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3   Die Erhaltung des Weltfriedens

Von Georg Picht 1969

 

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In der zweiten Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß die Ernährung, die Wasserversorgung und die Energieversorgung der Menschheit nur gesichert werden können, wenn es gelingt, mit einem riesigen technischen Aufwand eine künstliche Welt zu errichten, in der die Reserven der Erde mit wissen­schaft­lichen Methoden erschlossen und ökonomisch verwaltet werden. Damit bestätigte sich die These der ersten Vorlesung, daß die Menschheit heute gezwungen ist, ihre eigene Zukunft zu produzieren. 

Wir können diese These aber jetzt präziser fassen: 

Die Menschheit ist um ihrer Erhaltung willen gezwungen, die gesamte Erde, und nicht nur einige Kultur­landschaften, in eine zweite, künstliche, von menschlicher Vernunft regierte Natur zu verwandeln. Das kann nur gelingen, wenn für das Zusammenleben der Völker ein politischer Rahmen geschaffen wird, dessen Struktur sich radikal von der Struktur aller bisherigen politischen Systeme unterscheidet. 

Zum erstenmal in ihrer Geschichte ist die Menschheit vor die harte Alternative gestellt, entweder dem Gebot der Not zu folgen und ihre geschichtlichen Traditionen zu überwinden, oder eine Verkettung von Katastrophen herbeizuführen, die dann Hunderten von Millionen Menschen das Leben kosten und alle bisherigen Traditionen nicht umgestalten, sondern vernichten würde. Tertium non datur — eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

Wir wissen nicht, ob die Menschheit reif genug ist, um diese Situation zu erkennen und entsprechend zu handeln. Jedenfalls aber ist es ein müßiges Unterfangen, dem Ernst dieser Frage dadurch auszuweichen, daß man sich in optimistischen oder pessimistischen Vermutungen ergeht.

Jeder von uns kann die Chancen, daß das große Spiel um die Zukunft gewonnen wird, dadurch verbessern, daß er sich an dem universalen Bewußtseins­wandel, der von uns gefordert wird, aktiv beteiligt. 

Der erste Schritt der heute gebotenen Aktion ist ein Schritt der nüchternen Erkenntnis. Wir müssen aus dem unbestimmten Bereich alles dessen, was in Zukunft möglich ist, die Elemente ausgrenzen, die unausweichlich sind und deshalb heute schon als Realitäten gelten können. Aus diesen Realitäten der zukünftigen Welt müssen wir dann die Direktiven für das gegenwärtige politische Handeln ableiten.

Diese Form der Betrachtung politischer Sachverhalte ist ungewohnt. Wir lassen uns in unserem politischen Denken durch Traditionen und überkommene Vorurteile und durch die Oberflächenphänomene des gegenwärtigen Weltzustandes bestimmen. Jeder Versuch, die Gesamtverfassung unserer politischen Welt von der Zukunft her zu betrachten, wird als utopisch und unrealistisch beiseite geschoben, denn die Zukunft gilt noch immer als ein unberechenbarer Bezirk, in dem wir zwar unsere Wünsche und Hoffnungen spielen lassen dürfen, der aber der Erkenntnis verschlossen ist. 

Die Zukunft hat uns jedoch schon bei der ersten flüchtigen Analyse des Zusammenhanges von Welternährung, Weltwasserversorgung und Weltenergie­versorgung ein Gesicht zugewandt, vor dem wir erschrecken und vor dem die meisten von uns die Augen verschließen. Sie enthält nicht nur das, was kommen kann, und wo wir frei sind zu hoffen und zu wünschen; sie enthält auch das, was unter den gegebenen Bedingungen kommen muß, und was wir deshalb heute schon zu akzeptieren haben, falls wir uns nicht entschließen, die Bedingungen zu verändern.

Es läßt sich berechnen, welche Katastrophen eintreten müssen, wenn es uns nicht gelingt, die politische Welt radikal, das heißt von ihren Fundamenten her umzugestalten. 

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Es läßt sich zwingend demonstrieren, welche Maßnahmen erforderlich sind, um die Existenz der Menschheit auf diesem Erdball zu erhalten, und es läßt sich ebenso zwingend erweisen, daß diese Maßnahmen im gegenwärtigen Gefüge der Weltpolitik nicht durchführbar sind.

Wir sind hier nicht auf unbestimmte Annahmen und fragwürdige Prognosen angewiesen, sondern es gibt eine ganze Reihe von harten Fakten der zukünftigen Welt, die man erkennen kann, wenn man den Mut dazu besitzt.

 

Eine Politik, die realistisch sein will, muß mit diesen zukünftigen Realitäten nicht anders rechnen als mit den gegenwärtigen Gegebenheiten. In der technischen Welt muß sich die Politik der Priorität der großen Zukunftsaufgaben unterwerfen. Das ist die Form, in der das politische Handeln von jener qualitativen Veränderung der gesamten Geschichte ergriffen wird, von der in der ersten Vorlesung die Rede war. Man kann diese Veränderung daran ablesen, in welchem Umfang rationale Planung in den vergangenen fünfzehn Jahren zu einem bestimmenden Faktor der politischen Willensbildung geworden ist. Die technische Welt ist möglich nur als eine geplante Welt; jede Planung nimmt aber die Zukunft vorweg und ist auf die Zukunft ausgerichtet. 

Wenn es wahr ist, daß die technische Welt nur als geplante Welt konstruiert werden kann, so muß die Planung auch die politische Substruktur für diese Welt ergreifen. Dadurch werden wir aber gezwungen, das gegenwärtige System der Weltpolitik unter einem Gesichtspunkt zu betrachten, der uns noch fremd und ungewohnt ist und von dem aus sich höchst unerwartete Perspektiven des politischen Denkens und Handelns ergeben könnten.

Wir sind nämlich heute genötigt, die politischen Systeme, in denen wir leben, auf ihre technische Funktionsfähigkeit, also auf ihre Rationalität hin zu prüfen. Das bedeutet, daß die kritische Analyse in eine Schicht der politischen Realitäten vordringen muß, die man bisher zu wenig bedacht hat. Es ist hier nicht möglich, eine solche Analyse in ihrer vollen Breite durchzuführen; wir beschränken uns auf die Frage nach den Bedingungen des Weltfriedens.


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Eine Krankheit kann man nur besiegen, wenn man ihre Ursachen beseitigt. Es ist deshalb höchst unwahrscheinlich, daß es gelingt, den Frieden zu erhalten, solange die Welt an einem politischen System festhält, das so gebaut ist, daß es unablässig neue Konflikte produzieren muß, und das die technischen Möglichkeiten besitzt, diese Konflikte militärisch auszutragen. Wenn man den Krieg verhindern will, muß man den Krieg technisch unmöglich machen und die Konflikte so kanalisieren, daß sie in anderen Formen ausgekämpft werden können. Wir fragen deshalb: Was sind die Ursachen der Kriege? 

Kriege werden immer von Staaten geführt. Wenn es keine Staaten gibt, so gibt es zwar immer noch mannigfaltige und zum Teil höchst bösartige Formen der Gewaltausübung, aber es gibt keinen Krieg. Die Anarchisten haben daraus seit jeher geschlossen, man brauche die Staaten und ihre Herrschaftssysteme nur zu beseitigen, und die Menschheit wäre von der Geißel des Krieges befreit. Aber so einfach ist die Sache nicht; denn die staatliche Organisation der Macht ist im technischen Zeitalter aus Gründen, auf die ich später eingehen werde, noch unumgänglicher geworden, als sie es in den bisherigen Epochen der Geschichte schon war. 

Die in der Wohlstandsgesellschaft der hochentwickelten Industriestaaten weit verbreitete Verketzerung des Staates ist nur so lange legitim, als sie sich gegen bestimmte Formen der staatlichen Ordnung und Verwaltung richtet; wendet sie sich gegen den Staat überhaupt, so ist sie der Ausdruck einer nicht zu verantwortenden Leichtfertigkeit. 

Wir müssen also präziser fragen, welche Konstruktionsfehler in dem System der Staaten dazu führen, daß die Staaten, die der Erhaltung der Gesellschaft dienen sollen, in der bisherigen Geschichte zwangsläufig immer wieder dazu getrieben wurden, sich wechselseitig anzugreifen und zu verwüsten. 

Der Widerspruch, der sich hier auftut, tritt schon im öffentlichen Recht zutage. Ein Staat ist als ein geschlossenes System konstruiert. Die Sphäre innerhalb dieses Systems ist scharf gegen die Sphäre außerhalb des Systems abgegrenzt. Nach innen beruht jeder Staat auf einer Rechtsordnung. Deshalb ist es im Inneren der Staaten verboten, politische Konflikte mit Waffengewalt auszutragen.


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Aber nach außen hin ist es dem souveränen Staat unter gewissen völkerrechtlichen Einschränkungen, die wir hier übergehen können, weil sie meistens mißachtet werden, gestattet, im Interesse der Staatsraison von den Waffen Gebrauch zu machen. Deshalb gibt es militärische Macht. Es gibt militärische Macht, weil der souveräne Staat in seinen internationalen Beziehungen keine übergeordnete Instanz anerkennt, die ihm das Recht der letzten Entscheidung über Krieg und Frieden abnehmen dürfte. Es gibt Kriege, weil wir in einer internationalen Ordnung leben, die den Staaten nach außen hin die Anwendung jener Waffengewalt konzediert, die sie im Inneren mit gutem Grund verbieten. 

Wie kommt es zu diesem Widerspruch?

Das hat geschichtliche Ursachen, an die ich hier nur flüchtig erinnern kann. Die Grundvorstellungen, nach denen unsere politische Welt bis heute organisiert ist, haben sich schon in vorgeschichtlicher Zeit durch eine Revolution der Menschheitsentwicklung vorbereitet, die ebenso einschneidend war wie die wissenschaftlich-technische Revolution, die wir jetzt erleben. Die erste große Wende in der Geschichte der Menschheit vollzog sich beim Übergang von der Jäger- und Hirtenkultur zum Ackerbau und damit zur Seßhaftigkeit des Menschen. Seit jenem Zeitpunkt haben sich in einem lange währenden Prozeß alle politischen Ordnungen den durch die agrarischen Lebensverhältnisse vorgezeichneten Strukturen eingefügt; sie haben sich zu territorialen Ordnungen entwickelt, und die Vollendung dieser Territorialisierung der politischen Verhältnisse ist der Staat. 

Der Staat ist seinem Wesen nach Territorialstaat. Er ist durch geographische Grenzen umrissen, und wir können nur deshalb den Bereich der inneren Ordnung des Staates eindeutig von seinen internationalen Beziehungen unterscheiden, weil es möglich ist, eindeutig anzugeben, was innerhalb und was außerhalb seiner geographischen Grenzen liegt. Im 20. Jahrhundert wurde dieses Ordnungsprinzip, das sich in früheren Epochen nur auf einem Teil der Erdoberfläche durchgesetzt hatte, über den ganzen Erdball ausgedehnt. 


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Die Welt organisierte sich nach dem Schema der »Vereinten Nationen«. Schon bei der Betrachtung der Faktoren, die dem vernunftgemäßen Aufbau einer künstlichen Welt entgegenstehen, stießen wir auf dieses Phänomen, das weniger selbstverständlich ist, als es uns erscheint. Die gesamte Erdoberfläche ist in Territorialstaaten parzelliert, und der Theorie nach hat die Regierung jedes dieser Staaten die souveräne Verfügungsgewalt über die Menschen und Bodenschätze ihres Territoriums.

Der Theorie nach herrschen also heute auf dem ganzen Erdball die politischen Verhältnisse, die sich in der Neuzeit in West- und Mitteleuropa ausgebildet haben. An der neuzeitlichen Geschichte Europas läßt sich nun gut studieren, aus welchen Gründen ein so organisiertes Staatensystem fortwährend Kriege produzieren muß. 

Die Staaten sind zwar als geschlossene Systeme entworfen; aber um wirklich ein geschlossenes System sein zu können, müßte ein Staat nicht nur autonom, er müßte auch autark sein. Da sich das Ideal der Autarkie aber sogar in vorindustriellen Zuständen niemals vollständig realisieren ließ, hatte jeder Staat das Bedürfnis, sich — wie man zu sagen pflegte — zu »arrondieren«, das heißt, sich Stücke der Territorien angrenzender Staaten einzugliedern. 

Die überwiegende Mehrzahl der Kriege in der europäischen Geschichte wurde um den Besitz von Territorien geführt. Die ideologischen Motivationen dienten als Maske.

Durch die Entwicklung von Technik und Industrie wurde den Territorialstaaten die Basis in den realen Verhältnissen entzogen. Die Wirtschaft des technischen Zeitalters hat sich von der überkommenen Grundlage der Agrarwirtschaft gelöst. Sie ist auf der neuen Grundlage von Industrie und Technik zur Weltwirtschaft geworden, und das hat zur Folge, daß selbst die Superstaaten nicht mehr autark sind. Ihre Macht beruht auf technischen und industriellen Systemen, die nicht an das Territorium gebunden sind, sondern große Distrikte der Welt umspannen. Aber auch kleine Staaten, wie etwa Holland und die Schweiz, leben nicht von dem Ertrag ihres Territoriums, sondern von ihrem Anteil an der Weltwirtschaft. 


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Das bedeutet, daß ein großer Teil der Ressourcen, auf denen die faktische Existenz eines Staates beruht, der direkten Verfügungsgewalt der Regierung dieses Staates entzogen ist. Schon heute verdanken die Völker und Staaten ihren Bestand einer internationalen Verflechtung, die zwar die adäquaten Rechtsformen noch nicht gefunden hat und deshalb höchst zerbrechlich ist, die aber trotzdem die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse mindestens ebenso bestimmt wie die Jurisdiktion der einzelnen Staaten.

Noch deutlicher läßt sich an den militärischen Verhältnissen demonstrieren, daß der Territorialstaat zur Fiktion geworden ist. 

Solange die Reichweite der Waffen auf wenige Kilometer beschränkt war, bildete in der Tat das Territorium die Basis der gesamten Kriegführung. Ein Krieg brach aus, wenn die Grenzen eines Staates von feindlichen Truppen überschritten wurden; und das Militär hatte den Auftrag, die Grenzen des Vaterlandes zu sichern und dadurch zugleich die innerhalb dieser Grenzen wohnende Bevölkerung vor dem Feind zu schützen. Schon durch die Luftkriege und erst recht durch die Raketen ist diese territoriale Form der Kriegführung außer Kraft gesetzt worden. Ein Staat kann heute durch den Einsatz nuklearer Waffen einen weit abgelegenen anderen Staat, ja sogar einen anderen Kontinent vernichten, ohne daß sich ein einziger Soldat in Bewegung setzt. Es ist nicht mehr möglich, Territorien zu verteidigen, und der Gedanke des Schutzes der Zivilbevölkerung hat jeglichen Sinn verloren, wenn aus Flugzeugen Napalm auf das Hinterland regnet. 

Im Zeitalter der technischen Vernichtungswaffen ist es nicht möglich, an Formen der politischen Ordnung festzuhalten, die sich ausgebildet haben, als man noch mit Vorderladern und Feldschlangen kämpfte.

 wikipedia  Vorderlader    wikipedia  Feldschlange 

Nach diesen Überlegungen wird es uns leichter, die Frage zu präzisieren, was geschehen sollte, um in Zukunft Kriege zu verhindern. Den Territorial­staaten muß die Verfügungsgewalt über alle Waffen entzogen werden, deren Einsatz die Grenzen der territorialen Anwendung überschreiten könnte. Eine solche Entwicklung ist bereits im Gange, und die Bundesrepublik Deutschland kann als Beispiel dienen. 


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Die Bundesrepublik erfüllt die Forderung, die wir eingangs aufgestellt haben: es ist ihr technisch unmöglich, einen nationalen Krieg zu führen, weil der größte Teil ihrer Truppen einem supranationalen Kommando unterstellt ist. Das gleiche gilt für die Ostblockstaaten mit Ausnahme von Rußland. Ihr Verteidigungssystem ist supranational, und es hat sich auch im Osten bereits herausgestellt, daß die Integration der militärischen Macht in ein supranationales System, also ihre Ausgliederung aus der souveränen Verfügungsgewalt einer Regierung, die politische Bewegungsfreiheit weniger beeinträchtigt, als man in der bisherigen Geschichte annahm. Dieser Satz hat durch den politischen Mißerfolg der militärischen Okkupation der Tschechoslowakei seine tragische Bestätigung erhalten. 

Durch die Ausbildung einer Pluralität von supranationalen Verteidigungssystemen ist zwar das Problem, vor dem wir stehen, noch nicht gelöst, denn diese größeren Systeme sind in der Lage, gegeneinander Krieg zu führen. Aber der erste Schritt ist praktisch schon vollzogen. Es ist nämlich bewiesen, daß es möglich ist, die Verfügungsgewalt über die militärische Macht aus dem Bereich der souveränen Kompetenzen der einzelnen Staatsregierung auszugliedern, ohne die Organe des Staates zu zerstören.

Ein Staat wird immer Polizeitruppen brauchen; aber die Meinung, daß er zusammenbricht, wenn er nicht mehr in der Lage ist, selbständig Krieg zu führen, kann trotz de Gaulle in der technischen Welt nur als ein Atavismus gelten.

Wichtiger ist die Frage, in welcher Form der nächste Schritt, nämlich der Abbau der supranationalen Militärsysteme, erfolgen könnte. Er kann erfolgen, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, daß sie zwecklos sind. Ein Militärsystem dient entweder dem Angriff oder der Verteidigung. Es kann außerdem zur politischen Erpressung benutzt werden; dazu wird später noch ein Wort zu sagen sein. Zu einem Angriffskrieg entschließt man sich nur, wenn man annimmt, dadurch etwas gewinnen zu können. Man kann dabei verblendet sein.

* (d-2014:)  Atavismus...


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Es war schon 1939 ein Wahnsinn, zu glauben, daß es sich lohnen würde, zum Zweck der Eroberung von Danzig und dem polnischen Korridor einen Weltkrieg zu entfesseln. Aber immerhin konnte man sich noch eine Chance ausrechnen. Inzwischen hat die Waffenentwicklung einen Zustand herbeigeführt, in dem niemand mehr der Illusion verfallen kann, daß ein Angriffskrieg sich auszahlen würde. Zum Angriff ist die militärische Macht nicht mehr zu gebrauchen.

Noch einschneidender ist die Erkenntnis, daß die Militärsysteme auch für den Zweck der Verteidigung weitgehend nutzlos geworden sind. Diese Erkenntnis wird systematisch unterdrückt, denn wenn sie sich allgemein Bahn brechen würde, wären die Steuerzahler nicht länger bereit, die Mittel für den Militärhaushalt aufzubringen. Sie ist trotzdem nicht zu bestreiten.

Gegen nukleare Raketen gibt es bisher keine Verteidigung. Man kann diesen Satz durch den Hinweis auf die ABM-Systeme in Frage stellen und gelangt nach einer endlosen Diskussion über Radarnetze, Warnzeiten und die Strategie der Abschreckung am Ende wieder zum gleichen Resultat.

Würde aber eine wirksame Verteidigung erfunden, so wäre sie vermutlich so kostspielig, daß die Staaten, die sie aufbauen wollten, auch ohne Krieg unter der finanziellen Last zusammenbrechen würden. 

 

Ich behaupte darüber hinaus, daß ein technisch hochentwickelter Staat auch einem konventionellen Krieg nicht gewachsen ist.

Wenn neben jedem Haus ein Öltank im Garten vergraben liegt, wirken schon konventionelle Luftangriffe tödlich. Und wenn jeder einzelne Haushalt in eine totale Abhängigkeit von höchst verletzlichen technischen Versorgungseinrichtungen geraten ist, führen schon beschränkte Kriegshandlungen zum Kollaps jeglicher Ordnung.

Ist aber ein Militärsystem weder für den Angriff noch für die Verteidigung mehr zu gebrauchen, so bleibt nur noch der Zweck, dem die großen Militärbündnisse heute faktisch dienen: der Zweck der politischen Erpressung. Man kann mit diesen Instrumenten Poker spielen; wenngleich die Frage erlaubt sein muß, ob der mögliche Gewinn die Kosten für den Aufwand noch zu decken vermag.


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Hier setzt aber eine ganz andere Überlegung ein.

Die große Auseinandersetzung um die Machtpositionen in der heutigen Welt wird in den Entwicklungs­ländern ausgetragen. Die Vorherrschaft wird dem politischen System zufallen, das in den Entwicklungsländern den stärksten Einfluß erringt. Hier ist mit bloßer Propaganda auf die Dauer wenig zu erreichen, denn diese Länder sind auf reale Hilfe angewiesen und werden immer mehr gezwungen sein, sich für die Politik zu entscheiden, die ihnen die größten Entwicklungschancen bietet. 

Nun ist schon heute unverkennbar, daß auch die Supermächte die doppelte Last der militärischen Rüstung und der Entwicklungshilfe nicht zu tragen vermögen. Entscheiden sie sich für die Rüstung, so berauben sie sich dadurch der wirksamsten Mittel einer effektiven Machtpolitik in der technischen Welt. Damit hat sich aber die militärische Macht ad absurdum geführt. Denn wenn die Verfügungsgewalt über Waffensysteme die Entfaltung realer Macht nicht steigert, sondern verhindert, hat der Besitz dieser furchtbaren Instrumente den Wert, den man ihnen noch zumißt, verloren. Gewiß ist die Vorstellungswelt der Völker und ihrer Regierungen noch immer in den Vorurteilen einer versunkenen Geschichtsepoche befangen. Aber die Tatsachen setzen sich gegen den Nebel der Fiktionen auf die Dauer durch. Wenn das erreicht ist, verwandelt sich die Forderung, die Welt müsse so eingerichtet werden, daß der Ausbruch von Kriegen technisch nicht mehr möglich ist, aus einer politischen Utopie in eine organisatorische Aufgabe, die lösbar ist.

Wie ist dieser Bewußtseinswandel zu erreichen? Die bloße Vernunft ist in der heutigen Welt zu schwach, um die Struktur der Staaten zu verändern und die großen Militärmaschinen abzubauen. Aber die Menschheit wird von der Not in die Zange genommen; sie wird zur Einsicht gezwungen werden. Der Hunger und die Verelendung des wachsenden Weltproletariats haben inzwischen eine neue furchtbare Form des Krieges entstehen lassen, gegen die sich die großen Militärsysteme als machtlos erweisen. 


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Die neue Form des Krieges ist nicht der Krieg zwischen Staaten, sondern der nach Taktik und Strategie des Guerillakampfes geführte Bürgerkrieg, an dem sich die konkurrierenden Staaten nur aus dem Hintergrund durch Waffenlieferungen, Agitation und diplomatische Hilfestellung beteiligen.

Es ist die welthistorische Bedeutung des Vietnam-Krieges, daß dort die militärische Nutzlosigkeit der überdimensionalen Waffensysteme des technischen Zeitalters demonstriert worden ist. Besiegt wurden durch diesen Krieg die Computer. Widerlegt wurde der blinde Glaube, daß menschliche Vernunft sich durch technische Rationalität und Übermacht der Mittel ersetzen läßt. 

Die Kehrseite der Übermacht der Technik ist ihre Machtlosigkeit.

Nachdem die Welt dies in Vietnam erfahren hat, ist damit zu rechnen, daß sich das Feuer des Bürgerkrieges, der nicht nur die technischen Waffensysteme, sondern auch jede staatliche Ordnung unterläuft, über weite Teile der Erde ausbreiten wird. Dadurch, daß man den großen Krieg technisch unmöglich macht, wird also noch lange nicht der Friede hergestellt. Im Gegenteil: die Zeit der klassischen Kriege wird uns im Rückblick wie eine Idylle erscheinen. 

Wie aber ist der Bürgerkrieg zu bekämpfen? 

Mit Waffen wird man seiner nicht Herr. Keine Weltpolizei wäre mächtig genug, das Feuer des Weltbürger­krieges zu ersticken. Auch diese neue Form der politischen Krankheit läßt sich nur dadurch überwinden, daß man ihre Ursachen beseitigt.

Wir sind damit zu dem gleichen Resultat gelangt, wie es sich im Zusammenhang unserer Überlegungen zum Aufbau einer künstlichen Welt ergeben hatte. Die wichtigsten Ursachen der Bürgerkriege sind Hunger, Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit in der heutigen Welt. 

Der Krieg ist nicht die einzige Form der Anwendung von brutaler Gewalt. Es gibt auch die lautlose Gewalt der Unterdrückung durch kapitalistische, feudale oder sozialistische Herrschaftssysteme. Sie kostet nicht weniger Menschenleben als die großen Vernichtungsschlachten und Völkermorde dieses Jahrhunderts und provoziert den Bürgerkrieg. 

Deshalb läßt sich der Bürgerkrieg nicht mehr durch Waffen, sondern nur durch positive Kräfte des Friedens überwinden. Man muß eine internationale Rechtsordnung schaffen, die auch die lautlose Gewalt in ihre Schranken weist und die zentralen Weltprobleme zu lösen erlaubt. 

Das größte dieser Weltprobleme ist der Hunger. Deshalb werden wir in der nächsten Vorlesung das Thema der Welternährungskrise wieder aufgreifen müssen.  

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Georg Picht Mut zur Utopie Die großen Zukunftsaufgaben Zwölf Vorträge 1969 im Piper-Verlag 150 Seiten