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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Von Charles Perrow

 

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Bald nach dem Erscheinen dieses Buches in den Vereinigten Staaten ereigneten sich die Katastrophen, die sich mit den Namen Bhopal, Tschernobyl und Challenger verbinden und uns einiges zu sagen haben. Ich möchte an dieser Stelle nur auf zwei Punkte näher eingehen. Zum einen habe ich so etwas wie einen Leitfaden zusammengestellt, der dem Leser bei der nächsten Katastrophe hilfreich sein mag; zum anderen führe ich eine Reihe von Bedingungen auf, die alle zusammen eintreten müssen, damit es zu einer Katastrophe kommt, und aus denen ich eine seltsam anmutende Erkenntnis gewonnen habe: Es muß schon sehr viel passieren, bis eine Katastrophe ausgelöst wird.

Beides betrifft den politischen Aspekt dieses Buches, der dort nur in Umrissen sichtbar wird, weil es mir in erster Linie darum ging, Belege für eine Behauptung beizubringen, die mir von ganz besonderer Wichtigkeit zu sein scheint: Ungeachtet all unserer Bemühungen sind einige der von uns entwickelten Systeme mit unvermeidlichen Risiken behaftet, so daß es bei ihnen zwangsläufig zu größeren Unfällen kommt, und sofern diese Risiken katastrophaler Natur sind, werden solche Katastrophen tatsächlich eintreten.

Obwohl sich gezeigt hat, daß zahlreiche schwere Unfälle durch geeignete Vorsichtsmaßnahmen vermeidbar gewesen wären, habe ich in diesem Buch fast durchgehend betont, daß diese Unfälle trotz angestrengtester Bemühungen immer wieder auftreten werden. Die Katastrophen von Bhopal und Tschernobyl, das Challenger-Unglück und einige andere von Menschen verursachte Katastrophen der jüngsten Zeit sind allerdings Beispiele dafür, daß auf besondere Sicherheit der Systeme wenig Wert gelegt wurde; bei der Anlage in Bhopal und beim Challenger-Programm hatte es sogar wiederholte Warnungen vor einem möglichen Unglück gegeben.

Der politische Aspekt ist trivial und dennoch wesentlich. Regierungen und große Privatunternchmen räumen Zielen wie denen der Energieerzeugung, der chemischen Produktion oder der militärischen Herrschaft im Weltraum einen besonderen Vorrang ein. Die Eliten »wissen« aufgrund praktischer Erfahrung, daß sie zur Verwirklichung dieser Ziele Systeme mit einem immanenten Katastrophenpotential errichten, aber da es relativ selten auch wirklich zu Katastrophen kommt, gehen sie das Risiko ein.

Wenn dieser Fall dann tatsächlich eintritt, kann man ziemlich sicher sein, daß die Verantwortlichen versuchen werden, den Unfall zu vertuschen oder seine Schäden zu verharmlosen, und daß sie beteuern, es werde sich nicht wiederholen. Auf diese Weise bleibt das risikoträchtige System weiterhin in Betrieb. Ich vermute, daß erst noch einige schwere Unglücke passieren müssen, bis diese gefährlichen Systeme unter hohen Kosten völlig neu konzipiert oder gänzlich stillgelegt werden.

Halten wir in unserem Leitfaden fiir die nächste Katastrophe zunächst einmal fest, daß alle Risikosysteme von ihren Auftraggebern für sicher gehalten werden (andernfalls würden sie nicht gebaut). Häufig stellt sich sogar heraus, daß diese Systeme noch wenige Monate vor einer Katastrophe einer Routineüberprüfung unterzogen worden waren. Regierungsamtliche Vertreter beschwören z. B. regelmäßig die Sicherheit von Kernkraftwerken. So gab noch einen Monat vor dem Reaktorunglück von Tschernobyl der britische Energieminister ein entsprechendes Statement für die gesamte Atomindustrie ab, und ein Jahr davor erklärte ein sowjetischer Vertreter den Reaktor von Tschernobyl für sicher, ein Unfall sei fast undenkbar.

Eine Überprüfung der Chemieanlage in Bhopal durch das amerikanische Mutterunternehmen Union Carbide ein Jahr vor der Katastrophe warf zwar einige Fragen auf, aber insgesamt wurde die Anlage als betriebssicher deklariert. Nach dem Unfall hieß es, ein vergleichbares Unglück könne sich in einer ähnlichen Produktionsanlage der Union Carbide in Institute, West Virginia, unmöglich ereignen, und trotzdem kam es bald danach zu einem solchen Unfall, bei dem allerdings niemand schwer verletzt oder getötet wurde.

Auch die NASA gab regelmäßig Erklärungen über die Sicherheit von Raumflügen ab, und die Lehrerin, die den Flug an Bord der Challenger mitmachen sollte, glaubte ihnen. Noch Wochen nach dem Unglück kamen immer neue erdrückende Beweise für den unverantwortlichen Leichtsinn ans Licht, mit dem Risiken in Kauf genommen wurden, während die Vertreter der NASA nicht müde wurden zu verkünden, Sicherheit sei immer ihr oberstes Ziel gewesen. Deshalb steht in unserem Leitfaden, daß solchen Erklärungen mit tiefer Skepsis zu begegnen ist.

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Jedes Privatunternehmen und jede Regierungsbehörde wird von sich aus die Wahrscheinlichkeit, daß sich innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre eine Katastrophe ereignet, lediglich als vernachlässigbar klein ausgeben - auch dann, wenn sie es besser wissen.

Als nächstes informiert uns der Leitfaden, daß die Nachrichten über ein eingetretenes Unglück in der Regel aus Quellen außerhalb des Systems stammen, sofern es nicht zufallig vom Fernsehen direkt übertragen wird wie im Fall des Challenger-Unglücks.

Die Schweden waren die ersten, die die Welt von der Katastrophe in Tschernobyl unterrichteten, während die Sowjets selbst das Ereignis noch dementierten. In Bhopal waren Polizisten und Reporter Zeugen, wie Menschen in den Straßen tot umfielen, und dennoch beschieden die Verantwortlichen von Union Carbide alle Telefonanrufer, es seien keine giftigen Gase ausgetreten, obwohl sie es besser wußten.

Als 1957 im Kernkraftwerk Windscale in England die Brennstäbe Feuer fingen, wurde die Umwelt vier Tage lang radioaktiv verseucht, bevor die Werksleitung endlich zugab, daß ein Feuer ausgebrochen war. Sie wollte erst dann die Öffentlichkeit informieren, wenn sie eine Möglichkeit gefunden hatte, das Feuer zu löschen. Das Großfeuer bei Sandoz in Basel wurde von der Polizei entdeckt; vier Tage vorher waren die Lagereinrichtungen bei einer Inspektion noch als sicher erklärt worden.

Die Sprecher von Großunternehmen haben ein Interesse daran, Informationen über solche Unfälle zurückzuhalten, zu verzögern und möglichst lange zu dementieren, weil immer eine gewisse Möglichkeit besteht, daß sich der Schaden schließlich als begrenzt erweisen wird. Besonders die Beinahe-Unfalle lassen sich verheimlichen, so daß keine Warnungen nach außen dringen, daß durch die Aktivitäten des Unternehmens Menschenleben gefährdet sein können. In Frankreich ereigneten sich zwei schwere Reaktorunfälle, die offiziell nie bekannt gegeben wurden, bis dann Monate später Nachrichten darüber durchsickerten. Und wir werden vermutlich nie erfahren, ob nicht irgendwo eine Katastrophe wie die in Harrisburg gerade noch vermieden wurde.

Nach dem Unglück von Tschernobyl wurde ebenfalls in Frankreich von offizieller Seite tagelang die Zunahme an Radioaktivität bestritten, bis die Verantwortlichen zugeben mußten, daß sie die Unwahrheit gesagt hatten und daß die Strahlung über Paris um das 400fache des Normalwerts erhöht war.

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Das alles ist aber immer noch nichts im Vergleich zur völligen Geheimhaltung der atomaren Katastrophe, die sich 1957 in Kyschtym (Ural) in der Sowjetunion ereignet hat.

Ein Unglück von solchen Ausmaßen hätte im Westen unmöglich verheimlicht werden können, aber bei kleineren Unfällen versuchen westliche Länder und Unternehmen dies durchaus mit Erfolg. Etwa ein Jahr nach der Katastrophe von Bhopal gab es in einer Anlage der Union Carbide in Charleston, West Virginia, einen Unfall, bei dem giftiges Gas freigesetzt und über ein Einkaufszentrum geweht wurde, so daß die Menschen, die sich gerade dort aufhielten, reihenweise zusammenbrachen. Die Union Carbide löste weder einen Alarm aus, noch wurde die Freisetzung des Giftgases gegenüber Ärzten zugegeben, die wissen wollten, gegen welche Vergiftung die Opfer behandelt werden mußten. Es dauerte zwei Tage, bis das Unternehmen überhaupt zugab, daß Gas ausgetreten war. Dazu heißt es in unserem Leitfaden, daß die von solchen Unfällen am meisten Betroffenen häufig die letzten sind, die darüber informiert werden.

Wenn einmal Nachrichten nach außen gedrungen sind, werden der Unfall und seine möglichen Folgen so weit wie möglich bagatellisiert. So verfuhren z. B. die Sowjets nach Tschernobyl, obwohl sie dabei von den zur Zeit nach dem Unglück herrschenden ungewöhnlichen (und für die betroffenen Bürger günstigen) Wetterverhältnissen zu gewissen Fehlschlüssen verleitet wurden. Da die radioaktive Rauchwolke zunächst etwa 1000 m hoch stieg, bevor sie sich ausbreitete, ergaben Messungen in der Nähe der »havarierten« Kraftwerkblocks einen zu niedrigen Strahlungswert, während die Schweden bei ihren Messungen von einer Ausbreitung der Wolke in niedrigerer Höhe ausgingen und deshalb die Schwere der Katastrophe zunächst überschätzten.

Das Ausmaß des Unglücks in Bhopal wurde mehrere Stunden lang von den Sprechern des Unternehmens bestritten, und bis heute sind viele davon überzeugt, daß die Zahl der Todesopfer sowohl von der indischen Regierung als auch von Union Carbide viel zu gering angegeben wurde. Selbst nach der Explosion der Challenger hieß es zunächst, die Astronauten seien eines gnädigen, sofortigen Todes gestorben, obwohl Informationen vorlagen, nach denen die Unglücklichen wahrscheinlich noch einige Sekunden oder gar Minuten lang gelebt haben (letzteres wurde sehr viel später bestätigt).

Im Fall des Challenger-Unglücks bestand zwar keine unmittelbare Katastrophengefahr, aber es kann nicht genug betont werden, welch ein großer Glücksfall es für die amerikanische Bevölkerung war, daß sich die Explosion während dieses und nicht während des nächsten geplanten Raumflugs ereignet hat.

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Ein Reporter ging bei seinen Recherchen Hinweisen nach, daß bei manchen Raumflügen für wissenschaftliche Zwecke tödliches Plutonium mitgeführt würde. Aufgrund des in der Welt einmaligen und unschätzbar wertvollen Gesetzes über den freien Zugang zu allen Informationsquellen in den USA brachte er in Erfahrung, daß die nächste Raumsonde auf ihrem Flug zum Jupiter fast 21 kg Plutonium in einer Bleikassette im Nutzlastraum befördern sollte, um ein sogenanntes »Galileo-Experiment« wahrend des Raumflugs mit Energie zu versorgen. Früher oder später wäre es auf jeden Fall wahrend einem der Flüge zu der Explosion gekommen. Angenommen, sie hatte sich während des Jupiterflugs ereignet, dann wäre möglicherweise die Bleikassette zerstört worden und das Plutonium aufgrund der in 15000 m vorherrschenden Winde über Florida niedergegangen, was mehr Todesopfer gefordert hätte als die Katastrophen von Bhopal und Tschernobyl zusammen.

Das Galileo-Experiment war einer »Risikoanalyse»« unterzogen worden, die zu dem Ergebnis gelangte, die Möglichkeit einer Explosion der Raumfähre sei so gering, daß keine Gefahr bestehe. An dieser Schlußfolgerung wird noch immer festgehalten. Während jedoch das Projekt, wie auch die meisten anderen wissenschaftlichen Experimente im Weltraum, auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, hat man den Einsatz von Isotopenbattcrien in Raumfahrzeugen nicht untersagt. Nach wie vor können sie in die Atmosphäre hinaufkatapultiert werden. Das Bemerkenswerte an der Angelegenheit ist, daß das Experiment keine militärische Bedeutung hat. Es ist die amerikanische Wissenschaft, die das Leben von Hunderttausenden von Bürgern aufs Spiel setzt, um in die Geheimnisse des Universums einzudringen!

Zumindest eine Zeitlang wurde der Einsatz von Plutonium zur Energie­versorgung von Satelliten aufgegeben, nachdem sich vier Unfälle ereignet hatten, über die in diesem Buch berichtet wird, aber für Raumsonden wurde es weiterhin verwendet. Im Rahmen des Projekts »Strategische Verteidigungsinitiative« (SDI) sollen Laserwaffen im Weltraum durch große Atomreaktoren mit Strom versorgt werden, was bedeutet, daß auch das US-Militär bereit ist, das Leben zahlreicher amerikanischer Bürger zu gefährden.

Als nächstes steht in unserem Leitfaden, daß jeder größere Unfall wenn irgend möglich zunächst mit »menschlichem Versagen« oder mit »Bedienungs­fehlern« erklärt wird und daß diese Erklärung in aller Regel nicht zutreffend ist. Die vorherrschende Neigung, für Unfälle das Bedienungspersonal verantwortlich zu machen, ist eines der Hauptthemen in....

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Charles Perrow - 1984 - Normale Katastrophen