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7  Wissenschaft und Technologie - 1 

 

 

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Wir stehen auf der Mitte unseres Weges. In den ersten sechs Vorlesungen habe ich versucht, die großen Weltprobleme, die gelöst werden müssen, wenn es überhaupt eine zukünftige Geschichte der Menschheit geben soll, in ihrer ganzen Unausweichlichkeit und Härte darzustellen. Ich mußte von jenen Realitäten der Zukunft sprechen, die wir schon in der Gegenwart berechnen können und denen wir uns heute schon zu fügen haben. 

Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, deutlich zu machen, daß es sich hier nicht um vage Möglichkeiten, sondern um feste Realitäten der Welt handelt, auf die wir uns einrichten müssen; die Politik muß sie schon heute einkalkulieren. Wenn aber der kurzsichtige Opportunismus der Regierungen und der Wähler auch weiterhin den Entscheidungen ausweicht, die geboten sind, so tragen wir selbst an den furchtbaren Folgen der Welt­hungersnot und des zu erwartenden Welt­bürger­krieges die Schuld.

In der zweiten Hälfte der Vorlesungsreihe soll von den geistigen, moralischen und religiösen Kräften die Rede sein, mit deren Hilfe es der Menschheit - wie wir hoffen müssen - gelingen wird, die großen Weltprobleme zu lösen. Es gibt nur eine einzige Macht, die es vollbringen könnte, die materielle Existenz der Menschheit zu sichern, nämlich die Macht der Vernunft. 

Sie bedarf dazu der Wissenschaft. Deshalb werde ich in der siebten bis neunten Vorlesung von Wissenschaft und Technologie, ihren Voraussetzungen, Grenzen und Zielen sowie ihren Möglichkeiten und Gefahren und von der weltpolitischen Bedeutung der Wissenschaftsplanung sprechen. 

Vernunftgemäßes Denken und Handeln ist aber nur unter bestimmten gesellschaftlichen und moralischen Bedingungen möglich; deshalb sollen in der zehnten und elften Vorlesung die Situation der Gesellschaft in der technischen Welt und die vorauszusehende Verwandlung der Weltreligionen und Ideologien dargestellt werden. War in der ersten Hälfte der Vorlesungsreihe von den Realitäten der künftigen Welt die Rede, so wird in der zweiten Hälfte vom Bewußtsein der Menschen zu sprechen sein. 

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Alle Geschichte resultiert aus der Einstellung des menschlichen Bewußtseins zu gegebenen Realitäten. Die nächsten fünfzig Jahre werden uns mit Realitäten konfrontieren, die in der bisherigen Geschichte ohne Beispiel sind. Eine zukünftige Geschichte der Menschheit wird es nur geben, wenn unser Bewußtsein auch diesen neuen Realitäten gewachsen ist. Wer von der Zukunft redet, muß deshalb versuchen, den Horizont und die Dimensionen eines möglichen zukünftigen Bewußtseins zu antizipieren. Er antizipiert damit eine neue Gestalt der Menschlichkeit des Menschen in der Geschichte. 

Die Humanität ist aber in der Welt, in der wir leben, so bedroht, daß wir den Satz: das Menschengeschlecht müsse erhalten werden, nicht mehr als ein Axiom betrachten können, an dessen Gültigkeit nicht gerüttelt werden darf. Deshalb wird in der letzten Vorlesung die Frage nach dem Sinn und der inneren Möglichkeit der Humanität in der einzigen Form, in der sie zulässig ist, nämlich in der Form der Selbstkritik, gestellt werden müssen. Erst so wird dann die Dimension erreicht, innerhalb derer es erlaubt ist, nach der Zukunft des Menschen überhaupt zu fragen.

Der Übergang von den harten Realitäten zu dem Bewußtsein der Menschen, die diese Realitäten zu meistern haben, fordert von uns auch methodisch eine höhere Stufe der Reflexion. Die Tatsachen des Welt­bevölkerungs­zuwachses, des Weltwassermangels und der Lücken in der Weltenergieversorgung lassen sich kalkulieren. Die Konsequenzen, die wir daraus abgeleitet haben, konnten in ihren großen Umrissen durch einfache und zwingende Schlüsse begründet werden. 

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Ich habe mich bemüht, die Methode des Vorgehens Schritt für Schritt klarzulegen und keine Folgerungen zu ziehen, deren Prämissen nicht durchsichtig waren. Wir bewegten uns also in den bisherigen Vorlesungen auf dem Feld der Prognose und der möglichen Planung. Das Bewußtsein der Menschen hingegen läßt sich nicht kalkulieren, obgleich es von Realitäten und Strukturen abhängig ist, die sich sehr wohl berechnen lassen. Der unkalkulierbare Faktor des Bewußtseins bezieht sich auf die Zukunft in den drei Grundformen des Wünschens, des Hoffens und des Wollens. Diese drei positiven Formen, die Zukunft im Bewußtsein zu antizipieren, liegen im Kampf mit der beständigen Versuchung, der Zukunft auszuweichen, sie zu fliehen oder sie zu negieren. 

Die Zukunft macht dem Menschen Angst. Die Angst wird aber falsch verstanden, wenn wir sie nur als negative Macht auffassen, denn erst die Angst öffnet uns für die Zukunft die Augen; ohne sie wären wir stumpf, bewußtlos und in das Gefängnis unserer Triebe eingeschlossen; wir wären nicht Menschen. Durch die Angst wird unser Geist für die Zukunft geöffnet. Aber wir sollen die Angst überwinden. Wenn wir durch sie hindurchgehen und sie hinter uns lassen, entspringen jene geistigen Entwürfe, in denen wir unsere Zukunft gestalten.

Ich bezeichne die Bilder, die unser Wünschen, Hoffen und Wollen von der Zukunft entwirft, als Utopien, unterscheide aber drei Formen der Utopie. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch versteht man unter Utopien Traumbilder einer unwirklichen Welt, also die Projektionen der bewußtlosen Wünsche, der blinden Hoffnungen und des irrationalen Wollens. Daneben gibt es eine Form von literarischen Utopien, die im Spiegel erdichteter Welten gewisse Zustände oder Möglichkeiten der gegenwärtigen Welt, in der wir leben, erkennen lassen und kritisch reflektieren. Man könnte sie im Unterschied zu den erträumten Utopien als kritische Utopien bezeichnen. Von beiden Formen des utopischen Denkens unterscheide ich den Entwurf von Bildern jener Zustände, die durch zielbewußtes Handeln herbeigeführt werden können.


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Im Gegensatz zu jenen Gebilden, die wir sonst Utopien zu nennen pflegen, ist diese Form der Antizipation von Zukunft auf den Bereich der realen Möglich­keiten eingeschränkt. Ich nenne sie die aufgeklärte Utopie. Schon in der ersten Vorlesung habe ich die These begründet, daß die Menschheit durch die wissenschaftliche Revolution in die Zwangslage versetzt worden ist, ihre eigene Zukunft produzieren zu müssen. Produktion ist nur möglich, wenn man zuvor entworfen hat, was produziert werden soll. Die künstliche Welt, die wir errichten müssen, um der zukünftigen Menschheit ihre Existenzgrundlage zu sichern, muß heute schon im Grundriß entworfen werden; sonst kann ihr Aufbau nicht gelingen. Ein solcher Entwurf des Grundrisses der zukünftigen Welt ist dann eine aufgeklärte Utopie, wenn er den Realitäten gerecht wird, die sich mit den Methoden der rationalen Prognose ermitteln lassen, und wenn er die realen Voraussetzungen politischer Planung nicht ignoriert. 

Sind diese beiden Kriterien aber erfüllt, so läßt sich positiv sagen, daß ohne eine aufgeklärte Utopie, d. h. ohne ein klares Bild von der Zukunft, die unser Denken und Handeln herbeiführen soll, die technische Welt überhaupt nicht bestehen kann. Eine der wichtigsten Konsequenzen der wissenschaftlichen Revolution liegt darin, daß sie uns in einen Weltzustand versetzt hat, in dem die aufgeklärte Utopie und die durch sie erst ermöglichte rationale Planung für die gesamte Menschheit zur Existenzbedingung geworden ist. Es steht uns nicht frei, uns je nach Belieben für oder gegen utopisches Denken zu entscheiden. Wir sind zur Utopie gezwungen. Aber es gibt einen unheimlichen Spielraum zwischen der blinden und der aufgeklärten Utopie; in diesem Spielraum wird die Freiheit des Menschen und damit seine ganze Zukunft auf die Probe gestellt.

Wie sollen wir nun Kriterien gewinnen, nach denen sich entscheiden läßt, ob wir der blinden Utopie verfallen sind oder die Bahn der aufgeklärten Utopie gefunden haben? 


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In der ersten Hälfte dieser Vorlesungsreihe konnten wir einige ebenso einfache wie evidente Sätze formulieren, die allen Überlegungen als methodische Grundlage dienten. Wir stellten fest, daß man von der Zukunft des Menschengeschlechtes nur sprechen kann, wenn seine Erhaltung gesichert ist, und haben dann die Bedingungen untersucht, die unter allen Umständen erfüllt werden müssen, wenn die Menschheit nicht in einer Serie von furchtbaren Katastrophen zugrunde gehen soll. Wenn wir jetzt in den Bereich der aufgeklärten Utopie übertreten, behalten diese Sätze ihr volles Gewicht, aber sie gewinnen auf dieser neuen Stufe der Reflexion eine andere Bedeutung: sie sagen nicht positiv, was sein soll, sondern stellen negativ fest, was nicht sein kann. 

Jeder Wunsch, jeder Plan, jede Hoffnung, jeder Vorsatz und jeder Gedanke, der diesen Sätzen und den daraus abzuleitenden Konsequenzen widerspricht, ist falsch. Aber diese Feststellung genügt noch nicht, um uns für den Entwurf der aufgeklärten Utopie eines zukünftigen Weltzustandes als Leitfaden zu dienen. Es stellt sich deshalb die Frage: gibt es einen obersten Grundsatz, aus dem sich positiv die Struktur aller überhaupt zulässigen Zielsetzungen menschlichen Denkens und Handelns ableiten läßt? Gibt es einen obersten Grundsatz der aufgeklärten Utopie? 

Ich behaupte: es gibt einen solchen obersten Grundsatz, und ich will versuchen, ihn aufzustellen. 

Wir sagten schon: die menschliche Geschichte resultiert aus der Einstellung des menschlichen Bewußtseins zu vorgegebenen Realitäten. Die aufgeklärte Utopie muß der negativen Bedingung genügen, daß sie die vorgegebenen Realitäten so erkennt und in Rechnung stellt, wie sie wirklich sind. Der positive Entwurf der Utopie ist eine Leistung der Vernunft, die, von der produktiven Einbildungskraft geleitet, den Spielraum der Möglichkeiten entwirft, innerhalb dessen die menschliche Gesellschaft im Rahmen dieser Realitäten ihr zukünftiges Leben einrichten kann. Alle positiven Möglichkeiten der zukünftigen Geschichte entspringen aus der Bewältigung von vorgegebenen Realitäten durch die Vernunft des Menschen. Nur die Vernunft vermag eine Welt zu produzieren, in der die äußere Existenz der Menschheit gesichert ist. 


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Also muß diesekünftige Welt so konstruiert sein, daß sich Vernunft in ihr entfalten kann. Damit haben wir den Grundsatz gewonnen, den wir suchten. Er heißt: eine zukünftige Geschichte der Menschheit wird es nur geben, wenn es gelingt, einen Weltzustand herbeizuführen, in dem vernunftgemäßes Denken und Handeln möglich ist und sich durchsetzen kann. Auch dieser Satz ist in sich evident. Jede Zielsetzung, jede Planung, jedes politische Handeln und jedes Denken, das diesem Satz widerspricht, ist falsch.

Nun setzt Vernunft in allen ihren Gestalten notwendig immer Freiheit voraus. Nicht jede Form der Freiheit ist vernunftgemäß, aber jede Gestalt der Vernunft geht aus Freiheit hervor. Da aber die Lösung der großen Weltprobleme in den Bereichen der Politik, der Ökonomie, der Organisation der Gesellschaft, der Technik und der Wissenschaft ein Maß von vernünftigem Handeln voraussetzt, das alle Anforderungen, die in der bisherigen Geschichte an die Vernunft der Menschen gestellt worden sind, weit hinter sich läßt, so erweist sich die Realisierung von Vernunft als die zentrale Aufgabe der zukünftigen Geschichte der Menschheit. Haben wir in den bisherigen Vorlesungen die Frage gestellt, was nötig ist, um den äußeren Bestand der Menschheit zu sichern, so werden wir in der zweiten Hälfte dieser Vorlesungsreihe fragen müssen, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Formen in der gegenwärtigen und in der zukünftigen Welt vernunftgemäßes Denken und Handeln möglich sind.

Was haben wir aus dieser Überlegung für das Verständnis der modernen Wissenschaft und Technologie und ihrer Zukunftsmöglichkeiten gewonnen? Beim Studium der in großer Zahl erschienenen Bücher, in denen man sich über den gegenwärtigen Stand der Wissenschaften und die von ihnen ins Auge gefaßten zukünftigen Entwicklungen orientieren kann, gewinnt man ein faszinierendes Bild von der unübersehbaren Fülle der Möglichkeiten, die menschlichem Denken und Handeln heute erschlossen sind. Die Expansion der Wissenschaften scheint keine Grenzen zu kennen und respektiert keine Grenzen.


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Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit gewinnt die Rede von den unbegrenzten Möglichkeiten einen Sinn, der sich ausweisen läßt. Untersucht man die Denkstruktur der heutigen Wissenschaften, so ist das vielleicht wichtigste gemeinsame Merkmal die Grundüberzeugung, daß der Mensch alles, was er machen kann, auch machen soll. In dieser Überzeugung manifestiert sich ein Strukturwandel, der sämtliche Wissenschaften ergriffen hat und den man am deutlichsten daran erkennt, daß es heute nicht mehr möglich ist, reine Wissenschaft und Technologie voneinander zu trennen. Man kann bei der Analyse des Prozesses der heutigen Wissenschaft die Frage »Was kann ich wissen?« von der Frage »Was kann ich machen?« nicht mehr unterscheiden; denn jedes Machen wird die Quelle neuen Wissens, und jedes Wissen die Quelle neuen Machens. 

Schon immer war die europäische Wissenschaft von dem in seiner tiefsten Wurzel religiösen Glauben getragen, daß die Menschheit in der Erkenntnis der Wahrheit ihre Bestimmung erfüllt, und daß deshalb alle übrigen Kräfte, Möglichkeiten und Mittel der Menschen in den Dienst dieses großen Zieles gestellt werden müßten. Im 20. Jahrhundert ergießt sich aber nun das ganze Pathos dieses Glaubens in die Erschließung der unbegrenzten Möglichkeiten der Technologie. Daraus erklärt sich, daß die große Mehrzahl vor allem der Naturwissenschaftler auf jeden Zweifel an dem Satz, daß man alles machen soll, was man machen kann, wie Gläubige auf eine Gotteslästerung reagieren

Denn durch diesen Zweifel wird wegen der Verflechtung von Wissenschaft und Technologie zugleich in Frage gestellt, daß der Mensch alles wissen soll, was er wissen kann. Für die erdrückende Majorität der Wissenschaftler, von deren Arbeit das Schicksal der Welt abhängt, ist die Utopie, von der ihr Handeln bestimmt wird, der Traum von einer zukünftigen Welt, in der sämtliche Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Produktion, die sich heute abzeichnen, ausgeschöpft werden, um neues Wissen zu erschließen, das noch unermeßlichere Möglichkeiten der technischen Realisierung eröffnet.


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Ihre volle Brisanz erhält diese Utopie aber erst durch die Verbindung mit einer zweiten Struktureigentümlichkeit aller modernen Wissenschaft, nämlich der Spezialisierung. Es ist eine unerlaubte und verlogene Trivialität, das Spezialistentum zu beklagen, denn die heutige Welt lebt von Errungenschaften, die nur durch hochgradige Spezialisierung möglich wurden. Nicht nur die Wissenschaft selbst, sondern auch alle anderen Bereiche einer Welt, die den Strukturen von Wissenschaft und Technik unterworfen ist, können nur noch durch Spezialisten in Gang gehalten und verwaltet werden. 

Der Spezialist ist, wie schon Goethe erkannt hat, der repräsentative Bildungstyp der bürgerlichen Maschinenwelt. Aber für die Denkweise des Spezialisten ist konstitutiv, daß er sich darin geschult hat, alle jene Momente des Wirklichen auszublenden, welche die reine Versuchsanordnung, der er seine Erkenntnisse verdankt, durchkreuzen könnten. Nur wo es gelingt, alles, was »nicht dazugehört«, als störende Faktoren zu eliminieren, gewinnt man Erkenntnisse, die nachprüfbar sind. Man nennt diese Erkenntnisse objektiv. Die Objektivität der modernen Wissenschaft ist geradezu dadurch definiert, daß sie der Wirklichkeit nicht entspricht, sondern auf solche Erkenntnisse eingeschränkt ist, die sich nur durch eine eindeutig zu kontrollierende Versuchsanordnung gewinnen lassen. Deshalb gehört die genaue Beschreibung der Versuchsanordnung, wie die Quantenphysik uns gelehrt hat, als integrierender Bestandteil zur Definition der durch sie gewonnenen Erkenntnisse.

Diese Struktur des objektivierenden Denkens hat aber außerordentliche Konsequenzen, wenn sich die Wissenschaft durch das Medium der Technik der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit bemächtigt. Man nennt diesen Vorgang »Rationalisierung«. Hier wird nicht nur der wissenschaftliche Versuch, sondern auch der industrielle Betrieb, die Verwaltung, ja die Gesellschaft im ganzen so konstruiert, daß reine Versuchsbedingungen gegeben sind, die sich einer absoluten Kontrolle unterwerfen lassen. Das ist die Voraussetzung für die Anwendbarkeit der objektiven Wissenschaft auf die reale Welt.


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Je vollkommener es gelingt, alle Momente des Wirklichen, die sich nach diesem Verfahren nicht erfassen lassen, zu eliminieren, desto höher ist der erreichte Grad der Rationalisierung. Hier wird also jenes Verfahren, das die moderne Spezialwissenschaft zur Gewinnung spezialisierter Kenntnisse entwickelt hat, der Welt als universales Gesetz oktroyiert; und dadurch entstehen erst jene gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen, welche die Welt des 20. Jahrhunderts immer mehr in eine von der Wissenschaft geprägte Welt verwandeln.

Die reale Gestalt der Utopie, die uns, teils ausgesprochen, teils verhüllt, in den meisten wissenschaftlichen Zukunftsprognosen gegenübertritt, kommt erst ans Licht, wenn man die beiden Triebkräfte, von denen die moderne Wissenschaft beherrscht ist — den Trieb, alles zu machen, was man machen kann, und den Trieb zur totalen Rationalisierung —, in ihren vielfältigen Kombinationen betrachtet. Die Utopie, aus der die moderne Wissenschaft ihre Impulse bezieht, ist das Bild einer total rationalisierten Welt, in der eine schrankenlose Technologie der Wissenschaft alles zu machen erlaubt, was sie machen kann. Ist diese Utopie im oben definierten Sinne eine aufgeklärte Utopie? Vermag sie die äußere Existenz der Menschheit zu sichern? Und macht sie vernunftgemäßes Handeln und Denken möglich?

Vernunftgemäß ist ein Handeln dann, wenn es seine eigenen Voraussetzungen kennt, seine eigenen Konsequenzen übersieht und sich über die Motivationen seiner eigenen Zielsetzungen aufgeklärt hat. Die Struktur der modernen, objektiven Wissenschaften schließt eine solche Reflexion, durch die sie erst zur Vernunft kommen würden, methodisch aus. Die Wissenschaften reflektieren zwar in gewissem Umfang noch auf ihre theoretischen Voraussetzungen, aber sie reflektieren nicht darauf, daß die politischen, die gesellschaftlichen und nicht zuletzt die ökonomischen Voraussetzungen moderner Wissenschaft ein integrierender Bestandteil jener Versuchsanordnung sind, die zur Definition ihrer Erkenntnisse hinzugehört. 


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Die Reflexion auf die möglichen Konsequenzen wissenschaftlicher Erkenntnis ist verpönt. Die Wissenschaft hat noch nicht erkannt, daß ihre Erkenntnis unvollständig ist, solange nicht mit jeder Entdeckung eine wissenschaftliche Erforschung der möglichen Auswirkungen dieser Entdeckung verbunden wird.

Die größten Widerstände aber setzt die objektive Wissenschaft einer Aufklärung über die Motivationen ihrer eigenen Zielsetzungen entgegen. Der ehrwürdige und — wenn man ihn recht versteht — unaufhebbare Satz, daß der Mensch dazu bestimmt ist, die Wahrheit um ihrer selbst willen zu erforschen, wird als Basis für eine Ideologie mißbraucht, die dazu dienen soll, die wirklichen Motivationen vieler Zweige der wissenschaftlichen Forschung zu tarnen. Man braucht sich nur die Forschungsetats der großen Industrienationen anzusehen, um festzustellen, welche Motivationen die wissenschaftliche Forschung faktisch bestimmen. Der weitaus größte Teil der aufgewendeten Mittel dient militärischen Zwecken.

Hier kann man auch die Weltraumforschung einbeziehen, die primär aus militärischen Gründen ihre Prioritätsstellung erlangen konnte. Ein weiterer großer Teil der Forschung dient industriellen Zielsetzungen. Dabei darf nicht nur die Industrieforschung im engeren Sinne in Betracht gezogen werden, denn auch die Forschung staatlicher Institute ist in wachsendem Umfang industrielle Auftragsforschung. Daneben tritt zunehmend und in schwer zu durchschauender Verflechtung mit der industriellen Auftragsforschung eine staatliche Auftragsforschung auf den verschiedensten Gebieten.

Man kann die Motivationen der Wissenschaft mit den Motivationen ihrer Auftraggeber nicht kurzschlüssig identifizieren. Der Prozeß der Übertragung der Motive des Auftraggebers in die Resultate der Forschung ist höchst kompliziert und schwer zu kontrollieren. Aber global betrachtet, gilt doch die einfache Regel, daß man die realen Motivationen der wissenschaftlichen Forschung erkennt, wenn man durchschaut, aus welchen Motiven die Forschung finanziert worden ist. Die Zielsetzungen, denen die Wissenschaft dient, werden in der Regel nicht von ihr selbst, sondern von ihren Auftraggebern bestimmt; und die Auftraggeber finanzieren die Wissenschaft, um mit Hilfe der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung ihre wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen zu stärken.


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Daraus ergibt sich eine sehr weittragende Feststellung: 

Gewiß ist alle Wissenschaft, die überhaupt den Namen verdient, rational. Aber vernunftgemäß ist Wissenschaft nur, wenn sie vernunftgemäßen Zielen dient. Da nun die Zielsetzungen der Wissenschaft den Machtkampf der Auftraggeber widerspiegeln, ist die Wissenschaft insgesamt trotz ihrer formalen Rationalität ebenso vernunftwidrig und damit irrational wie die politischen Mächte, denen sie dient. Formal betrachtet, hat die Wissenschaft im 20. Jahrhundert die Weltherrschaft erlangt, denn die technische Welt ist reproduzierte Wissenschaft. 

Da aber die Wissenschaft noch nicht gelernt hat, auf ihre Voraussetzungen, ihre Konsequenzen und ihre Zielsetzungen zu reflektieren, befindet sie sich zugleich in einer nahezu totalen Abhängigkeit von den auftraggebenden Mächten. Die Rationalität der Wissenschaft potenziert die irrationale Macht der Auftraggeber. Daraus ergibt sich eine tragische Paradoxie, an der die Menschheit zugrunde gehen könnte: der Prozeß der Rationalisierung der Welt hat bisher lediglich dazu gedient, die Irrationalität des Spieles der Macht ins nahezu Unermeßliche zu steigern.

Wir sehen jetzt, weshalb es nötig war, im ersten Teil dieser Vorlesung den Begriff der Utopie zu klären. Es hat sich nämlich nun herausgestellt, daß die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts von einer blinden Utopie in Bann geschlagen ist, weil sie es versäumt hat, ihre eigenen Voraussetzungen, ihre möglichen Konsequenzen und ihre Ziele zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu machen. Die Wissenschaft unserer Zeit hätte die Möglichkeit, uns die Wege zu erschließen, auf denen die großen Weltprobleme gelöst werden können. Durch eine außerordentliche Konzentration von wissenschaftlichem und technischem Sachverstand könnte die Menschheit mit Nahrung, mit Wasser und mit Energie versorgt werden. 

Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wären in der Lage, ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dessen Hilfe die Politiker die ökonomischen Engpässe durchbrechen und die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Aufbau der neuen künstlichen Welt herstellen könnten. Es wäre mit Hilfe der Wissenschaft möglich, einen Weltzustand herbeizuführen, in dem die Zukunft des Menschengeschlechtes gesichert bliebe. Aber die Wissenschaft hat noch nicht die Stufe der Reflexion erreicht, auf der sie ihre neuen Möglichkeiten ergreifen könnte. Sie ist noch nicht zur Aufklärung über sich selbst gelangt. Sie durchschaut noch nicht ihre eigenen Bedingungen und Konsequenzen. Sie ist noch in naiven Vorurteilen befangen und erkennt nicht ihre eigenen Abhängigkeiten. Sie verwechselt Rationalität und Vernunft. Deswegen hat sie noch nicht die Mündigkeit erworben, die ihre neue Machtstellung von ihr fordert. 

Wir sind davon ausgegangen, daß die gesamte Menschheit einen großen Bewußtseinswandel vollziehen muß, wenn sie ihrer Zukunft gewachsen sein soll. Jetzt zeigt sich, daß dieser Bewußtseinswandel mit einem Bewußtseinswandel der Wissenschaft selbst zu beginnen hätte. Alle Ziele und Prognosen der Wissenschaft bleiben fiktiv, solange die Wissenschaft die kritische Reflexion auf ihre eigene Verantwortung versäumt. 

Deswegen müssen wir den Katalog der großen Weltprobleme erweitern. Eines der großen Probleme ist die Frage: Wie kommt die Wissenschaft des 20. Jahr­hunderts zur Vernunft? 

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