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Es hat nichts gebracht 

Pestalozzi-1989

 

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Stunden-, tage- und nächtelang lagst du in Mutlangen, um gegen die Raketenstationierung zu demonstrieren. Was hat's gebracht? Die Raketen sind gekommen, auch wenn man sie - die Raketen, nicht die Atomsprengköpfe - wieder zu verschrotten vorgibt.

In Bitburg, wo du als Protest gegen den Wahnsinn der Nachrüstung die Strasse blockieren wolltest, haben dich die Wasserwerfer von der Strasse gefegt, wenn du nicht schon vorher das Opfer der kläffenden, geifernden, zu Mordmaschinen <dressierten> Schäferhunde geworden warst. Was hat's gebracht? Es wurde und wird gerüstet wie noch nie.

In Frankfurt hast du Hütten gebaut, ein ganzes Dorf samt Kirche welch friedliches Symbol! Du hast dich von den Bulldozern und Panzerfahrzeugen, die alles niedergewalzt haben, nicht unterkriegen lassen. Du hast weitergemacht, hast dich niederknüppeln und einsperren lassen, um ein Zeichen zu setzen gegen eine Politik, die brutal alles zerstört, was wirkliches Leben ausmacht. Was hat's gebracht? Der Wald ist weg. Lärm, Gestank, Abgase sind da.

In Berlin hast du dich von Lummer-Boys aus den besetzten Häusern herausprügeln lassen. Hat nicht sogar einer von uns sein Leben lassen müssen im Protest gegen den Abbruch guter alter Häuser? Was hat's gebracht? Die Lage ist bereinigt, wie es im Politiker-Jargon heißt. Die Spekulation blüht wie kaum zuvor.

In Wackersdorf hast du den in der BRD erstmaligen Einsatz des im Krieg verbotenen CS-Gases miterlebt. Was hat's gebracht? Der Bau der WAA wurde beschleunigt.

Es muss nicht einer dieser Grosseinsätze gewesen sein. Ebenso wichtig waren all die Hunderte, ja Tausende von Protesten, Widerstandsaktionen, Demonstrationen in den Städten, in den Dörfern. In welcher Stadt, in welchem Dorf hätte man sich nicht gewehrt gegen eine Rennbahn mitten durchs Dorf, gegen den Abbruch alter Bauten, gegen die Zerstörung ganzer Lebens­strukturen, gegen die Verbannung von Randgruppen in ihre Ghettos, gegen die mörderische Ausweisung von Flüchtlingen usw. usw. Es hat nichts gebracht.

Es ist alles schlimmer geworden. War unser ganzer Einsatz umsonst? 

Alle, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten in irgendeiner Weise für mehr Menschlichkeit und Gerechtigkeit, für mehr Rücksichtnahme auf die Umwelt, die Dritte Welt, die kommenden Generationen, die Schwachen in unserer Gesellschaft eingesetzt haben, müssen sich offen und ehrlich eingestehen: es ist alles schlimmer geworden. 

Es gibt nicht den geringsten Ansatz, nicht die geringsten Anhaltspunkte, die uns sagen liessen: Hier besteht Hoffnung.

Was ist denn los?
Haben wir uns verrannt; haben die <anderen> recht?
Haben wir die falschen Fragen gestellt?
Haben wir Probleme gesehen, wo keine waren?
Haben wir selber die Probleme falsch angepackt?
Wurden wir das Opfer unserer eigenen Illusionen?

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Es gab eine erste Phase — beim einzelnen und in der Gesellschaft. In der Gesellschaft war der Auslöser die Studentenrebellion von 1968. Es war die Phase, als wir merkten: etwas stimmt nicht mehr. Es läuft schief. Es war die Phase der Betroffenheit. Es braucht diese Betroffenheit. Ohne Betroffenheit gibt es kein Engagement.

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Vielleicht machst du zwar einmal irgendwo mit, aber ohne Betroffenheit bleibt es bei einer belanglosen Mitwirkung. Betroffenheit fragt nach den Ursachen. Nur Betroffenheit führt zu einem anderen Bewusstsein. Und nur das andere Bewusstsein führt zu einem anderen Verhalten. Darum bringen auch all die Rezeptbücher, alle Öko-Knigges nichts, darum verändern auch all die Öko-Institute und Alternativ-Zentren nichts, darum sind auch alle die <Zukunfts­werkstätten> zur Erfolgslosigkeit verurteilt.

Ich kann nicht beim Verhalten oder auch nur bei der Vorstellung, wie es anders sein könnte, ansetzen, und dann glauben, die Einstellung zum Mitmenschen und zur Umwelt verändere sich. Nein, die Einstellung, das Bewusstsein, muss sich ändern, und dazu braucht es persönliche Betroffenheit und daraus ergibt sich das veränderte Verhalten.

Am Beispiel der <Zukunftswerkstatt>: Nicht die möglichen neuen Lösungen sind das Wichtigste, auch nicht die Formulierung dessen, was nicht stimmt. Das Entscheidende sind die Ursachen eines bestimmten Zustandes. Sonst setze ich bei Symptomen an. Deshalb funktionieren <Zukunftswerkstätten> nur bei Leuten, die irgendwie bereits <betroffen> sind, nicht aber bei konservativen Politikern oder Technokraten oder Professoren.

Am stärksten wirst du betroffen durch persönliche Erlebnisse, durch unerwartete Ereignisse, die dir plötzlich die Augen öffnen: so nicht weiter!

Fast alle Bauern, die von chemischer auf natürliche Landwirtschaft umgestellt haben, taten dies nicht etwa aus religiöser Überzeugung oder aus vernunftmässiger Einsicht, sondern weil sie in der Familie oder auf dem Hof durch persönliche Erlebnisse betroffen wurden. Das Erlebnis kann ganz anderer Natur sein: «Tränengas ist der dritte Bildungsweg», wie es ein <Autonomer> sagte.

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«Auf den Gundwiesen ... das war das schlimmste, was ich je erlebte. Ich stand daneben und habe gesehen, wie die Polizei das ältere Ehepaar zusammenschlug.
Zivis trieben die Leute mit Holzknüppeln bis an den Bach. Der Hubschrauber im Tiefflug dicht über unseren Köpfen. Am selben Tag sah ich, wie Polizisten einen jungen Mann - der keinen Helm trug - vom Motorrad herunterrissen. Sie schlugen ihn auf den Kopf, ins Genick, dann in die Nieren. Einer trat ihn in die Kniekehlen, so dass er zusammensackte ... und dann ging einer hin und trat ihn mit dem Stiefel mitten ins Gesicht.
Als mein Sohn das gesehen hatte, musste er sich übergeben. Dabei kam mir in den Sinn, was mein Mann mir erzählt hatte — vom Krieg: Als er den ersten Toten sah, hat er sich — er war ja damals kaum älter als mein Sohn — erbrechen müssen. In dem Moment ... ist in mir etwas zerrissen und wird nie wieder heilen.»

Es ist das Erlebnis einer Hausfrau und Mutter, die sich gegen die Zerstörung ihrer Heimat durch die Startbahn-West in Frankfurt zur Wehr zu setzen versuchte.

Eine andere Frau schilderte mir ihren Aufschrei, als sie sah, wie die angeblich demokratische Staatsmacht plötzlich Panzer gegen sie einsetzte, ihre Lähmung, als Panzerwagen auf sie losfuhren: «Das kann, das darf doch nicht wahr sein!» Es ist die übliche Reaktion naiver, unverdorbener Menschen auf die erste konkrete Begegnung mit der Macht: ungläubiges Staunen — Lähmung — Angst. Und was dann? Führt Angst zu Resignation, oder wird aus Angst Wut und Betroffenheit?

Oder die brave Zürcher Hausfrau, Mutter zweier halbwüchsiger Töchter, überzeugt von unserer Staats­form, von unserem Rechtsstaat, vom guten Willen unserer Behörden und ihrer Gehilfen.

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Sie nimmt am Heiligen Abend 1980 an einer Manifestation vieler tausend Jugendlicher und Erwachsener für Gewaltfreiheit, Verständnis, Liebe teil. Eine kleine Provokation einiger weniger beim Jugendzentrum genügt, und schon schiesst die Polizei mit ihren Gummigeschossen die Bürgerinnen und Bürger zusammen. Die Hausfrau kann fliehen; sie kommt ungeschoren davon. Wie alles ruhig ist, geht sie als Einzelperson die Limmatstrasse hinauf, Ziel Hauptbahnhof, um heimkehren zu können. Die Polizisten eröffnen ihr brutales Gummigeschossfeuer auf diese einzelne fünfzigjährige Frau. Mit unzähligen Platzwunden wird sie von der Sanitätsgruppe der Jugendbewegung gefunden und betreut. Die Wunden werden genäht, die Kopf- und Rückenschmerzen halten wochenlang an. Der naive Glaube dieser Frau an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschlichkeit ist für den Rest ihres Lebens vorbei.

Sie hat erkannt,

Sie bleibt betroffen.

Es müssen nicht unbedingt persönliche Erlebnisse sein, die betroffen machen. Es genügt, dass ich einfach merke, was in unserer Gesellschaft wirklich los ist. In meiner Managerzeit war in Europa ein jüdisch-amerikanischer Unternehmensberater absolute Spitze. Zwei Jahrzehnte lang hatte er den <American way of life> bejubelt und die US-Demokratie als die beste aller Staatsformen glorifiziert. Es war sein Herzensanliegen, diese Errungen­schaften US-westlicher Zivilisation auf die ganze Welt zu übertragen. Grosse Teile der Geschäfts­welt hörten auf ihn.

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Anfang der siebziger Jahre war er bei mir, völlig deprimiert, zerstört: «Es ist schon schwierig, dem deutschen Volk zu glauben, dass es - als Volk - nichts von all den Verbrechen Hitlers und seiner Schergen gewusst habe, vor allem nichts von der Juden Vernichtung. Seit einigen Jahren haben wir in den USA einen Präsidenten, der in Vietnam genauso handelt wie Hitler gegenüber den Juden. Und dieser Präsident wird in sogenannt freien Wahlen von einem sogenannt freien Volk wiedergewählt, damit er seine Verbrechen weiter begehen kann. Weshalb wählt ein Volk einen Verbrecher zum Präsidenten?»

Mit seinem Glauben an die Segnungen des <American way of life> war Schluss. Er wurde betroffen, er wurde einer der schärfsten Kritiker. Er hatte gemerkt, <was los ist>.

Genauso erging es all den Menschen, die gemerkt haben, wie wir unsere Lebensräume und Lebens­grund­lagen zerstören, wie wir uns immer weiter weg entfernen von dem, was wir aufgrund unserer eigenen gesellschaftlichen Bekenntnisse wie Demokratie, Freiheit, christliches Verhalten, Humanität eigentlich möchten und wie alle Indikatoren, die über den Zustand unserer Gesellschaft Ausdruck geben, sich negativ entwickeln.

Allein die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen darf, kann unheimlich betroffen machen.

Bei mir persönlich war es vor allem Information, die mich im Laufe von zehn Jahren völlig hat umdenken lassen, aber eben nicht Information über irgendwelche Symptome und Auswirkungen unserer Art zu denken und zu handeln, sondern Information über die Ursachen.

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Als ich den Auftrag erhielt, im Gedenken an Gottlieb Duttweiler, den Gründer der Migros, dessen engster Mitarbeiter ich in seinen letzten sieben Lebensjahren gewesen war, ein internationales Wirtschafts- und Management-Zentrum aufzubauen, war es von vornherein klar, dass es niemals darum gehen konnte, in diesem Institut blosses Management-Wissen und die üblichen Management-Techniken zu vermitteln. 

Für Gottlieb Duttweiler war die Wirtschaft nie Selbstzweck, sondern nur Mittel, um echte Probleme lösen zu können. Die Frage lautete für ihn: Was will ich eigentlich? Was soll das Ganze? So hielten wir es für unsere Aufgabe im Institut, den Managern die Frage nach dem Sinn zu stellen. Was willst du persönlich? Was willst du mit deinem Unternehmen? Was will die Wirtschaft?

Diese Fragestellung aber verlangte, die Manager ständig mit den anstehenden oder auf uns zukommenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen zu konfrontieren. Nach kurzer Zeit wurden wir zu einer internationalen Nahtstelle zwischen der Wirtschaft und der kritischen Wissenschaft. Hunderte von Referenten aus allen denkbaren Wissensgebieten überhäuften uns mit Informationen aus der ganzen Welt. Je mehr Information uns zukam, desto kritischer wurden unsere Tagungen und Seminare. Wir waren jedoch nach wie vor weltweit hoch angesehen. Als <die Hofnarren der Wirtschaft> übten wir eine äusserst wichtige Funktion aus.

In erstarrten, geschlossenen Strukturen ist der Hofnarr noch der einzige, der die Wahrheit sagen darf. Nur: der Hofnarr durfte die Wahrheit immer nur dem König sagen. Sagte er sie auch dem Volk, wurde er umgebracht. Genauso erging es uns. Als wir nach zehn Jahren zur Kenntnis nehmen mussten, dass sich in der Wirtschaft nichts, aber auch gar nichts tat, als wir uns eingestehen mussten, dass über die Manager nicht das Geringste zu verändern ist, gingen wir mit unseren Informationen zum <Volk>.

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Wir gründeten in Zürich ein Zentrum für die Unterstützung von Selbsthilfegruppen. Mit Wanderausstellungen machten wir die Öffentlichkeit mit der Umweltproblematik vertraut, propagierten Sonnenenergie, zeigten weltweite Zusammenhänge auf. Wir gaben eine kritische Zeitschrift heraus. Ich persönlich wandte mich mit Vorträgen vor allem an die Lehrer. Und schon wurden wir <gehängt>. Mit mir wurden 20 Mitarbeiter entlassen.

 

Information ist gefährlich. Sie könnte dich zum Denken bringen. In unserem Institut hing lange Zeit der Spruch an der Wand: «Nicht denken, sauber bleiben.» Die meisten Manager, die an unseren Tagungen und Seminaren teilnahmen, verstanden den Spruch gar nicht. Wer ihn jedoch kapierte, wurde wütend. Begreiflich! Sobald du in dieser Gesellschaft einmal zu denken begonnen hast, musst du unweigerlich <unsauber> werden. Oder ein anderer Spruch hiess: «Wir leben in einer freien Demokratie. In einer solchen darf man sagen, was man denkt. Man darf bloss nicht denken.»

 

Aber Information bringt dich zum Denken, kann dich betroffen machen. Ich erinnere mich noch genau es war Ende der sechziger Jahre an das Mittagessen mit einem befreundeten Dozenten aus Santa Barbara, Kalifornien. «Habt Ihr Euch auch schon einmal überlegt, dass wirtschaftliches Wachstum noch nie irgendwelche Probleme gelöst hat? Dass wirtschaftliches Wachstum die Probleme immer nur verdrängt hat? Dass die meisten Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, das Ergebnis des wirtschaftlichen Wachstums sind?» fragte er uns.

Wir waren konsterniert, fassungslos. Es folgten wochenlange Diskussionen. Dann war das Kartenhaus <Wachstum> eingestürzt.

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Oder die internationale Tagung über Grundfragen der Energieversorgung: Am Schluss der Tagung einigten sich die anwesenden Wissenschaftler auf einen gemeinsamen Appell an die Regierungen der Industrienationen. Dem Appell schlossen sich in kürzester Zeit 600 weitere Wissenschaftler an, darunter mehrere Nobelpreisträger. Der Appell bestand im Grunde genommen aus einer einzigen Frage: «Dürfen wir die Versorgung der Menschheit mit Energie, eine der Grundlagen der menschlichen Existenz überhaupt, wirklich dem einen einzigen Steuerungsfaktor Profit überlassen?»

Auch das Kartenhaus <Optimierung über den Gewinn> stürzte ein. Ich merkte allmählich, dass ich den ganzen Unsinn, den man mir im Studium der Wirtschaftswissenschaften beigebracht hatte, vergessen musste. (Im übrigen: Keine einzige Regierung ging auf den Appell ein. Die japanische Regierung bestätigte wenigstens den Eingang des Schreibens!)

 

Oder ich denke an das Seminar über Probleme der Dritten Welt. Ich musste zum ersten Mal zur Kenntnis nehmen, dass auf der Welt allein an Getreide­produkten derart viel Nahrungsmittel produziert werden, dass jeder Mensch jeden Tag 3000 Kalorien zu sich nehmen könnte. Und trotzdem verhungern täglich 40.000 Kinder. Also gibt es kein Produktionsproblem, wie man uns immer weisgemacht hatte, sondern nur ein Verteilungsproblem. Und Verteilungsprobleme sind immer Machtfragen. Vor allem sind es Fragen des Wirtschaftssystem. Die Mechanismen unseres Systems sorgen dafür, dass die Ware nie dorthin fliesst, wo sie gebraucht wird, sondern dorthin, wo das Geld ist. Das Ungleichgewicht wird unweigerlich immer grösser. 

Die hoffnungslose Lage der sogenannten Entwicklungsländer ist also nicht deren <Schuld> sondern das Ergebnis unserer Art zu wirtschaften. Und wir glaubten doch immer, lediglich unser Wirtschaftssystem auf die ganze Welt übertragen zu müssen, und dann gehe es allen gut.

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Nun musste ich erkennen, dass sich die Situation für die Dritte Welt nie wird bessern können, wenn wir nicht schlicht und einfach unser ganzes Wirtschaftssystem aufgeben. Ich musste erkennen, dass unser Wohlstand zu einem grossen Teil auf dem Elend der Dritten Welt aufgebaut ist. So erhielt auch die faschistische These des «bedeutendsten Theoretikers der liberalen Gesellschaft dieses Jahrhunderts», wie uns von Hayek (selbstverständlich Nobelpreisträger) von der Manager-Presse präsentiert wird, eine völlig andere Bedeutung. Sie lautet: «Gegen die Übervölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich, dass sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.» Dies würde nichts anderes heissen, als dass unsere westlichen Industrienationen zu verschwinden hätten.

An diesem Seminar erfuhr ich auch zum ersten Mal, dass, wenn wir die gesamte Weltbevölkerung auf dem Territorium der USA und Kanadas konzentrieren würden, die Bevölkerungsdichte weniger gross wäre als heute in der BRD. Der Rest der Welt wäre menschenleer. Oder dass Armut und soziale Instabilität in der Dritten Welt nicht das Ergebnis der Bevölkerungsexplosion sind, sondern umgekehrt: Die Bevölkerungsexplosion ist das Ergebnis von Armut und sozialer Instabilität. Oder dass unser Planet weit stärker belastet wird, wenn wir in den Industrienationen meinen, unsere Wirtschaft müsse weiterhin jährlich wachsen, als wenn die Bevölkerung in der Dritten Welt um zwei Prozent zunimmt. Und wir konnten doch bisher so einfach der Bevölkerungsexplosion alle Schuld an den heutigen Problemen zuschieben. 

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Ich denke an die Tagung über Gentechnologie. Die amerikanischen Wissenschaftler forderten (anfangs der siebziger Jahre!) dringend ein Forschungsmoratorium. Die Entwicklung sei viel zu gefährlich geworden. Ich höre noch den Aufschrei der europäischen, vor allem der Schweizer Wissenschaftler, die sich ihre <Freiheit der Wissenschaft nicht beschneiden lassen wollten. Ich höre noch die Empörung der Vertreter der chemischen Industrie, die sich aus kommerziellen Gründen keine Einschränkung gefallenlassen wollten. Und ich glaubte doch bisher an die hehre Verantwortung der Wissenschaft.

Ich denke an das Symposium über gesellschaftliche Probleme der Satelliten-Kommunikation (1965!). Das Schweizer Fernsehen nahm nicht teil. Die Fachleute, die eigentlich hätten wissen müssen, worum es ging, hatten keine Ahnung von der Problematik. Und ich setzte doch bisher auf die Kompetenz der Fachleute.

Der Phase der Betroffenheit folgte die Phase der Analyse. Wie konnten wir uns denn nur so verrennen? Wie war es menschenmöglich, uns von der Nachkriegseuphorie derart vereinnahmen zu lassen? Was war nur mit uns los, dass wir geglaubt hatten:

Haben wir, die wir uns so kritisch gaben, vielleicht in dieser Phase die grössten Fehler gemacht:

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Waren wir denn blind, zu glauben,

 

Liegt es denn nicht in dieser Auffassung von Technik,

 

Die spannendste Phase war die dritte Phase, als es darum ging, sich zu überlegen: Wie denn anders? Es war die Phase der Träume, der Phantasien, der Entwürfe, der Utopien. Sie ist vorbei. Wir wüssten ja schon längst, wie es sein könnte, wie es sein müsste.

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Wir wüssten bis in alle Einzelheiten,

 

Wir wüssten es aber auch im Grossen. Wir brauchen nicht so weit zu gehen wie <Ökotopia> oder das skandinavische Modell von <Aufruhr der Mitte>. Es gibt beispielsweise ein <Öko-Modell Niederösterreich> und ein anderes für die Steyermark. Es sind alles hervorragende Entwürfe. Aber es geschieht nichts!
   Wo denn?
   Wie denn?
Nein, es ist so: Es geschieht nichts. Es ist alles schlimmer geworden.

 

Wir sind schon längst in der vierten Phase.
Wenn wir doch genau wissen, dass es so, wie es heute läuft, nicht weitergehen kann,
wenn wir wissen, wie es anders sein müsste und könnte,
wenn trotzdem nichts geschieht, dann gibt es doch nur die eine einzige Frage: Warum
geschieht denn nichts?

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Warum weichen wir dieser Frage ständig aus?

Müssten wir dann Konsequenzen ziehen, die für uns selber unbequem sind, die wir nicht wahrhaben wollen?

Hunderttausende, ja Millionen von Menschen haben in den letzten Jahren diesen Prozess durchgemacht, haben aus Betroffenheit ihr Bewusstsein verändert, haben ihr Leben neu gestaltet.

Weshalb ist aber der Prozess an all den sogenannten Entscheidungsträgern unserer Gesellschaft und Wirtschaft spurlos vorbeigegangen? Merken all die Männer (und die paar Mann-Frauen), die an der Spitze von Politik, Wirtschaft, Kirche, Militär, Wissenschaft, Kultur sitzen, wirklich nicht, was"» geschieht? Wollen sie es nicht merken, können sie es nicht merken? Was ist ums Himmelswillen mit diesen Menschen los?

 

 

Ist es Dummheit?

Ganz sicher spielt Dummheit eine gewaltige Rolle. Dass es Dummheit sein muss, zeigt sich schon an den Argumenten und Vorschlägen in den heutigen politischen Diskussionen:

«Wir sind für Wachstum», war der Titel einer Inseraten-Kampagne der Schweizer Banken. «Das Wachstum der Wirtschaft muss angekurbelt werden», so das Rezept der Manager.

Verdrängt man denn die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte? Warum ist man nicht fähig, einige ganz einfache Rechnungen zu machen? 2% Wachstum bedeutet Verdoppelung in 35 Jahren. Eine Verdoppelung muss man sich ganz konkret vor Augen führen.

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Dies heisst: In 35 Jahren von allem, was wir heute in der westlichen Industriewelt an materiellen Gütern und Dienstleistungen haben, doppelt so viel!

Doppelt soviel Strassen
Doppelt soviel Autos
Doppelt soviel Häuser
Doppelt soviel Ferienreisen
Doppelt soviel Medikamente
Doppelt soviel Bier
Doppelt soviel Koteletten
usw.

Jeder nur einigermassen vernünftige Mensch sieht sofort ein, dass ein solches Rezept heller Wahnsinn ist. Aber die Herren wollen ja nicht 2%Wachstum, sondern 6%, um ihre Probleme lösen zu können.

Ich erinnere mich an eine Diskussion in einem Weiterbildungsseminar für Lehrer. Der Finanzdirektor der Swissair betont immer und immer wieder, betriebswirtschaftlich gebe es aus Kostengründen keine andere Lösung, als weiter zu wachsen. Ich mache einige Rechnungen mit exponentiellem Wachstum. Ich habe u.a. das Beispiel von Norbert Blüm erwähnt: «Wenn die materiellen Güter eines Menschen jährlich um 5% zunehmen, muss sich bis zu einem Alter von 75 Jahren alles verzweiunddreissigfacht haben.»

Und plötzlich sagt dieser Manager: «Es stimmt; wir haben auch im Swissair-Management einmal ausgerechnet, dass, wenn wir so weiterwachsen wie heute, im Jahre 2036 (vielleicht war es ein anderes Jahr) jede zweite Schweizer Frau zwischen 20 und 40 Jahren eine Swissair-Hostess sein muss.»

Als ich fragte, welche Konsequenzen sie daraus gezogen hätten, kam nur ein Kopf schütteln. «Es geht nicht anders.» (Auch Norbert Blüm scheint aus seinen Berechnungen keinerlei Konsequenzen gezogen zu haben.)

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«Wir müssen ein investitionsgünstiges Klima schaffen, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.»

Ich investiere nur dann, wenn ich durch die Investition konkurrenzfähiger werde. Ich werde nur dann konkurrenzfähiger, wenn ich durch die Investition in irgendeiner Weise rationalisieren kann. Rationalisierung heisst aber nichts anderes als Ersatz von menschlicher Arbeitskraft durch Kapital, also mehr Arbeitslosigkeit. Falls der Gewinn nicht in dieser Weise eingesetzt werden kann, unterbleibt die Investition. Die Gewinne werden für reine Kapitalanlagen, vor allem im rentableren Ausland, verwendet.

Genau das ist in der BRD auch eingetreten. Noch selten war das Klima derart unternehmerfreundlich, noch selten stiegen die Unternehmungsgewinne derart an, noch selten hat eine Wirtschaftspolitik die Investitionen derart begünstigt. Aber die Arbeitslosigkeit steigt weiter an.

Als der BMW-Chef gefragt wurde, was er zu tun gedenke angesichts der Prognose, es seien eine Million von der Autoindustrie abhängige Arbeitsplätze gefährdet, antwortete er, BMW werde durch den Einsatz von Robotern die Automatisierung vorantreiben und notfalls Produktionen ins Ausland verlagern. Also Arbeitslosigkeit schaffen!

«Für unsere Exportindustrie liegt in der Dritten Welt ein riesiges Wachstumspotential.» Dieses Argument vertritt auch der deutsche Sachverständigenrat. Auch damit müssen wir uns heute abfinden: Sachverstand scheint das gleiche zu sein wie Ignoranz. Sachverstand scheint die Fähigkeit auszuschliessen, irgendwelche Zusammenhänge zu erkennen. Ulkig: Mit diesem Konzept vertritt der kapitalistische Sachverständigenrat genau die marxistische These, dass der Kapitalismus nur solange zu überleben vermag, als er irgendwo auf der Welt noch irgendwelche rückständigem Gebiete ausbeuten kann.

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Noch nie etwas gehört von Schuldenkrise? Noch nie etwas gehört von einem Nord/Süd-Konflikt? Noch nie etwas gehört von einem wirtschaftlichen Kolonialismus? Sich wirklich nie überlegt, wie die Dritte Welt unsere überflüssigen Exportgüter finanzieren soll? Noch mehr Tropenwälder abholzen? Noch mehr Gemüse in der Sahelzone für unseren Luxus? Noch mehr Viehfutter für unsere Rinder statt Nahrung für die eigene Bevölkerung? Noch grössere Monokulturen, damit die Bananen und Ananas für uns noch etwas billiger werden?

Wäre es nicht Dummheit, wäre es Lüge.
Aber reicht Dummheit als Erklärung aus?

 

 Ist es Sturheit?

Ganz sicher auch dies.
    In hierarchischen Strukturen können nur jene nach oben
kommen, die 100prozentig konform sind. Wer neue Ideen hat, wer sich etwas anderes vorstellen kann als gerade das, was ist, kann gar keine Karriere machen. Er eckt mit seinen neuen Ideen unverzüglich an. Er ist für die Vorgesetzten unbequem. Er wird stillgelegt. Nur wer sich kritiklos in die bestehenden Strukturen einfügt, und nur wer mit der vorherrschenden Meinung und Konzeption restlos einig geht, kann die Erfolgsleiter hochklettern. Mit dem Resultat, dass in dem Moment, wo er selber oben ist, ihm nichts anderes. übrigbleibt, als die Strukturen noch mehr abzuschotten, weil sonst er sich durch Mitarbeiter mit neuen Ideen gefährdet fühlen würde.

Hierarchische Strukturen setzen Konformität, also Sturheit, voraus und verstärken sie laufend.

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Aber sind denn nicht gerade die Manager stolz auf ihre Kreativität, auf ihre Innovationsfähigkeit, wie sie es so schön nennen? Es ist eine rein zweckgerichtete Kreativität. Die Ausgangslage ist vorgegeben und ebenso das zu erreichende Ziel. Es geht nur noch darum, innerhalb des vorgegebenen Rahmens verschiedene Wege zu finden.

Der Werbeberater nennt sich kreativ. Dabei ist ihm das Produkt vorgegeben, auch der finanzielle Rahmen, meist auch schon die Zielgruppe, ferner das Unternehmensimage, womöglich eine Unternehmens-<Philosophie> .(eine Beleidigung für jeden Philosophen). Seine ganze Kreativität besteht zunächst darin, die hinterhältigste Methode ausfindig zu machen, um dem Konsumenten etwas beizubringen, was dieser gar nicht möchte, sich dazu irgendwelche blöden Sprüche einfallen zu lassen und schliesslich noch unter verschiedenen Medien zu wählen. Wenn einer in der Wirtschaft sagt, er sei beruflich kreativ tätig - sei er Werbeberater, Grafiker oder gar Designer -, so lauf weit weg! Jeder Handwerker ist kreativer.

Genauso ist es mit dem Manager. Wir kennen doch den Spruch: Wer A sagt, darf nicht B sagen, wenn A falsch war. Für den <kreativen> Manager steht weder A noch B zur Diskussion. Die echte Kreativität wäre die Bereitschaft, die Fragestellung selber, d.h. das A in Frage zu stellen. Dazu müsste ich aber non-konform sein können. Das kann der Karriere-Mensch nicht. Aber reicht Sturheit als Erklärung aus?

 

Ist es Borniertheit?

Ganz sicher auch dies.

Wir glauben in der Regel immer noch, die Leute an der Spitze seien am besten informiert. Die seien wirklich im Bild! Das Gegenteil ist der Fall.

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Selbstverständlich: Wenn es um die interne Information geht, dann verfügen sie über alle nur denkbaren Daten. Ihre Macht, nicht nur intern, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit, dem Staat und dem Aufsichts-/Verwaltungsrat beruht weitgehend auf ihrem Informationsmonopol.

Sobald es jedoch um die externe Information geht, um das Wissen, was in dieser Welt, in dieser Gesellschaft, wirklich los ist, sobald es darum geht, sich im klaren zu sein über heutige Entwicklungen, über anstehende Probleme, über drohende Katastrophen, dann sind die Herren an der Spitze die am schlechtesten informierten Leute.

Ich war in meiner Manager-Zeit jeweils konsterniert ob der Ahnungslosigkeit der Spitzenkräfte der Wirtschaft. Aber es kann ja gar nicht anders sein. Die Leute an der Macht lassen doch nur jene Informationen an sich herankommen, die sie vorbehaltlos in ihrer Meinung und ihrer Position bestätigen. Sie lesen keine kritische Zeitung, sondern die Tageszeitung, die ihre Meinung zum Ausdruck bringt. Der Manager liest die FAZ und nicht die taz, beziehungsweise in der Schweiz die NZZ und nicht die WoZ. Er liest keine alternativen Zeitschriften, sondern jene Fachzeitschriften, deren Meinung genau in sein Bild passt.

Und vor allem: In der Antike wurde der Überbringer negativer Nachrichten geköpft. Das ist in hierarchischen Strukturen noch genau so. Wenn ein Untergebener zum Chef geht und ihm etwas Unbequemes, Ungewöhnliches, Unkonventionelles mitteilt, das dem Chef nicht in seine vorgefasste Meinung passt, welcher Chef würde dann sagen: «Hochinteressant, diese Mitteilung! Davon hatte ich keine Ahnung. Wir müssen dieser Information nachgehen.» Nein, die Reaktion ist: «Was ist mit diesem Typ passiert? Weg mit dem Kerl!»

Die Ich-Bezogenheit das Macht-Menschen, die Nabelschau des Top-Managers verunmöglicht ihm, die Wirklichkeit zu erkennen. Egozentrik schirmt gegen Realität ab. Aber reicht Borniertheit als Erklärung aus?

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Ist es Unfähigkeit?

Ganz sicher auch dies.

Das Peters-Prinzip hat sich eben auf der ganzen Linie als zutreffend erwiesen. Das Prinzip besagt folgendes - in knappster Form am Beispiel Militär, wo die verschiedenen Karriere-Stufen am einfachsten darzustellen sind:

Der gute Soldat wird mit der Zeit Unteroffizier; der schlechte Soldat bleibt Soldat.

Der gute Unteroffizier wird mit der Zeit Leutnant; der schlechte Unteroffizier bleibt Unteroffizier. Der gute Leutnant wird mit der Zeit Hauptmann; der schlechte Leutnant bleibt Leutnant. Der gute Hauptmann wird mit der Zeit Major; der schlechte Hauptmann bleibt Hauptmann usw., bis in die obersten Ränge hinauf.

Jeder macht solange Karriere, bis er die Stufe seiner Inkompetenz erreicht hat. Überall sitzen die Unfähigen. Und zwar in jeder hierarchischen Struktur. In der Tat: Wäre unsere Wirtschaft denn in einem solch desolaten Zustand, wenn überall die Fähigen sitzen würden? Eine Wirtschaft, die

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ist am Ende.

 

Noch grotesker als die Regeln beim Erklimmen der Erfolgsleiter sind die Auswahlprinzipien bei der Besetzung der höchsten Spitzenpositionen. Ausgerechnet bei der Auswahl der obersten Führungskräfte erklären sich die Grossunternehmen für unfähig, die möglichen Kandidaten zu beurteilen und auszuwählen. Es geht einzig darum, dass niemand die Verantwortung übernehmen will, den <falschen> ausgewählt zu haben, wenn es <schiefgehen> sollte. Also überträgt man die Auswahl einem Aussenstehenden. Dafür sind die sogenannten Headhunters da, die Kopfjäger, die die Top-Manager weltweit wie Schachfiguren hin und her schieben. Die Mentalität dieser Herren Kopfjäger ist unfassbar, grauenvoll. In einem Streitgespräch mit dem bekanntesten Headhunter der BRD - er ist inzwischen gestorben - äusserte er sich zynisch, kalt lächelnd: «Sie haben recht. Die Wirtschaft hat keine Aufgabe mehr. Es braucht wieder einen Krieg, damit die Wirtschaft weitermachen kann.»

Auch staunte ich nicht schlecht, als ich am Eingang zu seinen Büros eine grosse Tafel vorfand <Psychotherapeutische Praxis>. Braucht der Spitzenmanager einen Irrenarzt? Auf meine Frage, was dies solle, antwortete er, dies sei seine wichtigste Aufgabe: Er stelle immer wieder fest, dass die Herren, die er zu vermitteln habe, psychisch den Anforderungen der heutigen Wirtschaft in keiner Weise gewachsen seien. Er müsse sie in der Regel psychisch zuerst den Realitäten anpassen.

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Der bekannteste schweizerische Headhunter, weltweit tätig und wahrscheinlich einer der grössten überhaupt, gehört zu den reaktionärsten Elementen unserer Gesellschaft. Er ist Gründungs­mitglied der nur noch mit Begriffen der Psychopathologie zu erklärenden Autopartei. Alle nur denkbaren Daten über alle nur denkbaren Führungskräfte in aller Welt sind in einer Datenbank an seinem Hauptsitz in Zürich konzentriert. «Die Schweiz ist das einzige Land ohne Datenschutz. In keinem anderen Land wäre es mir erlaubt, diese Daten zu sammeln», so seine eigenen Aussagen. Und deshalb kämpft er nun verbissen gegen jeden Versuch, in der Schweiz wenigstens ein Minimum an Datenschutz zustande zu bringen. Ist es nicht typisch für die Schweiz:

Die Daten über das Kapital sind nirgends so geschützt wie in der Schweiz. Aber Datenschutz für Menschen? Höchstens beim Arztgeheimnis. Die Schweizer Banken setzen denn auch das Bankgeheimnis dem Arztgeheimnis gleich. Dieser Exkurs in die Mentalität der Headhunters war notwendig, um aufzuzeigen, welche Typen letztlich über die Besetzung der Spitzenpositionen in Wirtschaft und Gesellschaft entscheiden. Aber reicht Unfähigkeit als Erklärung aus?

 

Ist es Zynismus?

Ganz sicher auch dies.

Ich spreche im Management eines der grössten Tabak- und Alkoholkonzerne und sage zu diesen Herrn: «Sie müssen eigenartige psychische Strukturen haben, dass Sie es als, Ihre Lebensaufgabe betrachten können, den Leuten beizubringen, noch mehr rauchen und saufen zu müssen.»

Die Reaktion in der Pause: «Sie haben völlig recht. Es ist eine seltsame Aufgabe. Aber es ist uns unheimlich wohl dabei. Wir haben höchste Löhne, beste soziale Bedingungen, schönste Arbeitsplätze mitten in einem Park. Wir genießen hohes soziales Prestige. Und überhaupt: Wenn wir es nicht machen, macht's einfach ein anderer. Allerdings: Wenn einer käme und würde uns die gleichen Bedingungen bieten, um gegen Alkohol und Tabak tätig zu sein, dann schon viel lieber!»

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Begegnen wir diesem Zynismus nicht auf Schritt und Tritt?

«Was, wir sollen aus Protest gegen die Apartheid keine Produkte aus Südafrika mehr einführen? Dann machen es einfach die anderen. Und überhaupt: Wirtschaft ist nicht Politik.» (Was die gleichen Kreise jedoch nicht daran hindert, politisch äusserst aktiv zu sein, indem sie scharenweise und millionenschwer in die Südafrika-Lobby einsteigen. Na klar, da geht es ums Geschäft und nicht um Politik.) «Was, wir sollen aufgrund unseres Bekenntnisses zu Frieden, Neutralität und Humanität auf Waffenexporte verzichten? Dann machen es einfach die anderen.» (Wenn die anderen schon kriminell sind, warum soll ich es dann nicht auch sein?) «Und überhaupt: Wie steht es mit den Arbeitsplätzen?» (Na klar, unsere Arbeitsplätze sind wichtiger als die Menschen, die durch unsere Waffen irgendwo in der Dritten Welt umgebracht werden.) Die Schwester des Zynismus ist die Heuchelei. Wenn der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie an einer Unternehmertagung über die Subventionsmentalität der Unternehmer schimpft, selber aber wesentliche Subventionen für seine Brillenforschung bezieht, ist es Heuchelei.

Ist es aber noch Heuchelei,

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Aber reichen Zynismus und Heuchelei als Erklärung aus?

Reichen Dummheit, Borniertheit, Sturheit, Unfähigkeit, Zynismus, Heuchelei immer gepaart mit einer ungeheuerlichen Maucher'schen Arroganz aus, um zu erklären, warum sich bei den Spitzenkräften unserer Wirtschaft nichts, aber auch gar nichts an Bewusstsein bewegt?

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Vor einigen Jahren ging eine Siegesmeldung durch die Schweizer Presse: Die Schweiz hätte jetzt soviel Ärzte wie kein anderes Land auf der Welt. Wir waren stolz; wir hatten endlich die Bundesrepublik überrundet. Alle diese Ärzte haben viel zu tun. Wenn wir das Land mit den meisten Ärzten sind, und alle haben viel zu tun, dann sind wir das kränkste Land auf der Welt. Ich will nicht möglichst viel Ärzte haben; ich möchte gesund sein. Auf alle Fälle kann die Anzahl der Ärzte keinen Aufschluss darüber geben, ob es uns gut geht oder nicht.

Anderseits brauche ich die Ärzte; es könnte einmal schief gehen. Die umgekehrte Logik wäre noch blöder: Je weniger Ärzte wir haben, desto besser geht es uns. (Es gibt zwar sensationelle Ausrechnungen z.B. der deutschen Krankenkassen, die klipp und klar nachweisen: Die Sterblichkeit der Menschen steigt mit der Anzahl der Ärzte. Das wissenschaftliche Institut der deutschen Ortskrankenkassen stellte fest: «Die Lebenserwartung der Bevölkerung sinkt ziemlich proportional mit der Zahl der Einwohner pro Arzt, also mit zunehmender Arztdichte.»)

Das Ideal wäre also, möglichst viele Ärzte zu haben, aber alle sind arbeitslos. Dann wären wir gesund. Aber wir hätten sie für alle Fälle. Das geht aber wieder nicht in dieser Gesellschaft. Da darf man nicht arbeitslos sein; sonst ist man zu nichts nutze; man ist ein Außenseiter; man ist ein Drückeberger. Ich darf selbstverständlich arbeitslos sein, aber dann muss ich zum Jet-set gehören. In der Regenbogen-Presse werden uns nur Leute als Idole vorgestellt, die arbeitslos sind und die gar nie auf die Idee kämen zu arbeiten. Was machen wir aber mit den Ärzten? Müssen wir jetzt krank sein, damit sie arbeiten können?

Dieses Ärzte-Beispiel lässt sich auf alle denkbaren Bereiche unserer Zivilisation und unserer Wirtschaft übertragen.

Weshalb müssen wir so froh sein, wenn die Einzelhandelsumsätze gestiegen sind? Wenn sie gestiegen sind, war es ein gutes Jahr. Wenn sie gleichgeblieben oder zurückgegangen sind, war es ein schlechtes Jahr. Was heisst denn das: Die

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