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5.  Die Wissenschaft schmeichelt - Die Erde ist kein Spielzeug    Osborn-1948

 

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Viele leben im Glauben, Land, das durch Raubbau unfruchtbar geworden, könne durch chemische Dünge­mittel wieder ertragreich gemacht werden. Wir sind heutzutage von den «Wundern der modernen Wissenschaft» so beeindruckt, daß wir ihr geradewegs alles zutrauen — selbst, die Natur zurechtzuflicken. Wir bewegen uns, leben, treiben unser Wesen in einer Welt der Erfindungen und «unentbehrlichen» technischen Kleinigkeiten. Das heißt, etwa eine Milliarde von uns tut dergleichen — die andere Milliarde lebt auf dem Lande und versucht, für den eigenen Unterhalt und den des Restes von uns, der in Städten lebt, genügend viel Bodenerträge zu beschaffen.

Gewiß weiß jeder - wenn man auch selten daran denkt -, daß ein Wald, der einmal abgeholzt ist, lange Zeit braucht, um wieder zu wachsen, und doch hat man anscheinend vergessen, daß in den ruinierten Ländern etwa der Mittel­meerregionen, die Wälder niemals neugewachsen sind — ja, daß sie es auch selbst bei der sorgfältigsten Pflege nur in vielen, vielen Menschenleben könnten, da die Humusschicht der Landschaft abgetragen ist. Man glaubt im allgemeinen, man brauche nur Düngmittel zu verwenden, um solche Landstriche wieder fruchtbar zu machen. Es kann keine größere Illusion geben.

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Die Behandlung des Bodens mit Chemikalien und Düngmitteln ist - das muß man zugeben - sehr hilfreich, um Land davor zu bewahren, steril zu werden. Bei den heutigen Methoden schneller Getreideproduktion werden dem Boden die Mineralstoffe, die die Pflanzen nähren, rascher entzogen, als sie durch Naturprozesse ersetzt werden können, und daher gehört die Düngung des Bodens mit Chemikalien wie Kalk, Phosphat und Pottasche zu den heute allgemein angewandten Methoden modernen Ackerbaus. Auch die organischen Stoffe, die dem Boden entzogen wurden, lassen sich in weitem Umfange ersetzen durch Düngung mit Viehmist oder auch durch sogenannte «Gründüngung», die bekanntlich darin besteht, daß man Leguminosen und Gras unterpflügt. 

Daß natürliche und künstliche Düngmittel ein notwendiges Hilfsmittel zur Bewahrung der Bodenergiebigkeit sind, läßt sich nicht bestreiten, aber auch im besten Fall bleiben die Düngmittel Korrektivmittel. Auf keinen Fall darf man Düngmittel - vor allem nicht die künstlichen - allein als einen vollwertigen Ersatz für die natürlichen Prozesse betrachten, die für die Fruchtbarkeit des Bodens verantwortlich sind.

Soweit unsere heutigen Kenntnisse reichen, läßt sich auf die Dauer Leben nicht durch künstliche Prozesse unterhalten. Die Auslaugung der lebensspendenden Elemente des Bodens, die mit ständig wachsender Geschwindig­keit fortschreitet, mag durch künstliche Hilfsmittel aufgehalten, aber niemals ausgeheilt werden. In Betreff der Geschwindigkeit dieser Bodenverschlechterung hat man vor kurzem abgeschätzt, daß in den letzten Jahrzehnten mehr fruchtbarer Boden zugrunde gerichtet wurde als in allen verflossenen Zeiten zusammen.

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Ist das auch nur eine Schätzung und läßt sie sich nicht durch zahlenmäßige Angaben stützen, so stammt sie doch von fähigen Köpfen, die versucht haben, die Wirkungen der Erosion in der ganzen Welt mit der größten ihnen erreichbaren Genauig­keit zusammenzustellen.

Es gibt zwei Gründe, warum künstliche Prozesse, wenn man sie nicht als Ergänzungen von Naturvorgängen betrachtet, niemals eine Lösung für die augenblickliche Krisis darstellen können. Der erste betrifft das eigentliche Wesen produktiver Böden. Der zweite Grund ist ein praktischer und hängt mit der Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit zusammen — angesichts der außerordentlich komplizierten Technik, die aufgewandt werden muß, um mit künstlichen Mitteln auch nur einen einigermaßen beträchtlichen Grad von Fruchtbarkeit zu erzielen —, die große Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen zu schulen.

Um auf den ersten Grund zu kommen, muß man bedenken, daß die Masse des Bodens in sich stabil sein muß, denn ist das Land durch übernormal aktive Erosionsvorgänge des Windes oder Wassers in Bewegung, dann lassen sich unmöglich gute Boden­bedingungen aufrecht erhalten. Unter allen Umständen bleibt es also die erste Aufgabe, eine fortgesetzte Erosion zu verhindern, die, wie wir noch sehen werden, bereits so große Teile der Erdoberfläche verwüstet hat, auf denen man ungeeignete Methoden des Ackerbaues anwendete. 

Ferner ist es unumgänglich notwendig, darüber im klaren zu bleiben, daß der fruchtbare Humus etwas Lebendiges ist in dem Sinn, daß er eine große Zahl verschiedenartigster Lebewesen beherbergt, die in gegenseitiger Wechselwirkung miteinander schaffen und im Endeffekt die Gesundheit und Fruchtbarkeit des Bodens erst sicherstellen. Wie groß auch die Geisteskraft des Menschen ist, Leben zu erschaffen vermag er nicht. Kurz gesagt, die Fruchtbarkeit des Bodens beruht weitgehend auf den lebendigen Organismen, die in ihm wohnen, selbstverständlich in Zusammenspiel mit seinen mineralischen Nährstoffen.

Nirgendwo auf dieser Erde hat die Natur ein enger verkoppeltes System wechselweise verknüpfter Lebensprozesse aufgebaut als im Boden. Da ist eine unendliche Vielfalt tierischen Leibens, beginnend nach Art und Größe bei wühlenden Nagetieren, Insekten, Erdwürmern, die ganze Stufenleiter tierischen Daseins herunter bis zu den mikroskopisch kleinen Formen, wie Protozooen und Bakterien.

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Zwei wesentliche Beiträge liefern diese Lebewesen zur Fruchtbarkeit des Bodens, der eine gleich wichtig wie der andere. Der erste ist die Bearbeitung des Bodens, die sie mit dem Durchgang ihrer Körper — klein oder groß wie sie sind — durchführen, und die zugleich für den Zutritt von Luft und Wasser in den Boden sorgt. Zahllose Lebewesen sind mit dieser Arbeit beschäftigt — unter ihnen viele Insektenarten und andere Wirbellose, deren Zahl in die Millionen pro Ar geht. Der Regenwurm ist der bekannteste, doch in keiner Weise der wichtigste dieser Ackersleute der Natur.

Der zweite Beitrag kommt dadurch zustande, daß das Tierleben und die Lebenstätigkeit der Bakterien das Werkzeug ist, das organische Reste mit den Mineralbestandteilen des Bodens vermischt. Diese lebenden Elemente — ihre unermeßliche Schar, dem Auge nicht sichtbar — sind die wahren Bodenchemiker. Umfang und Kompliziertheit der Wirkung nur der Bakterien allein läßt sich nicht festlegen. Schon ein flüchtiger Blick auf einige ihrer Funktionen erweist, wie außerordentlich komplex das Wesen des Bodens ist, und warum keine noch so erfolgreiche Anwendung künstlicher Vorgänge die Naturprozesse wirklich ersetzen kann. 

Eine Tätigkeit der Bakterien zum Beispiel besteht darin, daß sie Stickstoff aus der Luft aufnehmen und ihn in solche Verbindungen überführen, die von den Pflanzen ihrerseits zu Eiweißstoffen umgebaut werden können. Die Pflanzen können den freien Stickstoff der Luft nicht unmittelbar benutzen, und wir müssen uns erinnern, daß alle lebende Substanz, vom Virus bis zum Menschen, im wesentlichen organisiertes Eiweiß (also stickstoffhaltige Verbindungen) darstellt. Eine andere Gruppe von Bakterien zersetzt die Eiweißstoffe, die in totem tierischen oder pflanzlichen Material vorhanden sind, und bauen sie zu Ammoniak ab. Ammoniak ist eine Stickstoffverbindung, die meisten Pflanzen können aber Ammoniak als solches nicht brauchen, sondern benötigen den Stickstoff in Form von Nitraten. Die erstgenannte Bakteriengruppe nun baut das Ammoniak zu Nitriten um, die von den Pflanzen noch nicht benutzt werden können.

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Doch gleichzeitig ist eine zweite Gruppe von Bakterien am Werk, deren Aufgabe es ist, aus den Nitriten Nitrate aufzubauen, die von den Pflanzen leicht aufgenommen und zum Aufbau von Eiweißstoffen benutzt werden können; mehr Eiweiß aber bedeutet Wachstum. Auch der umgekehrte Prozeß findet statt, in dem Bakterien Nitrate zu Nitriten und endlich zu freiem Stickstoff umformen, der dann in die Luft zurückgeht. Aus der Luft nehmen ihn wieder stickstoffsammelnde Bakterien auf, und wieder wird er von ihnen in Verbindungen überführt, die zum Eiweißaufbau geeignet sind.

So gibt es noch beinahe ungezählte Eigenheiten des fruchtbaren Bodens. So benötigen beispielsweise alle lebenden Zellen Eisen; wenn auch zuweilen nur in winzigen Spuren, ist es zum Wachstum und zur Gesundheit aller Pflanzen und Tiere nötig. Fehlt Eisen völlig im Boden, so welken alle grünen Pflanzen, werden gelb und sterben schließlich ganz. Tritt so etwas auf, so ist das häufig ein Anzeichen für eine zu geringe oder abwegige Bakterientätigkeit im Boden. Gewisse Bodenbakterien können Eisen aufnehmen und an der Oberfläche ihrer Zelleiber aufspeichern, dort geht es leicht in die Form leichtlöslicher Eisenverbindungen über, die die Pflanzen aufnehmen können.

Eine weitere wichtige Komponente lebender Substanz ist Phosphor. Auch dies Element steht in engem Zusammenhang mit den Eiweißkörpern. Das Knochengerüst von Mensch und Tier besteht zum größten Teil aus phosphorsaurem Kalk. Das ist eine unlösliche Verbindung, die jedoch durch die Tätigkeit von Bodenbakterien in lösliche Phosphate umgewandelt wird; diese Auflösung beruht wesentlich auf der Produktion von Kohlensäure durch diese Bakterien.

Außer den Hauptbestandteilen des Bodens, Nitraten, Phosphaten, Kalk und Pottasche finden sich in ihm noch andere Elemente, wie Kupfer, Mangan, Zink und Bor, die als «seltenere» oder «Spurenelemente» bezeichnet werden. Erst in den allerletzten Jahren hat man erkannt, wie wesentlich diese Bestandteile eind. Vorher nahm man fälschlicherweise an, die Menge, in denen die Pflanzen diese Stoffe aufnähmen, sei zu gering, um von Bedeutung zu sein. Es kann aber nicht der mindeste Zweifel bestehen, daß die meisten, wenn nicht alle für ihre Gesundheit und Stärke lebensnotwendig sind, auch wenn die Natur sie nur in kleinster Menge bereitstellt.

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Allein die Tatsache, daß es sie gibt und daß sie im Spiel des Lebens eine eigene Rolle zu spielen scheinen, zeigt, auf welch außerordentlich verwickelten Vorgängen die Bodenergiebigkeit beruht. Die Beziehung zwischen Gesundheit des Bodens und der von Mensch und Tier, auf die wir im folgenden eingehen werden, ist nur ein anderer Aspekt der empfindlichen und komplizierten Wechselbezogenheit allen Lebens. Wie wäre es angesichts dieser Verhältnisse noch möglich, an der Idee festzuhalten, die «Wissenschaft» sei imstande, für die Erhaltung des menschlichen Lebens zu sorgen, indem sie ihre Methoden als Ersatz für die der Natur anbietet?

Der zweite Grund, warum wir kein ungerechtfertigtes Vertrauen auf die Fähigkeit der Bodenchemie setzen sollten, genügend viel Frucht und Faserstoffe zu züchten, ist ein rein praktischer. Eine theoretische Lösung wäre vielleicht noch in dieser Richtung zu finden. Bemißt man aber die Möglichkeiten vom praktischen Standpunkt, so müßte man voraussetzen, es sei angängig, die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte so zu schulen, daß sie imstande wären, Methoden des Anbaus durchzuführen, die äußerst kompliziert sind und daß sie Arbeitsmethoden annähmen, die zur Zeit nicht einmal im Laboratorium voll entwickelt sind. Recht befriedigende Resultate in einem Musterbetrieb zu erzielen, ist eine Sache — eine ganz andere, ähnliche Ergebnisse zu erhoffen, wenn es sich um Millionen von Bauern handelt, von denen viele an ungeeigneten Gewohnheiten bei der Bodenbenutzung hängen, besonders wenn man an die große Zahl derer denkt, die in Riesengebieten der Erde noch als Analphabeten leben, so daß ihnen die hochkomplizierten technischen Methoden der Landnutzung durch mündliche Schulung oder durch sichtbare Demonstrationen beigebracht werden müßten. — Jedenfalls eine ungeheuerliche Aufgabe.

 

Ein anderer verführerischer Vorschlag, der gelegentlich gemacht wurde, ist die Errichtung von großen, zentralisierten «Nahrungsmittel-Fabriken», in denen eßbare Pflanzen in Lösungen von Chemikalien in Wasser wachsen sollen. Diese Methode, Pflanzen zu züchten, die in Amerika mit dem Schlagwort «Hydroponics» bezeichnet wird, ist keine neue Erfindung; in England wurde sie in rohester Form schon im achtzehnten Jahrhundert geübt. In jüngerer Zeit wurde sie in ausgedehntem Umfang von Forschern mancher Länder als Hilfsmittel benutzt, um Aufschlüsse über das Wachstum von Pflanzen zu bekommen.

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Bisher wurde Pflanzen­zucht in einigermaßen großem Maßstab nach dieser Methode noch nicht durchgeführt, und alle, die mit der Kompliziertheit des Vorgangs vertraut sind, zweifeln an der praktischen Durchführbarkeit. Weiter sind viele schöne Worte darüber verloren worden, daß wir einen großen Teil unserer Grundrohmaterialien, darunter auch lebende Pflanzen, aus maritimen Quellen schöpfen könnten. Niemand sollte sich über die Zeit und Mühe lustig machen, die aufgewendet wurden, um die Möglichkeit zu untersuchen, die Bedürfnisse der Menschen auf diesem Weg zu befriedigen. 

Vielleicht kommt der Tag, an dem eine zusammengeschmolzene, hartbedrängte Menschheit froh ist, auf diese Hilfsquelle zurückgreifen zu können. Alles Leben entstammt dem Wasser, und wer weiß, ob wir nicht zu seinen Hilfsquellen zurückgehen müssen, um überleben zu können. Einstweilen kann man sich aber nur fragen, ob diejenigen, die solche Ideen in Vorschlag bringen, sich auch all ihre Folgen überlegt haben. Die Durchführung solcher Theorien würde eine soziale Revolution solchen Umfangs mit sich bringen, daß die ganze Struktur unserer menschlichen Gesellschaft zersprengt würde. Mehr als die Hälfte der gesamten Erdbevölkerung lebt auf dem Lande und erwirbt aus ihm seinen Lebensunterhalt.

Was not tut, läßt sich klar umreißen. Die Aufgabe ist, zu bewahren, was an guten natürlichen Böden, samt den dazu gehörigen Reichtümern von Wald, Wasserquellen und den Myriaden nützlicher Formen tierischen Lebens noch vorhanden ist. Es gibt kein anderes Problem von ähnlicher Bedeutung. Lösen wir es nicht, so wird die Bedrohung des menschlichen Lebens stärker und stärker werden und die Hungersnöte, die wir heute in verschiedenen Weltgegenden erleben, werden uns in kommenden Jahren als Kinderspiel erscheinen.

Was wir über die enge Beziehung zwischen den biologischen Vorgängen sagten, die bei der Bildung fruchtbarer Humusschichten zusammenwirken, führt uns auf eine andere Beziehung: die zwischen dem Boden und dem Wohlbefinden der Menschen und Tiere, die von den Produkten des Bodens leben.

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Der alte Spruch: «Der Mensch ist, was er ißt», bekommt heute einen viel tieferen Sinn, als man einst, bei der Prägung des Satzes, ahnen konnte. Unsere körperliche und geistige Energie und unser Wohlbefinden beruhen wesentlich auf der Zusammensetzung und Qualität unserer Nahrung. Mit Ausnahme von Fischen und anderen Nahrungsmitteln aus Meer- oder Süßwasser, entstammt all unsere Nahrung dem Boden, sei es direkt in Form von Getreide, Früchten oder Gemüsen, sei es indirekt in Form von Fleisch oder Milch von Tieren, die ihrerseits von den Pflanzen des Bodens leben.

Wie wir sogleich sehen werden, besteht eine außerordentlich große, geradezu überraschende Ähnlichkeit zwischen dem stofflichen Aufbau des Körpers der Tiere, mit Einschluß des Menschen, und dem der Pflanzen. Die Beziehungen zwischen Gesundheit und Nahrungsmitteln, die dem Boden entstammen, sind das Feld neuester und äußerst komplizierter wissen­schaftlicher Untersuchungen. Hat man in der letzten Zeit auch schon viel darüber gelernt, so bestehen doch noch für Biologie und Medizin viele Forschungs­aufgaben höchster Bedeutung.

Um wenigstens eine allgemeine Vorstellung von dieser ganzen Frage zu vermitteln, wird es am aufklärendsten sein, auf einige Tatsachen über Chemismus von Tier und Pflanze hinzuweisen und dann eine Auswahl neuerer Beobachtungen zu erwähnen, die den Gedanken stützen, nicht nur das Wohlbefinden, sondern geradezu das Überleben des Menschen hinge von der Bewahrung der Gesundheit des Bodens ab, gegen die man heute durch einsichtslosen Raubbau schon so wesentlich gesündigt hat.

Wir sind in Wahrheit aus dem Stoff dieser Erde gebildet. Unsere Körper, genau wie die aller Tiere sind aus chemischen Elementen zusammengesetzt, die Luft, Wasser und Boden entstammen. Schon vor Urzeiten haben Denker diese Einheit erahnt, wie die Worte der Bibel zeigen, in denen der Mensch als Erdenkloß angesprochen wird, dem der Schöpfer den lebendigen Odem in seine Nase blies. Lange Zeit jedoch nahm man an, Menschenwesen wie andere Tiere seien ausschließlich aus vier chemischen Hauptelementen aufgebaut, die alle aus der Luft oder dem Wasser stammten — nämlich Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff. 

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Diese falsche Vorstellung läßt sich leicht entschuldigen, denn tatsächlich werden unsere Körper bis auf etwa 5 Prozent wirklich aus diesen Elementen gebildet. Als sich dann später die Chemie langsam entwickelte, und die Zusammen­setzung der lebenden Körper eingehender untersucht wui de, fand man die Gegenwart weiterer Elemente.

Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurde allgemein anerkannt, daß Kalzium, Phosphor und Kalium in Tier- und Pflanzenkörper vorhanden seien. Dies führte zu der irrigen Annahme, daß weder Pflanzen noch Tiere Ernährungsschäden erleiden könnten, wenn man diese Elemente, beziehungsweise ihre Verbindungen zusammen mit Stickstoffverbindungen in reichlichen Mengen dem Boden zuführe. Meinungen, die nur Teilwahrheiten enthalten, haben zuweilen ein allzu zähes Leben, und es ist erstaunlich, wieviel Schaden sie anrichten können. 

Viele Jahrzehnte, ja den größten Teil eines Jahrhunderts glaubte man, mit dieser Analyse sei das letzte Wort gesprochen, und dieser Glaube beherrschte bis in die jüngste Zeit die ganze Lehre der Bodenchemie. Was noch schlimmer ist, auf ihm bauten sich allgemein befolgte, ungeeignete Methoden der Landwirtschaft auf, die derart Wurzel schlugen, daß man ihnen noch heute folgt. Innert gewisser Grenzen sind diese Methoden natürlich ausgesprochen erfolgreich, aber sie beruhen auf der falschen Vorstellung, die Anwendung von Düngmitteln, die Stickstoff, Phosphor, Kalium und Kalzium in ausreichender Menge enthalten, genüge, um die Gesundheit des Bodens und folglich auch die der Tiere und Menschen, die sich mit seinen Früchten nährten, sicherzustellen.

Erst in verhältnismäßig späten Jahren bemerkte die Wissenschaft weitere Elemente in lebenden Körpern. Diese Entdeckungen zeigen die wesenhafte Einheit von Tier- und Menschenleben mit der Erde selber, genauer mit gutem, fruchtbarem Boden. Weiter legen diese Entdeckungen nahe, daß die menschliche Gesundheit direkt von der Gesundheit des Landes abhängig sei und in gleichem Maße schwinden müsse wie diese selbst, bis zur völligen Auslöschung.

Wenn es auch stimmt, daß die vier aus Luft und Wasser stammenden Hauptelemente etwa 95 Prozent des menschlichen Körpers darstellen, und daß der Masse nach Kalzium, Phosphor und Kalium die nächst wichtigen sind, so liegt die Bedeutung der neuen Entdeckungen darin, daß es eine Reihe weiterer Elemente gibt, die alle dem Boden entstammen, und daß die Abwesenheit irgendeines von ihnen zu Krankheit, ja zum Tode führt.

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Zur Gruppe dieser lebensnotwendigen Nebenelemente gehört Natrium, Chlor, Schwefel, Magnesium, Eisen, Kupfer, Mangan, Jod, Kobalt und Zink, dazu noch spurenweise andere Chemikalien oder Mineralien, deren Bedeutung noch nicht voll bekannt ist. Im ganzen sind es siebzehn verschiedene Elemente. Mit Ausnahme der vier ersten, aus Luft und Wasser stammenden, verlangt das Tierleben sie alle vom Boden. Die Pflanzen benötigen alle die gleichen Elemente, mit Ausnahme von Kobalt, Natrium und Chlor, dafür aber wenigstens ein weiteres, Bor, das im tierischen Haushalt offenbar nicht benötigt wird. 

Nur im Vorbeigehen sei erwähnt, daß all diese Elemente nicht in der gewöhnlichen Form vorliegen, in der wir sie anzutreffen gewohnt sind, sondern hauptsächlich in Form von Salzen, wie Sulfate und Nitrate, die, wie wir oben in diesem Kapitel besprochen haben, durch biologische Vorgänge, die dauernd im Boden selber stattfinden, auf wunderbare Weise aus den Ausgangsmineralien gebildet werden. All das macht es klar, daß das Problem, den Boden genügend fruchtbar zu erhalten, um das Leben zu tragen, zwei Seiten hat. Es handelt sich darum, sowohl die Quantität wie die Qualität zu erhalten. Zur Wissenschaft der Bodenerhallung gehört mehr, als man noch vor zehn oder zwanzig Jahren annehmen konnte.

Bei all dem muß man sich daran erinnern, daß in Zusammensetzung und Qualität der Böden ein weiter Spielraum bestand, auch bevor der Mensch sie seiner Benutzung unterwarf, und daß solche Verschiedenheiten verantwortlich sind für viele beobachtbare Differenzen in Größe, Stärke und Gesundheitszustand von Rassengruppen, die in verschiedenen Gegenden der Erde, ja selbst nur in verschiedenen Landschatten des gleichen Landes leben — in Landschaften, die zuweilen dicht beieinander liegen.

«Wann ist Gemüse kein Gemüse?» Diese Frage muß man heute ernsthaft stellen, denn Farbe, Form und Größe sind nicht unbedingt die einzigen Kennzeichen, an denen man sehen kann, ob ein Gemüse oder andere Bodenprodukte die für die Gesundheit notwendigen Stoffe enthalten. Es ist offenbar wahrscheinlich, daß den Pflanzen kraft- oder gesundheitsspendende Bestandteile fehlen, wenn sie auf Böden wachsen, die ausgelaugt, erschöpft oder anderweitig verarmt sind.

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In den letzten Jahren ist viel über die Wirkung von Diätfehlern auf die menschliche Gesundheit gearbeitet worden. Eine Untersuchung unter vielen befaßte sich, bei der Frage nach den Ursachen der Zahnkaries, mit dem Vergleich der verschiedenen Menschenrassen. Diese Untersuchung ging von der Arbeitshypothese aus, die Zahnerkrankungen seien nicht auf die Gegenwart, sondern auf den Mangel bestimmter Stoffe zurückzuführen. Das große, gesammelte Tatsachen­material scheint diese Hypothese zu stützen. Wie die Dinge aber heute stehen, haben die Untersuchungen noch nicht dahin geführt, daß über diese interessante und äußerst wichtige Angelegenheit Einstimmigkeit besteht.

Eine ganz allgemeine Beobachtung über den Zusammenhang von menschlicher Ernährung und Gesundheit ist die, daß Personen häufig Zeichen unzureichender Ernährung aufweisen, an Orten und zu Zeiten, wo Nahrungsmittel reichlich zur Verfügung stehen; und daß im Gegensatz dazu primitive Völker im Ganzen äußerst selten Zeichen konstitutioneller Erkrankungen aufweisen, solange sie nicht mit der Zivilisation in Kontakt gekommen sind. Die einzige beachtenswerte Ausnahme von dieser Verallgemeinerung bilden primitive Stände, die in einigen Gegenden rings um den Äquator wohnen, wo hohe Temperaturen und heftige Wolken­brüche ihre kräftige physikalische und chemische Wirksamkeit entfalten können; der Regen reißt Kalzium und andere für die Gesundheit wesentliche Mineralstoffe zu Tiefen herab, in denen die Wurzeln der Pflanzen sie nicht mehr erreichen können.

Man muß die Tatsache im Auge behalten, daß die Behandlung und der Transport der Nahrungsmittel, die von der städtischen Bevölkerung verbraucht werden, ihren Nährwert zweifellos beeinträchtigt. Eine weitere Beobachtung ist, daß viele Städtchen und Städte in Gegenden angelegt wurden, die einst von Wald bedeckt waren. Daher sind viele Handelsgärtnereien der Umgebung, die einen Großteil des Gemüses für die Städte liefern, auf «Podsol-Böden» angelegt, die sauer und durch Armut an wichtigen Mineral Verbindungen wie solche des Eisens und Aluminiums gekennzeichnet sind.

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Eines der dramatischsten Beispiele für den Zusammenhang zwischen Gesundheit des Bodens und der auf ihm lebenden Tiere bildet der Niedergang und Wiederaufstieg des Rufes eines der größten Vollblutgestüte Amerikas im Laufe der letzten fünfzehn Jahre. Dies Unternehmen war während Jahrzehnten eins der andauernd erfolgreichsten in der Geschichte des amerikanischen Turfs gewesen. Aus den Zuchtlinien und Vollblutstuten seiner Ställe waren lange Zeit Rennpferde von ungewöhnlicher Kraft und Schnelligkeit hervorgegangen.

Fast jedes Pferd, das unter seinen Farben startete, war auf einer großen Farm aufgezogen, die in Kentucky im Herzen des «Blauen Graslandes» gelegen war. Beginnend mit dem Jahre 1933 begann das Glück dieses Unter­nehmens bei Rennen wie auch in den Zuchtresultaten zu schwinden. Obgleich einige sechzig Vollblutstuten im Training gehalten wurden, wurden jedes Jahr weniger und weniger Rennen gewonnen. Noch alarmierender war die weitere Tatsache, daß die Zuchtresultate zurückgingen; jede Saison wurden weniger Stuten trächtig, und Totgeburten oder mißgestaltete Fohlen wurden häufig. Die Situation wurde so schlecht, daß im ganzen Jahr 1941 kaum ein Rennen gewonnen wurde, und auch die Zucht­resultate waren ähnlich enttäuschend, obwohl einige sechzig Zuchtstuten gehalten wurden. Von verschiedenen Rennfach­leuten wurde dem Eigentümer gesagt, seine Zuchtlinien und Mutterstuten seien offensichtlich «degeneriert», und es bliebe ihm nichts anders übrig, als seine Tiere zum bestmöglichen Preis loszuschlagen und neu zu beginnen.

Er brachte es nicht über sich, diese Meinung zu teilen. Zufälligerweise hatte sein Verwalter an einem land­wirt­schaftlichen College studiert und kannte einiges über Land- und Bodenbedingungen. Eines Tages kam er zum Eigentümer und sagte ihm, er habe den Eindruck, ihre Schwierigkeiten hingen vielleicht mit dem Zustand ihrer Ländereien zusammen. Er vermutete, die konstante Benutzung des Gebiets zur Pferdezucht mit den dauernden Kurzweiden und vielleicht auch das Festtreten des Bodens durch die Pferdehufe hätte sich als schädlich erwiesen. Auf Grund dieser Unterredung wurde sogleich geplant, das Land von Boden­chemikern und anderen landwirtschaftlichen Fachleuten untersuchen zu lassen.

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Man fand, der Boden habe tatsächlich langsam und schleichend seine natürliche Fruchtbarkeit verloren. Die Analysen ergaben, daß der Boden einige der chemischen und mineralischen Bestandteile nicht aufwies, derentwegen das Land dieses Gebiets so berühmt war. Es wurde beobachtet, daß auf dem ganzen Besitz kaum noch ein einziger Regenwurm zu finden war. Jetzt wurde ein großes Programm für die Wieder­herstellung des Bodens aufgestellt. Rinder wurden eingeführt, es wurde reichlich gedüngt. Grünpflanzen wurden gezogen und untergepflügt, und als es soweit war, wurden sogar Regenwürmer eingesetzt. Innerhalb zweier Jahre hatten sich die Dinge im Renn- und Zuchtstall deutlich zum Bessern gewendet. Dann ging der Wiederaufstieg ständig und rasch weiter, und im Jahre 1946 war der Stall wieder der drittgrößte Renngewinner des ganzen Landes, und auch die Zuchtresultate waren wieder zum alten ausgezeichneten Stand der Fruchtbarkeit der Stuten und der Gesundheit der Fohlen zurückgekehrt.

Eine Autorität, der Vorsteher des Bodeninstituts an der Universität von Missouri, ist auf Grund unzähliger Untersuchungen von Farmland im Mittelwesten zum Schluß gekommen, daß, wenn man es versäumt, Mist, Kompost und andere fruchtbar machende Elemente dem Boden zurückzugeben, die Bodenergiebigkeit einzelner Farmen so erschöpft werden kann, daß die Farm innerhalb einer Menschengeneration aus einer reichen und gesunden zu einer solchen wird, auf der die Tiere und Familien an Mangel­krankheiten leiden. Er beobachtete weiter, daß nach jahrzehntelangem Anbau die gleiche Frucht zwar noch wuchs, aber aus einem Eiweiß- und Mineralstoffe spendenden Nahrungsmittel zu einer Vegetation von reinem Brennwert geworden war, der die zur Erhaltung der Gesundheit nötigen Nährstoffe ausgesprochen fehlten. Diese Veränderung kann eintreten, ohne daß sich die Menge des Getreides, oder anders gesagt, die tonnagemäßige Ergiebigkeit der Farm vermindert. Diese Verschlechterung zu Nahrungs­mitteln, die nur noch reinen Kalorienwert besitzen, wird noch verschlimmert durch die heutigen Verarbeitungs­methoden, die die Stärke und Zucker­bestand­teile erhalten, aber zum Verlust der natürlichen Mineralstoffe und Vitamine tendieren.

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Eine weitere, zum Aufsehen mahnende Beobachtung aus der gleichen Quelle weist darauf hin, daß die Verschlechterung des Bodens «die Haustiere an den Rand des Abgrunds führt», indem verminderte Fortpflanzung, zunehmende Erkrankungen, häufiger auftretende körperliche Deformationen und andere Unregel­mäßigkeiten dazu zwingen, das Vieh vorzeitig zu verkaufen.

Es war ein glorreicher Tag, an dem, mit dem Ausbau der bakteriologischen Wissenschaft, die Ursachen der ansteckenden Krankheiten bekannt wurden. Die wunderbaren Fortschritte, welche die Medizin durch die Entwicklung von Methoden zur Behandlung der Infektionskrankheiten machte, hat weitgehend den Schrecken der Seuchen und Pestzüge vertrieben, die einst so schweren Zoll vom Geschlecht der Menschen erhoben. 

Am Ende des vergangenen Jahrhunderts sah es aus, als solle die Menschheit in eine neue Ära der Gesundheit und des Glücks eintreten.
Es ist anders gekommen. 

Während die mittlere Lebens­dauer in vielen Ländern zunahm, zeigen sich selbst in diesen gleichen Ländern Anzeichen für eine langsame, unhörbare, umfassende Verschlechterung der menschlichen Gesundheit. Uns fehlen die Kenntnisse, wann dieser Verschlechterungsprozeß beginnt, gesetzt, man nimmt an, daß er überhaupt stattfindet. Medizinische Aufzeichnungen, die ein Jahrhundert oder weiter zurückliegen, können wenig Licht auf die Frage werfen, so daß kein genauer Vergleich mit dem Gesundheitszustand in vergangenen Zeiten gezogen werden kann. 

Daß aber irgendeine Veränderung stattfindet, zeigt sich im Auftreten einer ganzen Reihe «neuer» Krankheitsbilder. Man spricht von der Gruppe der degenerativen Erkrankungen, und sie befallen Organe wie tragende Teile des menschlichen Körpers, zum Beispiel Herz, Leber, Zähne und Knochen. Über ihre Ursachen weiß man wenig, und infolgedessen sind die Ärzte sowohl bei ihrer Verhütung wie bei ihrer Behandlung ziemlich hilflos.

Man vergegenwärtige sich, daß in einem Land wie den Vereinigten Staaten, das augenscheinlich Überfluß an Bodenreichtümern und reichste Fruchtbarkeit aufweist, in der kürzlich veröffentlichten Zwei-Jahres-Studie der Senats-Unterkommission für «Wartime Health and Education» aufgedeckt wurde, daß von mehr als 14.000.00 erfaßten Personen nur 2.000.000 dem Standard voll entsprachen. Eine ergänzende Untersuchung zeigt, daß sich annähernd 12% als geistig für den Militärdienst untauglich erwiesen.

Es wäre eine leichtfertige Verallgemeinerung, zu behaupten, alles, was im amerikanischen Volk und anderwärts an physischer Degeneration aufträte, sei zurück­zuführen auf Nährschädigungen, die durch die abnehmende Fruchtbarkeit des Bodens veranlaßt seien. 

Die Zivilisation hat manche Lebens­bedingungen mit sich gebracht, die alles andere als gesund sind. Und doch kann man den Verdacht nicht loswerden, die alarmierende Zunahme der degenerativen Erkrankungen — mit Einschluß der psychischen und neurologischen —, stehe in einer Art, die noch genauer festzulegen wäre, in Verbindung mit der ständigen Verschlechterung und Zerstörung des Humus, der kostbaren, empfindlichen Hülle der Erde, aus der alles Leben sproßt.

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Fairfield Osborn 1948