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5. Politische Probleme der technischen Welt 

Picht-1969

 

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Die Konfrontation mit der Welternährungskrise hat der zunächst so nebelhaften Überschrift <Die großen Zukunftsaufgaben> scharfe, ja grausame Konturen verliehen. Es läßt sich jetzt ermessen, was die These der ersten Vorlesung bedeutet: die Menschheit trage heute die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte. 

Denn von den Maßnahmen, die in den nächsten 20 Jahren ergriffen werden, hängt ab, ob es eine zukünftige Geschichte der Menschheit überhaupt geben kann oder ob es Resten der heutigen Erdbevölkerung überlassen bleibt, inmitten der Trümmer der gegenwärtigen Staatenwelt und der nutzlos gewordenen Ruinen von Industrie und Technik die Geschichte der Menschheit neu zu beginnen. 

Auch die These, der Friede sei die Lebensbedingung der technischen Welt, hat einen neuen Sinn gewonnen, seit wir erkannt haben, daß zur Herstellung des Friedens die Abschaffung der offenen Gewalt der Kriege zwischen den Staaten nicht genügt, sondern daß auch die lautlose Gewalt besiegt werden muß, die wehrlosen Menschen den Ausweg aus ihrem Elend vermauert. Der Krieg wird nur durch eine Friedensordnung überwunden, welche die großen Weltprobleme zu lösen vermag. Das ist eine Aufgabe der Politik. So werden wir zu der These der ersten Vorlesung zurückgeführt, daß die zentralen Zukunftsaufgaben unserer Welt auf dem Gebiet der Politik zu suchen sind.

Aber was soll dieser Satz bedeuten? Sobald wir ihn genauer betrachten, stellt sich heraus, daß er mißverständlich und vieldeutig ist. Sein Sinn hängt davon ab, wie wir den Begriff der Politik zu interpretieren haben. Es steht nicht ein für allemal fest, was unter Politik zu verstehen ist, sondern die wechselnden Bedeutungen, die der Begriff der Politik annehmen kann, bestimmen sich nach den realen Möglichkeiten politischen Handelns. 

Jede Herrschaftsordnung und jede Rechtsordnung etabliert ein System von Formen politischen Handelns. Deshalb kann man den Kampf um die Macht als ein Ringen um die Frage beschreiben, welche Definition der Politik zur Herrschaft gelangen und sich durchsetzen soll. Da nun die Expansion von Wissenschaft und Technik, wie es die letzten Vorlesungen deutlich machten, eine revolutionäre Umgestaltung aller politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse bereits hervorgerufen hat und auch weiterhin erzwingen wird, verändert sich fortwährend der Spielraum der Möglichkeiten politischen Handelns und damit auch die Bedeutung des Begriffes »Politik«. So erweist sich die Wissenschaft als politische Macht. 

Der Satz, daß die zentralen Zukunftsaufgaben unserer Zeit auf dem Gebiet der Politik zu suchen sind, versetzt uns deshalb in eine eigentümliche Verlegenheit: auf der einen Seite ist der Satz evident, auf der anderen Seite können wir den präzisen Sinn dieses evidenten Satzes nicht bestimmen, weil wir nicht wissen, was das Wort »Politik« in der Zukunft, auf die er sich bezieht, bedeuten wird. Die paradoxe Situation, in der wir uns angesichts dieses Satzes befinden, macht deutlich, wie es überhaupt um die Erkenntnis der Zukunft bestellt ist. 

Es ist nicht richtig, daß wir von der Zukunft gar nichts wissen könnten; denn es gibt eine große Zahl von Sätzen über die Zukunft, von denen wir mit völliger Gewißheit sagen können, daß sie wahr sind. Aber bei allen diesen Sätzen begegnen wir der gleichen Schwierigkeit: wir können nicht angeben, was ihre Wahrheit, deren wir doch gewiß sind, in Zukunft bedeuten wird. Das liegt nicht nur daran, daß uns die Informationen, aus denen sich ihr zukünftiger Sinn ergeben würde, einstweilen noch fehlen; es liegt auch daran, daß durch menschliches Handeln über die zukünftige Bedeutung dieser Sätze erst entschieden wird. 


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Durch unser eigenes Tun oder Unterlassen leisten wir Tag für Tag zur Definition des zukünftigen Begriffes der Politik unseren Beitrag. Wenn wir erkennen, was die Zukunft fordert, tragen wir dazu bei, daß ein Begriff der Politik sich durchsetzt, der sich mit der Vernunft vereinen läßt.

Wir befolgen also bei dem Versuch, die politischen Probleme der technischen Welt zu umreißen, die gleiche Methode, die wir schon in der Vorlesung über die Erhaltung des Weltfriedens befolgt haben. Wir fragen, welche Forderungen der Zukunft unausweichlich sind, und untersuchen, welche Konsequenzen sich aus diesen unausweichlichen Forderungen mit Notwendigkeit ergeben. So gewinnen wir einen festen Boden, denn dieses Verfahren erlaubt uns anzugeben, was unter allen Umständen geleistet werden muß, wenn wir die Alternative globaler Katastrophen ausschließen wollen.

Wir sind von diesem methodischen Ansatz aus zur Feststellung einer vierfachen Aufgabe der zukünftigen Weltpolitik gelangt, die wir uns noch einmal vergegenwärtigen wollen. 

Stellt man sich diesen Katalog von unausweichlichen Aufgaben jeder zukünftigen Politik vor Augen, so ergibt sich daraus eine Reihe von ebenso einfachen wie zwingenden Folgerungen, die sich zum Teil schon in den früheren Vorlesungen abgezeichnet haben, und die jetzt genauer bestimmt werden müssen.


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1.  Keine dieser Aufgaben läßt sich in nationalem Rahmen lösen. Selbst die Superstaaten sind ihnen nicht gewachsen. Die USA vermochten Texas bisher nicht zu bewässern. Rußland kann die von ihm abhängigen Entwicklungsländer nicht ernähren. China muß Weizen aus Kanada einführen. Auch die Staatenbündnisse sind nicht in der Lage, ihre Ressourcen zu erschließen und optimal auszunutzen, weil das System der nationalen Souveränitätsrechte sich mit den Prinzipien der ökonomischen und technischen Rationalität nicht vereinbaren läßt. Da aber die Welthungersnot eine rationale Verwaltung der lebenswichtigen Ressourcen unserer Erde erzwingt, gelangt man bei der Analyse der Maßnahmen, die erforderlich sind, um die vier großen Weltprobleme zu lösen, zum gleichen Resultat wie bei der Untersuchung des Problems, wie man den Ausbruch von Kriegen technisch verhindern kann. Der souveräne Territorialstaat alten Stiles ist den politischen und ökonomischen Aufgaben der technischen Welt nicht mehr gewachsen. Er wird einen Teil seiner bisherigen Hoheitsrechte an supranationale Organisationen abgeben müssen.

2.  Wenn man versucht, die vier großen Weltprobleme zu analysieren, reduzieren sich die höchst komplizierten Sachverhalte, die geklärt werden müssen, sehr rasch auf die einfache Frage, wie die überdimensionalen Leistungen, die erforderlich wären, wirtschaftlich realisiert werden sollen. Wissenschaftlich und technisch wäre es möglich, diese Probleme zu lösen. Auf unserer Erde könnte eine weit größere Zahl von Menschen ernährt und auf einem menschenwürdigen Lebensstandard erhalten werden. Aber dazu sind gigantische Investitionen erforderlich, welche die gegenwärtige Leistungsfähigkeit nicht nur der nationalen Staaten, sondern auch der gesamten Weltwirtschaft übersteigen. 


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Im Zentrum der zukünftigen Politik wird deshalb die Organisation eines Systems der Weltwirtschaft stehen müssen, das der Aufgabe der Erhaltung der Menschheit gewachsen ist. Alle übrigen Zielsetzungen der Politik werden dieser ökonomischen Zielsetzung untergeordnet werden müssen. Die ökonomische Verwaltung der Ressourcen der Erde erlangt die absolute Priorität. Nun setzt aber jede Ökonomie eine Wirtschaftsverfassung und jede Wirtschaftsverfassung eine politische Ordnung voraus. Man kann die Weltwirtschaft nicht planen, solange es keine politischen Instanzen gibt, welche die Macht besitzen, die Planungen durchzuführen, und solange der organisatorische Rahmen für die Realisierung der Planung nicht aufgebaut ist. Der Begriff der Planung ist koextensiv mit dem Begriff der Macht. Wenn eine Weltwirtschaftsplanung effektiv sein soll, so müssen supranationale Machtsysteme aufgebaut werden, die eine weit höhere Konzentration der technischen und wirtschaftlichen Macht erlauben, als sie im Rahmen des gegenwärtigen Staatensystems erreicht werden kann.

3.  Der Begriff der Macht ist ebenso vieldeutig wie der Begriff der Politik. Seine Bedeutung ändert sich mit dem Wandel der politischen Strukturen und mit dem Wandel der Herrschaftssysteme. Unsere überkommenen Vorstellungen vom Wesen der Macht orientieren sich an ihren sichtbarsten Instrumenten: dem Militär, der Polizei, dem Kapital und dem Staat in seiner bisherigen Gestalt. Die Macht des Gedankens, die Macht der Erkenntnis und die Macht der Wahrheit hat die politische Theorie bisher noch kaum untersucht. 

Das gleiche gilt von der Macht der Wissenschaft und der Macht der Technik. Schon heute üben technische Systeme durch ihre Eigengesetzlichkeit eine Macht aus, die unvergleichlich viel stärker ist als die Macht der Menschen, die sich einbilden, diese Systeme zu beherrschen. Die impliziten Machtstrukturen der Wissenschaft und der Technik bedürfen aber noch der Analyse. Bisher hat sich die Wissenschaft gehütet, ihre eigenen politischen Konsequenzen zum Gegenstand der Forschung zu machen; die wissenschaftliche Revolution wurde zwar von Menschen vollbracht, aber sie wird von der politischen Theorie wie ein Naturereignis behandelt. 


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Deswegen vermögen wir diese neue Weltmacht weder geistig noch politisch zu kontrollieren. Sie entfaltet sich irrational und ungesteuert. Wenn die Politik der Zukunft die Aufgabe hat, ökonomisch die vier großen Weltprobleme zu bewältigen, so muß sie für den ganzen Planeten jenes Werk der Rationalisierung vollbringen, das im territorialen Rahmen der neuzeitliche Staat des 18. und 19. Jahrhunderts geleistet hat. Diese Rationalisierungsaufgabe ist nur zu lösen, wenn sich politische Vernunft und wissenschaftlich-technische Rationalität durchdringen. 

Daraus entsteht dann eine neue Form der Macht, die sich nicht mehr der primitiven Gewalt, sondern der Instrumente des Denkens bedient. Dem werden die neuen Herrschaftssysteme entsprechen; ihr Symbol ist nicht das präsentierte Gewehr, sondern das Elektronengehirn. Darin tritt, wie in allen Machtsymbolen, zugleich die Fragwürdigkeit dieser Macht zutage. Das Problem, wie diese neuen Gestalten der Macht kontrolliert werden können, wird sich als eine der Kernfragen der zukünftigen Weltpolitik herausstellen. Jedenfalls kann sich die Entwicklung der neuen Weltpolitik und Weltökonomie nur parallel zur Ausbildung neuer Formen des internationalen Rechts vollziehen.

Nachdem wir versucht haben, uns klarzumachen, daß es einer ganz neuen Form von politischen Systemen bedarf, um die Weltökonomie zu rationalisieren, wird erst sichtbar, auf welchen Bedeutungswandel des Begriffes »Politik« wir uns einzustellen haben. Die sinnlich nicht mehr greifbare, an keinen Ort gebundene, lautlose, aber alles durchdringende Macht von supranationalen Rationalisierungsinstanzen läßt sich in den überlieferten Kategorien unseres politischen Denkens nicht mehr erfassen. Die Sprache ihrer Programmierungen und Analysen ist eine mathematisierte Fachsprache; man kann die politischen Entscheidungen, die hier getroffen werden, nicht mehr in die Sprache der Regierungen und Parlamente oder in die Sprache der Massenmedien übersetzen. 


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Die Politik wird in der zukünftigen Welt eine Stufe der Abstraktion erreichen, auf der sie sich mit der Atomphysik durchaus vergleichen läßt. Man wird die komplizierte Mathematik, deren sich die moderne Ökonomie bedient, beherrschen müssen, wenn man verstehen will, was in der Welt politisch vorgeht. Auch hier sind wir gezwungen, uns dem Gebot der zu lösenden Aufgaben zu unterwerfen; denn ohne das wissenschaftliche Instrumentarium der technischen Welt sind die Probleme dieser Zivilisation nicht zu bewältigen. Damit ergibt sich aber ein neues Kriterium für die Funktionsfähigkeit politischer Systeme. Die Regierungen und Parlamente, die wir heute haben, können nur in dem Bereich Kompetenzen ausüben, der nicht durch übergeordnete Weltinteressen festgelegt ist und sich mit den Mitteln des gesunden Menschenverstandes beherrschen läßt. Das sind schon heute nicht mehr die relevanten Probleme. Deshalb sinken die bisherigen Staaten zwangsläufig auf ein politisches Niveau ab, das sich zu den wirklichen Zentren der Weltpolitik verhält wie der Landkreis zur Staatsregierung. Sie werden dadurch nicht weniger wichtig; aber sie verändern ihre Funktion. Sie erhalten einen neuen Spielraum der Autonomie; aber diese Autonomie hat eine andere Struktur als die klassische Souveränität.

Was sind die neuen Funktionen, die das überlieferte Staatensystem in der technischen Welt zu erfüllen hat? 

Die sogenannte »große Politik«, also die Außenpolitik und die Verteidigungspolitik, wird, soweit sie nicht überhaupt verschwindet, an supranationale Institutionen delegiert werden müssen. Auch die Strategie der internationalen Wirtschaftspolitik wird von supranationalen Organisationen übernommen werden. Der Staat wird neben der Wahrnehmung seiner klassischen Verwaltungsfunktionen alle Kräfte auf die Infrastrukturpolitik, einschließlich der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, und auf die Sozialpolitik konzentrieren müssen. Daneben tritt aber eine neue Aufgabe, zu deren Lösung uns die Institutionen noch fehlen, nämlich die Aufgabe, in demokratischen Formen die Masse der Staatsbürger zum Verständnis der großen Weltprobleme anzuleiten, in ihnen ein internationales Bewußtsein zu wecken und jene gewaltigen geistigen und moralischen Energien freizusetzen, deren die Welt heute bedarf. Wir stoßen damit auf einen Kreis von Problemen, die wir bisher übergangen haben und über die noch einiges zu sagen ist.


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Die Dynamik der gesellschaftlichen Prozesse, der Machtverschiebungen und der politischen Explosionen gehorcht einer Physik, die noch weithin unbekannt ist. Es ist nicht möglich, diese Physik monokausal auf ökonomische Prozesse oder auf die Konkurrenz der Herrschaftssysteme oder auf die Spannungen und Antinomien der gesellschaftlichen und politischen Strukturen zurückzuführen. Eine Fülle von teils bekannten, teils unbekannten Faktoren wirkt ineinander und produziert fortwährend Phänomene, die unberechenbar und schwer zu deuten sind und die das Gesicht der Welt verändern. Am schwersten zu berechnen sind die Prozesse des Bewußtseins. Aber das Bewußtsein der Menschen ist bei der Gestaltung der Politik ein dominierender Faktor, und jede Rationalisierung der Politik wird mit einer Analyse der Kräfte einsetzen müssen, die das gesellschaftliche Bewußtsein bestimmen. Auch hier haben Wissenschaft und Technik vor allem durch das Medium der Massenkommunikationsmittel eine neue Situation geschaffen, die sich am eindrucksvollsten in den Entwicklungsländern darstellt.

Die Agrarbevölkerung der Entwicklungsländer lebt zwar faktisch, wie wir gesehen haben, noch unter den Bedingungen der jüngeren Steinzeit; aber die Kommunikations­mittel haben dafür gesorgt, daß ihr die Lebensverhältnisse der hochzivilisierten Länder durch Bild und Wort bekannt sind. Darüber hinaus hat die räumliche Mobilität, die durch die Verkehrstechnik ermöglicht wurde, zur Folge gehabt, daß die verschiedenen Kulturzonen sich rapide durchdringen. Die Menschen leben dank der Kommunikationssysteme faktisch in einer einzigen Welt, aus der sich sogar China nicht ausschließen kann. Das hat vor allem in den Entwicklungsländern zu einer Revolution des Bewußtseins geführt, die man als »Revolution der steigenden Erwartungen« bezeichnet hat. 


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Die ungeheuren Unterschiede zwischen den armen und den reichen Ländern sind den hungernden Völkern bekannt, und sie sind nicht länger bereit, diese Unterschiede hinzunehmen, sondern fordern ihren Anteil am Reichtum der Welt. In den zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht nur die Entwicklungsländer, sondern auch die Industrieländer in der Illusion befangen, daß es möglich wäre, die Kluft zwischen den armen und den reichen Völkern relativ schnell zu überbrücken. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten. Die reichen Länder sind immer reicher, die armen Länder sind immer ärmer geworden. Das erklärt sich auf seiten der armen Länder durch die Bevölkerungsvermehrung, durch Mißwirtschaft, durch das Fehlen der Infrastruktur und eines leistungsfähigen Bildungswesens und durch die Unfähigkeit der jungen Staaten, ihre Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. 

Das Wirtschaftsgebaren der reichen Länder hat die Entwicklungsnöte der armen Länder verschärft. Die reichen Länder waren nämlich ebenso unfähig, die Weltaufgaben zu begreifen und politisch und wirtschaftlich zu lösen. Sie haben die Industrialisierung der Entwicklungsländer durch Schutzzölle gehemmt, haben nicht Lehrer geschickt, sondern Waffen geliefert und haben reaktionäre Machthaber gestützt, wo es nötig gewesen wäre, eine politische Reform zu erzwingen. Dabei hat die Verschiedenheit der Wirtschaftsverfassungen eine erstaunlich geringe Rolle gespielt; auch die sozialistischen Länder bedienen sich, soweit sie zu den reichen Ländern gehören, ohne jeden Skrupel des altvertrauten Instrumentariums imperialistischer Machtpolitik.

Aber die Aspirationen der hungernden Völker werden durch das wachsende Elend nicht erstickt. Sie bilden einen Zündstoff, der durch den kleinsten Funken zur Explosion gebracht werden kann. Die sogenannte »Revolution der steigenden Erwartungen« ist nicht mehr aufzuhalten, und einen Wandel des Bewußtseins kann man nicht mit Waffengewalt bekämpfen. Die Erwartungen sind legitim; sie sind außerdem eine unentbehrliche Triebkraft der Modernisierung. 


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Es ist eine Forderung der schlichten Vernunft, daß sämtliche Hilfsmittel der Industriestaaten mobilisiert werden, um die Not der Entwicklungsländer zu überwinden. Die Vernunft kann man nicht polizeilich verbieten, man kann sie auch nicht militärisch niederkämpfen; man kann ihre legitimen Forderungen nur dadurch zum Schweigen bringen, daß man sie erfüllt.

Bei der Analyse des Welternährungsproblems sind wir zu dem Resultat gelangt, daß die Modernisierung der Agrarwirtschaft der Entwicklungsländer einen gewaltigen Bewußtseinswandel der agrarischen Bevölkerung voraussetzt. Dieser Bewußtseinswandel vollzieht sich im Aufbruch der neuen Aspirationen der hungernden Völker. Hier werden die Energien mobilisiert, die nötig sind, um das ungeheure Werk der Umgestaltung der Erde in den Entwicklungsländern selbst zu vollbringen. Wenn die Industriestaaten die politische Vernunft besitzen, sich mit den vorwärtsdrängenden Kräften in den Entwicklungsländern zu verbünden und ihnen die Unterstützung zu geben, die sie brauchen, könnte der Wall von Vorurteilen und überholten gesellschaftlichen und politischen Strukturen durchbrochen werden, der bisher jeder vernunftgemäßen Ordnung der technischen Welt entgegensteht. 

Verharren hingegen die hochentwickelten Staaten bei der Methode, mit der linken Hand die wissenschaftlich-technische Revolution zu betreiben und mit der rechten den politischen und gesellschaftlichen Fortschritt zu unterdrücken, so bereiten sie sich selbst den Untergang. Sie scheitern dann an ihrer eigenen Unfähigkeit, sich inmitten der wissenschaftlichen Welt rational zu verhalten.

Die Hoffnung, daß sich politische und ökonomische Vernunft in den hochentwickelten Staaten durchsetzt, ist gering. Ihre politische Mentalität ist in West und Ost durch ein rapides Ansteigen irrationaler Tendenzen charakterisiert, die sich nur noch in den Kategorien der Psychopathologie beschreiben lassen. Ob man verhungert, weil man heilige Kühe füttert, oder ob man seinen Wasserbedarf nicht decken kann, weil man den Ehrgeiz hat, auf den Mond zu fahren, macht nur einen geringen Unterschied. 


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Es ist ein Wahnsinn, Hunderte von Milliarden in den Aufbau nuklearer Verteidigungssysteme zu investieren, wenn man weiß, daß die Anwendung dieser Waffen Angreifer wie Angegriffene vernichten würde, und daß sich mit denselben Mitteln alle rational vertretbaren Motive bewaffneter Konflikte aus der Welt schaffen ließen. 

Es ist eine Beleidigung der Vernunft, ein Subventionssystem aufrecht zu erhalten, das uns veranlaßt, auf der einen Seite des Mittelmeeres in »Butterbergen« zu ersticken, während auf der anderen Seite des Mittelmeeres die Hungerkatastrophe ihren Gang nimmt. Ob man im Ostblock Fortschritt predigt und die Freiheit unterdrückt, oder ob man im Westen technische Luftschlösser baut, aber für Universitäten und Schulen kein Geld hat — überall zeigt sich die gleiche Unfähigkeit, den politischen und gesellschaftlichen Problemen der technischen Welt mit Vernunft und Nüchternheit zu begegnen.

Auch der Widerstand gegen die Unvernunft verfängt sich in den Mechanismen der Vernunftlosigkeit und äußert sich in irrationalen Formen. Die rebellierende studentische Jugend schreitet im Namen der kritischen Analyse zu terroristischen Methoden und zur Gewalt; sie gibt damit den regressiven Tendenzen, die ohnehin im Vordringen sind, neue Impulse, weil sie selbst inmitten der technischen Welt der Regression verfallen ist.

Was sind die Ursachen für die seelische und geistige Erkrankung, die sich in den industrialisierten Gesellschaften so offen manifestiert? 

Die Analyse, so meine ich, stößt in der tiefsten Schicht auf den fundamentalen Widerspruch zwischen den archaischen Grundformen unserer politischen Ordnungen und den Machtmitteln der hochentwickelten Technik. Es ist ein rational nicht zu vertretender Zustand, daß einem Nationalstaat die Verfügungs­gewalt über interkontinentale Waffensysteme und über eine weltbeherrschende Wirtschaftsmacht anvertraut ist. 

Wenn nationaler Egoismus über planetarische Machtmittel verfügt, kann, allem Idealismus zum Trotz, kein anderer Zustand resultieren, als daß die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden. 

Da aber die Vernunft diese Erkenntnis nicht erträgt, flüchtet sie sich in die Desintegration des Bewußtseins und in die Verdrängung. Sie ist dann nicht mehr fähig, die Realitäten zu erkennen, weil sie sich gegen Tatbestände abschirmen muß, die sie moralisch nicht ertragen würde. Der Wissenschaftler flüchtet in das Spezialistentum, der Politiker in die sogenannte »Realpolitik«, der Träumer flüchtet in den Terror, das öffentliche Bewußtsein in die Konsumkultur.

Werden die armen Völker vom Hunger bedroht, so sind die reichen Völker durch kollektive seelische und geistige Erkrankungen nicht minder gefährdet. Die Therapie der Gesellschaft wird immer mehr zu einem Kernproblem der Politik. Die Not ist stets ein guter Arzt gewesen; es könnte sein, daß uns die Konfrontation mit den großen Weltproblemen die Heilung bringt, zu der wir aus eigener Kraft ganz offensichtlich nicht mehr fähig sind.

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Georg (Schorsch) Picht  1969  Mut zur Utopie