer Verschluß von Zweigen der beiden großen Blutgefäße, die das Gehirn versorgen, der rechten und der linken inneren Halsschlagader. Annähernd 20 Prozent der Schlaganfallopfer, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, sterben kurz nach dem ersten Anfall, weitere 30 Prozent bleiben bis zu ihrem Tod auf ständige Pflege angewiesen. 

Zwar prangen auf den Totenscheinen der Opfer oft gewichtige Ausdrücke wie »zerebraler Insult« oder »akuter Hirninfarkt«, doch nicht die exakte medizinische Bezeichnung ist das wirklich Aufschlußreiche, sondern die Zahl, die unter der Rubrik »Alter« steht: fast immer ist sie hoch. Männer und Frauen über fünfundsiebzig erleiden zehnmal häufiger einen Schlaganfall als solche zwischen fünfundfünfzig und neunundfünfzig. 

Tatsächlich stand »akuter Hirninfarkt« auf dem Totenschein meiner Großmutter. Heute weiß ich es besser, und auch schon damals war ich nicht überzeugt. Zwar erläuterte der Arzt, was dieser Ausdruck bedeutet, doch seine Diagnose leuchtete mir nicht ein, heute weniger denn je. Hätte er mit »akuter Hirninfarkt« das Ereignis lediglich benennen wollen, das Babe den Tod brachte, so wäre ich einverstanden gewesen. So aber schien er mir weismachen zu wollen, daß die Entwicklung, die ich über achtzehn Jahre lang verfolgt hatte, ihr Ende in einer akuten, genau definierten Krankheit gefunden habe, und das war für mich nicht nachvollziehbar. 

Dies ist kein müßiger Streit um Worte. Hinter dem Unterschied zwischen Hirninfarkt als todbringendem Ereignis und dem Hirninfarkt als Todesursache verbirgt sich der grundlegende Unterschied zweier Weltanschauungen: 

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Soll man sich weiterhin den ehernen Gesetzen unserer biologischen Existenz fügen oder soll es zum Feld der Wissenschaft gehören, auch mit jenen Mächten zu ringen, die für die Einhaltung der Grenzen unserer menschlichen Lebensform und unserer Kultur bürgen? Ich bin kein weltfremder Natürlichkeitsapostel — ich begrüße die Errungenschaften der modernen Wissenschaft. Ich plädiere nur dafür, daß wir unser vermehrtes Wissen auch mit gewachsener Einsicht nutzen. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sprachen die ersten Vertreter der experimentellen Methode und der exakten Wissenschaften von der »Ökonomie der Lebewesen« und von der »Ökonomie der Natur« schlechthin. Wenn ich sie recht verstehe, so meinten sie damit das Gesetz, das den Fortbestand der Erde und aller Lebensformen garantiert. Dieses Gesetz, so will es mir scheinen, folgt dem gleichen darwinistischen Prinzip des Kampfes ums Überleben, das auch für die einzelnen Tier- oder Pflanzenarten gilt. Wenn das Leben auf unserem Planeten fortbestehen soll, darf die Menschheit nicht das Gleichgewicht — oder die Ökonomie — dadurch stören, daß sie gerade an dem wichtigsten Element herumexperimentiert, nämlich der ständigen Erneuerung und Auffrischung des Lebens innerhalb der Grenzen jeder Art. 

Tier- und Pflanzenarten können sich nur unter der Voraussetzung erneuern, daß die Individuen den Tod erleiden. Nichts anderes meint der Kreislauf der Natur. Diese Abfolge von Tod und Leben hat nichts Pathologisches, vielmehr ist sie geradezu das Gegenteil des Kranken. Wenn daher ein natürlicher Prozeß mit dem Namen einer Krankheit belegt wird, ist das bereits der erste Schritt dahin, Abhilfe schaffen und so dem Prozeß entgegenarbeiten zu wollen. Dem natürlichen Prozeß entgegenarbeiten heißt aber, den Fortbestand der ganzen Schöpfung untergraben, denn dieser Prozeß ist letztlich Ausdruck eines universalen Gesetzes. 

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Weil es dieses Gesetz gibt, mußte Babe sterben, wie auch wir alle einmal sterben müssen. Ich hatte miterlebt, wie die Lebenskraft meiner Großmutter immer schwächer wurde, und ich war auch zugegen, als der Tod zum erstenmal mit Macht nach ihr griff. Es war frühmorgens an einem ganz gewöhnlichen Tag. Nach dem Frühstück saß ich noch am Küchentisch und las den Sportbericht der Tageszeitung, als mir plötzlich auffiel, wie merkwürdig Babe die Krümel vom Tisch zu wischen versuchte. 

Wir wußten längst, daß solche Hausarbeiten eigentlich über ihre Kräfte gingen, aber sie ließ sie sich nicht ausreden. Deshalb erledigte immer einer von uns, kaum war Babe mühsam aus dem Raum gegangen, die Arbeit, die sie unzureichend verrichtet hatte. Doch als ich an diesem Morgen von der Zeitung aufblickte, sah ich, daß ihre ausholenden Armbewegungen unkontrollierter waren als sonst. Die Hand bewegte sich zunächst kreisend, dann nur noch ziellos hin und her, ohne mit dem feuchten Lappen irgend etwas aufzuwischen. Babe sah starr geradeaus, als schaue sie durch das Fenster hinter mir nach draußen. Aus ihren Augen, die offensichtlich nichts mehr wahrnahmen, sprach dumpfe Teilnahmslosigkeit, ihre Miene war ohne Ausdruck. Selbst ein regloses Gesicht läßt immer noch etwas erkennen, doch als ich meine Großmutter so vollkommen geistesabwesend sah, wußte ich auf einmal, daß ich sie für immer verloren hatte. Ich rief noch »Babe, Babe«, aber es war schon zu spät. Sie hörte mich nicht mehr. Der Lappen fiel ihr aus der Hand, und sie glitt lautlos zu Boden. 

Ich eilte zu ihr und rief sie beim Namen, aber alles Rufen war vergeblich. Damals begriff ich nicht, was eigentlich vor sich ging. Es gelang mir, sie vom Boden aufzuheben und in das Zimmer zu tragen, das wir miteinander teilten.

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Dort legte ich sie auf mein Bett. Sie atmete laut schnarchend. Beim Ausatmen kam die Luft in langen kräftigen Stößen nur aus einem Mundwinkel und blähte die Wange wie ein nasses Segel. Ich erinnere mich nicht mehr, welche Seite es war, aber eine Hälfte ihres Gesichts wirkte schlaff und leblos. Ich stürzte zum Telefon und benachrichtigte einen Arzt, der seine Praxis ganz in der Nähe hatte. Dann rief ich meine Tante Rose in der Kleiderfabrik in der Seventh Avenue an. Rose traf noch vor dem Arzt ein, der sich nicht so rasch von seinem Wartezimmer voller Patienten lösen konnte. Wir wußten alle, daß er nichts mehr für meine Großmutter tun konnte. Als er schließlich kam, sagte er, Babe habe einen Schlaganfall erlitten und werde nur noch wenige Tage leben.

Doch sie strafte den Doktor Lügen. Sie hielt durch und wir mit ihr, keiner ließ sie im Stich — das war für uns alle selbst­verständlich. Babe blieb in meinem Bett, Tante Rose nahm das Doppelbett, das sie mit ihrer Mutter geteilt hatte, und Harvey stellte mir sein Klappbett zur Verfügung, auf dem er sonst im Zimmer meines Vaters schlief. Damit blieb für ihn kein Bett mehr übrig, weshalb er die folgenden zwei Wochen auf dem Wohnzimmersofa schlafen mußte.

In den folgenden achtundvierzig Stunden wurden wir Zeugen eines Ereignisses, das unter den vielen Grausamkeiten, mit denen das Leben sich von seinen ältesten Freunden trennt, vielleicht am entmutigendsten ist. Babes geschwächtes Immunsystem und ihre verbrauchte alte Lunge hatten dem Ansturm der Bakterien nichts entgegenzusetzen. 

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Das Immunsystem ist der unsichtbare Schild, der uns gegen die Angriffe potentiell lebensbedrohender äußerer Feinde schützt, die für das unbewehrte Auge ebenfalls unsichtbar sind. Ohne unser Wissen und bewußtes Mittun passen sich die Immunstrukturen der Zelle den ständig wechselnden Lebensumständen und ihren unsichtbaren Gefahren an. Die Natur als unser stärkster Schild, aber auch unser stärkster Gegner hat uns mit Abwehrkräften gewappnet, damit wir der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt, die ja auch ein Teil der Natur ist und als solcher weiterexistieren soll, gewachsen sind. Wie alle anderen Lebewesen müssen auch wir uns den Gefahren des Kampfes ums Dasein stellen. Mit zunehmendem Alter wird unser Immunpanzer jedoch löcherig, denn das Immunsystem ist wie alles an unserem Körper dem Verschleiß ausgesetzt.

Die Schwächung des Immunsystems hat die besondere Aufmerksamkeit der gerontologischen Forschung auf sich gezogen. Gerontologen haben Defekte bei der Abwehrreaktion alter Menschen festgestellt, sogar Defekte beim Mechanismus der Identifizierung der Antigene. Schädliche Stoffe gelangen leichter in den Körper, da sie der Aufmerksamkeit der gealterten Immunwächter entgehen; sind sie erst einmal eingedrungen, überwältigen sie die geschwächten Verteidiger. In Babes Fall hieß das Ergebnis Lungenentzündung.

William Osler war gespaltener Meinung über die Lungenentzündung bei alten Menschen. In der ersten von insgesamt vierzehn Auflagen seines Standardwerks <Lehrbuch der internen Medizin> nennt er sie den »Erzfeind des hohen Alters«, doch später gelangt er zu einer konträren Einschätzung: »Man hat die Lungenentzündung den Freund des Greisenalters genannt. Von der akuten, kurzen, meist schmerzlosen Krankheit hinweggerafft, entgeht der Greis dem für ihn und die Umgebung so traurigen unaufhaltsamen Verfall.«

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Ich kann mich nicht erinnern, ob der Arzt Penicillin verschrieb, um den »Freund des Greisenalters« zu bekämpfen, doch ich bezweifle es. Aus Motiven, die vielleicht selbstsüchtig waren, wollte ich nicht, daß Babe starb, und alle anderen Familienmitglieder dachten ebenso. Der Arzt war sicherlich realistischer und auch weiser als wir, die wir sie nicht gehen lassen wollten. 

Babe fiel in einen komatösen Zustand und verlor dabei auch ihren Hustenreflex. Sie konnte sich nicht von dem zähen Schleim befreien, der bei jedem Atemzug für ein röchelndes Geräusch in der Luftröhre sorgte. Harvey ging zum Drugstore an der Ecke und entdeckte dort eine Vorrichtung, mit der der zunehmend eitrige Schleim abgesaugt werden konnte, der aus Babes Lunge aufstieg und das fatale Röcheln hervorrief. Die Vorrichtung bestand aus einem Glaszylinder mit zwei Mündungen, an die jeweils ein Stück Gummischlauch angeschlossen war. Harvey führte ein Schlauchende in Babes Luftröhre, das andere Ende steckte er sich in den Mund, dann saugte er den angesammelten Schleim ab. Tante Rose brachte es nicht über sich, an dem Schlauch zu saugen, und auch ich konnte es nur ab und zu. So erwies Harvey seiner Babe diesen Liebesdienst, oder zumindest glaubten wir, daß es ein solcher sei.

So kam es, daß Babe dank vereinter Anstrengungen und wohl auch, weil der Todesengel seine Meinung geändert hatte (für mich war er eine Schimäre, für gläubige Menschen aus der Alten Welt aber eine ernstzunehmende Realität), schließlich die Lungenentzündung und auch den Schlaganfall überlebte. Vielleicht haben unsere Tränen und Gebete mehr geholfen als Harveys Saugvorrichtung aus dem Drugstore und die letzten Kräfte des Immunsystems unserer Großmutter. 

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Jedenfalls erwachte sie wieder aus dem Koma, erlangte den größten Teil ihrer Sprache und einen kleinen Teil ihrer Beweglichkeit wieder und lebte noch ein paar Monate, allerdings mehr für sich als für uns. Dann aber blieb ihre Lebensuhr endgültig stehen. An einem kalten Freitagmorgen im Februar erlag sie einem zweiten Schlaganfall. Gemäß jüdischem Gesetz wurde ihr toter Körper noch am späten Nachmittag desselben Tages bestattet. Ich habe ein, wie manche es nennen, fotografisches Gedächtnis. Zwar läßt es mich manchmal gerade dann im Stich, wenn ich es am nötigsten brauche, aber meist leistet es mir beim Erinnern meines Lebens gute Dienste. Auf einige Bilder aus meinem reichen Gedächtnis würde ich allerdings lieber verzichten. Eines davon ist die Erinnerung an den achtzehnjährigen jungen Mann, der allein am offenen Sarg einer alten Frau steht, die er kaum wiedererkennt, obwohl er keine zwölf Stunden vorher unter Tränen ihre leblose Wange geküßt hat. Der Leichnam im Sarg sah so gar nicht der Babe ähnlich, die ich mein Leben lang gekannt habe. Ein zusammengekrümmtes Etwas, weiß wie Wachs, ein Körper, aus dem das Leben gewichen war.

Heutzutage sind Ärzte gewohnt, sich nur mit dem Leben und den lebensbedrohenden Krankheiten zu befassen. Selbst Pathologen, die Leichenöffnungen vornehmen, suchen nach Anhaltspunkten für künftige Therapien, die den Lebenden zugute kommen sollen. Im großen und ganzen stellen sie also die Uhr ein paar Stunden oder Tage bis zu dem Zeitpunkt zurück, als das Herz noch geschlagen hat, um herauszufinden, welches Ereignis den Tod des Patienten herbeigeführt haben könnte. Die wenigen, die eine klare Vorstellung vom Tod haben, sind gemeinhin Philosophen und Dichter, aber nicht Ärzte. In der Vergangenheit hat es allerdings Ärzte gegeben, die ein Verständnis dafür hatten, daß der Tod und seine Folgen Teil der Conditio humana sind und daher durchaus die Aufmerksamkeit des Arztes verdienen. 

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Zu diesen Männern gehörte Thomas Browne. Er lebte in jenem staunenswerten 17. Jahrhundert, in dem das wissenschaftliche Denken und die induktive Methode auch das Denken der gebildeten Laien beeinflußte und sie an den Wahrheiten zweifeln ließ, die ihren Vätern noch so teuer gewesen waren. Im Jahr 1643 veröffentlichte Browne sein Büchlein <Religio Medici: Ein Versuch über die Vereinbarkeit von Vernunft und Glauben>, ein kleines Juwel der kontemplativen Literatur. 

Er selbst nannte es »eine Übung zum eigenen Gebrauch«. Dem Essay wird gewöhnlich eine Sammlung von Beobachtungen beigegeben, die der Verfasser über das Sterben eines Mannes angestellt hat. Unter dem Titel <Brief an einen Freund> schreibt er: »Am Ende war er nur noch halb so groß und ließ vieles von sich zurück, das er nicht mitnehmen konnte.« 

 

Wie oft habe ich mit Familien am Totenbett gestanden und miterlebt, daß sie diesen Prozeß nicht wahrhaben wollten, der sich vor ihren Augen in oft erschreck­ender Weise abspielte. Sie fragen sich, warum alles so ganz gegen ihre Erwartung abläuft und warum offenbar nur sie allein solches Leid zu tragen haben.  

Ein solches beispielloses Leid war es, das ich bei Babes Tod empfand und das sich auch später immer wieder bei der Erinnerung an den so fremden Körper im Sarg einstellte.

Das Leben erfüllt Organe und Gewebe mit pulsierender Energie und unser Bewußtsein mit dem Stolz darauf, lebendig zu sein. Wenn es uns verläßt, mit einem Knall wie bei Irv Lipsiner oder mit einem langen Seufzer wie bei Babe, bleiben wir oft mit einem Objekt von befremdender Unwirklichkeit zurück. 

Als Charles Lamb den Leichnam des beliebten englischen Schauspielers R.W. Elliston sah, war er so erschüttert, daß er später schrieb: »Beim Allmächtigen, wie klein Ihr scheint. So werden wir alle aussehen, Könige oder Kaiser, wenn wir von allem entblößt unsere letzte Reise antreten.« 

Browne selbst schrieb: »Wahrhaftig, ich fürchte den Tod nicht so sehr, als ich mich seiner schäme. Es ist der wahre Schimpf und Ruin unserer Natur, der uns in einem Augenblick so entstellen kann, daß unsere nächsten Freunde, ja unser Weib und Kind beklommen stehen und vor uns zurückweichen.«

Thomas Brownes oder Charles Lambs Worte hätten mich am Sarg meiner Großmutter trösten können. 

Vieles wäre an jenem Tag für mich leichter und die Erinnerung wäre weniger qualvoll gewesen, hätte ich damals gewußt, daß nicht nur meine Großmutter kleiner wurde, sondern jeder Verstorbene. Wenn der Geist den Körper verläßt, gehen mit ihm auch die schwellenden Kräfte des Lebens. Was bleibt, ist ein seelen­loses Bündel aus Fleisch und Knochen, das an unserem Menschsein nur den geringsten Anteil hat.

Hätte ich damals Brownes Buch gekannt, wäre mir im Rückblick auf die letzten Jahre meiner Großmutter wohl die Erkenntnis gekommen, wie sehr das Sterben eine alle Menschen verbindende Erfahrung ist.

Wenige Seiten vor der oben zitierten Stelle steht zu lesen: »Wieviel Mühsal und Schmerzen es uns kostet, auf die Welt zu kommen, wissen wir nicht, aber sie wieder zu verlassen ist verbürgtermaßen keine Kleinigkeit.« 

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Nuland 1993