9 Die weltpolitische Bedeutung der Wissenschaftsplanung
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In den beiden letzten Vorlesungen haben wir versucht, uns die Struktur und die Bewußtseinslage der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts deutlich zu machen. Insgesamt könnte der Komplex der wissenschaftlichen Institutionen das größte Machtpotential sein, über das die Menschheit je verfügt hat; aber niemand vermag von den Möglichkeiten, die die Wissenschaften uns erschließen könnten, Gebrauch zu machen, denn die moderne Wissenschaft ist nicht organisiert und hat längst selbst den Überblick über ihre eigenen Möglichkeiten verloren. Sie kennt sich selbst nicht und vermag sich nicht zu steuern.
Sie ist auch wissenschaftlich nicht in der Lage, ihre eigene Verantwortung zu durchschauen und entsprechend zu handeln. Die Politik kann diese Steuerung nicht übernehmen, denn man darf von ihr eine Übersicht nicht erwarten, zu der die Wissenschaft selbst nicht fähig ist. Deshalb bleibt es dem Zufall überlassen, welchen Gebrauch die blinden Interessen der Menschen von den ungeheuren Gewalten machen, mit denen die Wissenschaftler experimentieren, ohne nach den Auswirkungen ihres selbstvergessenen Spieles zu fragen.
Wenn wir von den Möglichkeiten der heutigen Forschung einen vernunftgemäßen Gebrauch machen wollen — und davon wird das Schicksal der Menschheit abhängen —, so müssen wir die wissenschaftliche Forschung organisieren und ihren institutionellen Rahmen planen. Da keines der großen Weltprobleme ohne die Hilfe der Wissenschaft gelöst werden kann, und da nur zielbewußte Planung jene gigantischen Projekte in Gang zu setzen vermag, die zur Erhaltung der Menschheit durchgeführt werden müssen, ist die Wissenschaftsplanung eine der vordringlichsten unserer Zukunftsaufgaben.
Sie nimmt unter den großen Weltproblemen, von denen wir gesprochen haben, eine Schlüsselstellung ein, denn von der vernunftgemäßen Planung wissenschaftlicher Forschung hängen alle konstruktiven Möglichkeiten einer zukünftigen Weltpolitik ab. Deswegen ist es nicht übertrieben, von einer weltpolitischen Bedeutung der Wissenschaftsplanung zu sprechen.
Die besonderen Schwierigkeiten der Aufgabe, die hier zu lösen ist, ergeben sich daraus, daß sich in der Wissenschaftsplanung Wissenschaftstheorie und Weltpolitik wechselseitig bedingen und überschneiden. Wir werden also die Dimensionen, in denen sich eine zukünftige Wissenschaftsplanung zu bewegen hätte, nur erkennen, wenn wir die Strukturanalyse der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, die uns in den beiden letzten Vorlesungen beschäftigt hat, mit der Übersicht über die großen Aufgaben der Weltpolitik in Verbindung setzen, die ich in den ersten sechs Vorlesungen zu geben versuchte.
Deswegen ist es nötig, daß wir uns jene Verkettung von Problemen noch einmal in Erinnerung rufen, aus der sich ergibt, daß in der Wissenschaftsplanung der Schlüssel für die mögliche Zukunft des Menschengeschlechtes zu suchen ist. Unsere Ausgangsthese, daß die Menschheit heute zum ersten Male in die Zwangslage versetzt wurde, die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte bewußt zu übernehmen, hat sich durch die Analyse der großen Weltprobleme bestätigt.
Selbst wenn es gelingen sollte, in einer irrationalen und höchst labilen Ordnung der Weltpolitik den Frieden zu erhalten und die Menschheit vor einem Atomkrieg zu bewahren, sind wir von einer Hungerkatastrophe bedroht, die ein solches Ausmaß hat, daß sie auch den Bestand der im Überfluß lebenden Staaten erschüttern könnte.
Der Bedarf der Menschheit an Wasser und Energie kann im Rahmen der bisherigen politischen Organisation der Welt nicht gedeckt werden, und die Tatsache, daß die Substruktur unserer gesamten Wirtschaft und Zivilisation, nämlich die Erziehungssysteme, völlig ungenügend ausgebaut sind, droht jene Expansion der Weltwirtschaft zu blockieren, ohne die wir die riesigen technischen Leistungen, die erforderlich sind, nicht finanzieren können.
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Es gibt keine Ausflucht vor dem grausamen Kalkül, der uns darüber belehrt, daß die Weltentwicklung einem Zusammenbruch unserer gesamten Zivilisation und der Vernichtung von Milliarden von Menschen entgegentreibt, wenn wir sie, wie in der bisherigen Geschichte, der Dynamik irrationaler Kräfte überlassen.
Auf der anderen Seite haben wir gesehen, daß es der Wissenschaft möglich wäre, unter vernunftgemäßem Einsatz aller verfügbaren Mittel die großen Weltprobleme zu lösen und den zukünftigen Bestand der Menschheit zu sichern. Es wäre möglich, die Welt so einzurichten, daß unsere Kinder und Enkel nicht zugrunde gehen.
Eine so unausweichliche Alternative hat es in der bisherigen Geschichte vielleicht für einzelne Staaten oder Gruppen, aber noch niemals für die gesamte Menschheit gegeben. Daß heute zum erstenmal die Existenz der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht, ist eine Auswirkung von Wissenschaft und Technik. Das Problem der Wissenschaftsplanung läßt sich deshalb auch auf die Formel der Frage bringen: Ist es möglich, mit Hilfe einer neuen Wissenschaft, einer Wissenschaft in der zweiten Potenz, die katastrophalen Auswirkungen der bisherigen Wissenschaft zu überwinden?
Nachdem wir in den beiden letzten Vorlesungen die Konstitution und die Bewußtseinslage der Spezialwissenschaften des 20. Jahrhunderts unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten diskutiert haben, sind wir jetzt genötigt, in planungstheoretische Überlegungen einzutreten. Dazu bedarf es zunächst einer Orientierung über gewisse Grundvoraussetzungen jeglicher Planung, die meistens nicht genug bedacht werden. Daß wir überhaupt heute in der Lage sind, das Problem der Planung ernsthaft in Angriff zu nehmen, verdanken wir der erstaunlich raschen Entwicklung jener modernen Planungswissenschaften, ohne die schon heute unsere politischen, wirtschaftlichen und militärischen Großorganisationen nicht mehr funktionsfähig wären.
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Die Planungstechniken wurden bereits auf eine hohe Stufe der Rationalität gebracht; planungstechnisch wären die Planungsprobleme des 20. Jahrhunderts zu lösen. Hingegen ist das funktionale Denken der heutigen Wissenschaft noch nicht imstande gewesen, eine Theorie der Planungs-Ziele zu entwickeln. Auch unsere ökonomische Theorie ist eine Theorie der Produktionsprozesse, nicht der Produkte. Das ist kein Zufall, sondern es ergibt sich aus der Konstitution der Wissenschaft selbst, die, wie wir schon gesehen haben, jede Reflexion auf ihre möglichen Konsequenzen ausschließt und deshalb auch nicht in der Lage sein kann, eine Theorie dieser Konsequenzen auszubilden.
Nicht weniger folgenreich und für unsere Fragestellung noch wichtiger ist der Umstand, daß die Wissenschaft auf ihre eigenen Voraussetzungen nicht reflektiert. Das führt dazu, daß die Planungstheorie das Problem, wie das Subjekt einer möglichen Planung konstituiert sein müßte, weitgehend zu vernachlässigen pflegt. Wir wissen viel darüber, wie geplant werden soll, aber wir wissen wenig darüber, was geplant werden soll, und wir wissen so gut wie nichts darüber, wer überhaupt planen kann und planen soll. Es wird sich herausstellen, daß die Frage, was geplant werden soll, mit der Frage, wer planen kann und soll, untrennbar verknüpft ist. Wenn es gelingt, diesen Zusammenhang durchsichtig zu machen, so werden wir in der Klärung der Probleme der Wissenschaftsplanung und ihrer weltpolitischen Bedeutung einen wichtigen Schritt vollzogen haben.
Wir fragen zunächst, wer die Wissenschaftsplanung, von der die Zukunft der Menschheit abhängen wird, übernehmen kann. In ihrer Gesamtheit bilden die Institute und Laboratorien, an denen die Spezialwissenschaften des 20. Jahrhunderts betrieben werden, wie wir schon festgestellt haben, das größte Machtpotential der bisherigen Geschichte. Die Organisation eines solchen Machtpotentials ist ohne jede Frage eine politische Aufgabe erster Ordnung. Die Politik wäre demnach zur Wissenschaftsplanung berufen und verpflichtet.
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Die Regierungen der Welt hätten den Auftrag, einen institutionellen Rahmen zu schaffen und zu finanzieren, der es den Wissenschaften erlaubt, zur Lösung der großen Weltprobleme ihren Beitrag zu leisten. Um aber einen solchen Rahmen schaffen zu können, müßten sie erstens die Aufgaben kennen, die gelöst werden müssen, und zweitens die Möglichkeiten überschauen, über welche die Wissenschaft in ihren Hunderten von Disziplinen verfügt. Sie müßten außerdem die methodische Struktur jeder dieser Wissenschaften und ihre spezifischen Voraussetzungen so weit übersehen, daß sie die Bedingungen herstellen könnten, die zu ihrer Weiterentwicklung erforderlich sind. Dazu ist keine Regierung in der Lage; denn man braucht dazu wissenschaftlichen Sachverstand. Die Regierungen versuchen, diesen Mangel notdürftig durch ein System von wissenschaftlichen Beiräten auszugleichen.
Die erste Antwort, die wir auf die Frage, wer planen kann, erhalten haben, ist demnach negativ ausgefallen: die politischen Instanzen sollten zwar planen, aber sie können nicht planen. Es ist nun zu prüfen, wie es um den anderen Partner des Dialogs, nämlich die Wissenschaft selbst, bestellt ist. Die Beiräte, von denen sich die Regierungen bei der Wissenschaftsplanung beraten lassen, bestehen aus Vertretern der verschiedenen Spezialwissenschaften. Wir haben aber bereits gesehen, daß die Spezialwissenschaft als solche ihrer methodischen Struktur nach die Übersicht über einen größeren Komplex verschiedener Wissenschaften ausschließt.
Es fehlt jene Wissenschaft in der zweiten Potenz, welche die Wissenschaften, die wir haben, zum Gegenstand ihrer Forschung machen, ihre Voraussetzungen und Konsequenzen untersuchen, ihre methodischen Ansätze zueinander in Beziehung setzen und so die Integration der Wissenschaft vollbringen könnte. Ebenso fehlt eine wissenschaftliche Analyse der Lebensbedingungen unserer Zivilisation, aus der die Ziele der Planung abgeleitet werden könnten. Niemand ist heute in der Lage, die Forschungsprogramme aufzustellen, die zur Lösung der großen Weltprobleme durchgeführt werden müssen. Dieses Vakuum auf Seiten der Wissenschaft kann auch das beste Mitglied eines wissenschaftlichen Beirates durch die private wissenschaftliche Allgemeinbildung, die es erworben haben mag, nicht ausfüllen.
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Mit anderen Worten: auch die Wissenschaft kann in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht als Subjekt der Wissenschaftsplanung fungieren. Auch hier erhalten wir auf die Frage, wer planen kann, eine negative Antwort. Von einer vernunftgemäßen Wissenschaftsplanung hängt unsere gesamte Zukunft ab, aber es gibt heute keine Instanz, die politisch sowohl wie wissenschaftlich so ausgerüstet wäre, daß sie als Subjekt der Wissenschaftsplanung denken und handeln könnte. Hat man sich das einmal klargemacht, so wird man nicht länger daran zweifeln können, daß das Zentralproblem der Planungstheorie die Frage ist, wie die Subjekte einer möglichen Planung konstituiert werden sollen.
Bevor wir weitergehen, wird es nötig sein, den Begriff des Subjektes der Planung genauer zu bestimmen. Wir haben in der ersten Vorlesung den Satz begründet, die Menschheit habe heute eine Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte. Es gibt so etwas wie ein Gewissen der Welt, das uns diese Verantwortung erkennen läßt; aber wenn wir uns umsehen, stellen wir fest, daß niemand für diese Verantwortung zuständig ist. Niemand bezweifelt, daß wir verpflichtet sind, für die Ernährung der wachsenden Bevölkerung zu sorgen. Aber die Regierungen der Nationalstaaten müssen ihrer Konstitution nach jede Zuständigkeit für die Ernährung der Bevölkerung anderer Staaten von sich weisen.
Es hat sich noch kein Subjekt konstituiert, das der Verantwortung gerecht werden könnte, die der gesamten Menschheit in dieser Aufgabe vorgezeichnet ist; auch die Vereinten Nationen sind nur Nationen. Das gleiche gilt für das höchst undurchsichtige Gewirr der modernen Spezialwissenschaften. Keine dieser Wissenschaften ist für die anderen Wissenschaften und ihre Planung zuständig, keine fühlt sich deshalb berufen, eine Aufgabe anzugreifen, von deren Lösung doch der Bestand und die Fortentwicklung sämtlicher Einzelwissenschaften abhängig sind. Auch hier hat sich noch kein Subjekt konstituiert, das der Verantwortung einer umfassenden Wissenschaftsplanung gerecht werden könnte, obwohl niemand in Zweifel ziehen kann, daß eine solche Planung unabweisbar ist.
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Es ergibt sich demnach folgende, in ihrem Grundriß sehr einfache Struktur, die sich an zahlreichen Beispielen aus der Geschichte illustrieren ließe: Die Menschheit steht vor riesigen Aufgaben, von denen wir wissen, daß sie gelöst werden müssen, wenn wir nicht unserem eigenen Untergang zutreiben sollen. In diesen Aufgaben ist eine Verantwortlichkeit vorgezeichnet, der sich niemand entziehen kann; sie zu erkennen, ist die Verantwortung des Geistes, an der wir alle teilhaben. Aber obwohl wir diese Verantwortung erkennen, fehlt es an Trägern, die sie übernehmen könnten und die für die Lösung der uns vorgezeichneten Aufgaben zuständig wären. Es fehlen in der Wissenschaft, nicht anders als in der Politik, Institutionen, denen die Zuständigkeit für die Lösung der großen Zukunftsaufgaben übertragen werden könnte.
Als »Subjekt« bezeichne ich nicht nur Personen, sondern auch Institutionen und Organisationen, sofern sie sich durch ihre innere und äußere Verfassung als Träger von geschichtlicher Verantwortung qualifizieren. Die Wissenschaft wird erst verantwortungsfähig sein, wenn sich im Rahmen der Wissenschaft selbst Institutionen ausbilden, die so ausgestattet sind, daß sie als Träger wissenschaftlicher Vernunft die Verantwortung der Wissenschaft für den Aufbau einer zukünftigen Welt übernehmen und realisieren können. Solche Institutionen wären dann die Subjekte der Planung, die wir brauchen.
Bevor wir untersuchen, wie diese Subjekte der Planung aussehen müßten, ist noch eine weitere allgemeine Überlegung nötig. Bei der Analyse des Systems der Territorialstaaten sind wir, ebenso wie bei der Analyse der heutigen Spezialwissenschaften, auf einen Tatbestand gestoßen, der für die Planung der zukünftigen Welt von fundamentaler Bedeutung ist. Er läßt sich in dem knappen Satz zusammenfassen, daß der Horizont und die Mentalität des kollektiven Bewußtseins immer von der Struktur des institutionellen Rahmens abhängig sind, in dem dieses kollektive Bewußtsein sich ausbildet.
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Territorialstaaten werden immer ein durch die bornierten Interessen des Territorialstaates beschränktes Nationalbewußtsein entwickeln, denn so schreibt es ihr politischer Rahmen vor. Spezialwissenschaftler werden immer die Mentalität und die Interessenlage von Spezialisten in ihrem Bewußtsein widerspiegeln, denn ihre Institute sind darauf eingerichtet, spezialistische Spitzenleistungen zu produzieren. Wenn sich in unserer zerspaltenen Welt ein universales Bewußtsein ausbilden soll, müssen internationale Organisationen geschaffen werden, in denen sich ein solches Bewußtsein ausbilden kann.
Wenn die »balkanisierte« Wissenschaft zur Vernunft kommen soll, müssen wissenschaftliche Institutionen geschaffen werden, in denen das wissenschaftliche Bewußtsein zur Erkenntnis seiner Weltverantwortung gelangen kann. Im Bereich der Wissenschaft wie im Bereich der Politik sind die Institutionen, die geschaffen werden müssen, damit wir Träger der Verantwortung für die zukünftige Geschichte der Menschheit gewinnen, identisch mit den Institutionen, die wir brauchen, wenn sich ein Bewußtsein ausbilden soll, das dieser Verantwortung gewachsen ist. Die äußere und innere Verfassung solcher Institutionen wird erst dann einer vernunftgemäßen Konzeption genügen, wenn man begreift, daß es hier nicht nur darauf ankommt, höchst komplizierte technische Aufgaben zu lösen, sondern daß diese Institutionen so gebaut sein müssen, daß sich in ihnen ein neues Bewußtsein von der Verantwortung der gesamten Menschheit für ihre zukünftige Geschichte entwickeln kann.
Wir haben jetzt die Theorie des Subjektes der Planung so weit dargestellt, daß es möglich ist, in großen Umrissen die Aufgaben und Konstruktionsprinzipien der wissenschaftlichen Institutionen zu skizzieren, deren die Wissenschaftsplanung bedarf. Es sei aber zuvor noch daran erinnert, daß die Organisation des Machtpotentials der Wissenschaft eine politische Aufgabe ist. Wir werden also die Frage nach dem Subjekt der Planung erst vollständig beantwortet haben, wenn wir das analoge Problem auch auf der Seite der Politik zu lösen vermögen.
Da aber die Politik auf dem Felde der Wissenschaftsplanung ohne die Wissenschaft nicht handlungsfähig ist, hat die Frage nach der Struktur der wissenschaftlichen Institutionen den Vorrang.
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1.
Subjekte konstituieren sich, wie wir sahen, erst dann, wenn eine Aufgabe sich aufdrängt, zu deren Lösung ein Träger der Verantwortung erforderlich ist. Die Bestimmung der Aufgaben, die diese Institutionen zu lösen haben, muß deshalb am Anfang stehen. Die gegenwärtige Weltsituation läßt nicht zu, daß wir nach freiem Belieben darüber befinden, welche Aufgaben von der Wissenschaft gelöst werden sollen; sie sind uns durch den Zwang der Not diktiert. In diesen Aufgaben sind zugleich die Prioritäten vorgezeichnet, nach denen sich jede vernunftgemäße Wissenschaftsplanung wird richten müssen. Es ist aber eine höchst komplexe Forschungsaufgabe, durch detaillierte Analysen der Weltprobleme und ihrer Verkettung festzustellen, welche Forschungsprojekte in welcher Reihenfolge und in welchen Formen der Koordination in Angriff genommen werden müssen, wenn es gelingen soll, durch rationale Planung die Weltentwicklung in den Griff zu bekommen. Die Forschung zweiter Potenz, die wir aufbauen müssen, bedarf deshalb ihrerseits einer gründlichen Generalstabsplanung.2.
Eine so große Aufgabe ist nur zu lösen, wenn die zu gründenden Institutionen das ganze Instrumentarium jener abstrakten Grundwissenschaften beherrschen und weiterentwickeln, auf denen die modernen Planungstechniken beruhen. Hier ist aber erneut daran zu erinnern, daß sich die Theorie der Planung nicht auf die Perfektionierung der Planungsmethoden und Planungstechniken beschränken darf. Die Wissenschaft kommt erst dann zur Vernunft, wenn sie weiß, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Konsequenzen sie von diesen Techniken Gebrauch machen darf. Am Beispiel der Rüstungssysteme läßt sich illustrieren, daß man von rationalen Planungstechniken auch einen höchst irrationalen Gebrauch machen kann. Die Rationalität der Forschung ist durch die Rationalität ihrer Methoden nicht garantiert.
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Wenn wissenschaftliche Institutionen sich als Subjekte der Wissenschaftsplanung verstehen wollen, so müssen sie jene Reflexion der Wissenschaft auf sich selbst ermöglichen, deren Notwendigkeit schon dargestellt wurde. Dazu gehört auch ein systematisches Studium der unberechneten Nebenwirkungen der Wissenschaft und aller jener oft lebenswichtigen Faktoren, die beim Prozeß der Rationalisierung ausgeblendet werden.
3.
Hat man begriffen, daß zur Lösung der Planungsaufgaben, die diesen Institutionen gestellt sind, eine Reflexion der Wissenschaft auf sich selbst erforderlich ist, und daß diese Reflexion die Unterscheidung von Rationalität und Vernunft voraussetzt, so wird man diese Institutionen nicht mehr nach dem Modell von reibungslos funktionierenden Maschinen konstruieren wollen. Es gilt vielmehr dann, auf diese Institutionen jenen Grundsatz anzuwenden, den wir in der siebten Vorlesung als den obersten Grundsatz der aufgeklärten Utopie formuliert haben. Als Träger der Verantwortung sind diese Institutionen nur zu brauchen, wenn sie so gebaut sind, daß in ihrem Rahmen vernunftgemäßes Denken und Handeln möglich ist und sich durchsetzen kann.Jede Gestalt der Vernunft geht aus Freiheit hervor. Die Freiheit der wissenschaftlichen Vernunft ist die Freiheit des kritischen Bewußtseins. Es gilt demnach, nicht nur die Planungsmechanismen, sondern auch das kritische Bewußtsein zu institutionalisieren. Kritik setzt immer eine Pluralität von selbständigen Partnern voraus. Hingegen wird durch die Ausbildung von wissenschaftlichen Monopolen zusammen mit der Selbständigkeit der Kritik auch die Vernunft in der Wissenschaft erstickt. Die Institutionen der Wissenschaft in der zweiten Potenz sind deshalb prinzipiell nur in der Form eines pluralistischen Systems von Institutionen möglich, die miteinander gleichzeitig koordiniert sind und im Wettbewerb stehen.
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4.
Wir haben schon gesehen, daß jede Forschung, die größere Finanzmittel erfordert, direkt oder indirekt, und meist ihr selbst verborgen, durch die Interessen der Geldgeber gesteuert wird. Der überwiegende Teil der heutigen Forschung wird im nationalen Rahmen geplant und finanziert. Selbst die Weltmächte machen keine Ausnahme von der Regel, daß die Schwerpunkte und damit die Fortschritte der Wissenschaft durch die nationalpolitischen Interessen der jeweiligen Regierungen bestimmt sind. Diese Interessen sind, wie wir in der dritten Vorlesung gesehen haben, in hohem Maße irrational. Auf nationaler Basis ist es nicht möglich, eine Wissenschaftsplanung zu organisieren, die nicht die partikulären Interessen einer Nation, sondern die universalen Interessen der gesamten Menschheit im Auge hat. Die Wissenschaft wird deshalb darum bemüht sein müssen, daß internationale Organisationen geschaffen werden, die in der Lage sind, die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Institutionen, die wir brauchen, von den politischen Interessen der Regierungen der Nationalstaaten zu garantieren.#
Mit diesem letzten Punkt haben wir bereits den Übergang zu der politischen Seite des Problems vollzogen. Die internationale Kommunität der Wissenschaft wird zwar fortwährend von den Nationalstaaten zur Steigerung ihres Machtpotentials mißbraucht; sie steht gleichwohl ihrer Struktur nach zu der territorial-staatlichen Organisation unseres Planeten im Widerspruch. Man kann die Wahrheit nicht unter Nationen parzellieren. Der Physiker in Sowjetrußland erforscht, erkennt und denkt das gleiche wie sein Kollege in den Vereinigten Staaten oder in China.
Deshalb ist die Kultur des wissenschaftlichen Zeitalters ihrer Struktur nach eine Weltkultur. Die nationalen Eigenarten, die ideologischen Differenzen und die politischen Gegensätze sind Restbestände der vergangenen Geschichte, die rückständige Bewußtseinslagen konservieren. Wenn sich die politischen Instanzen und Mächte in den Stand setzen wollen, die Probleme des wissenschaftlichen Zeitalters mit wissenschaftlichen Methoden zu lösen, wenn sie das große Machtpotential der modernen Wissenschaft für die Erhaltung der Menschheit einsetzen wollen, so müssen sie eine Bewußtseinsstufe erreichen, die der Struktur des wissenschaftlichen Zeitalters entspricht.
Sie müssen lernen, internationale Aufgaben in internationaler Kooperation und im Bewußtsein internationaler Verantwortung zu lösen. Aber auch hier gilt das Gesetz, daß kollektives Bewußtsein immer ein Reflex der Institutionen ist, in denen es zur Ausbildung gelangt. Die Politiker werden erst dann lernen, international zu denken und zu handeln, wenn als Träger der erdumspannenden Verantwortung, der wir uns nicht mehr länger entziehen können, internationale Organisationen aufgebaut werden, die dieser Verantwortung gewachsen sind.
Das bedeutet praktisch, daß auch von seiten der Politik zum Zweck der internationalen Wissenschaftsplanung eine Organisation geschaffen werden müßte, die über die Finanzmittel und Ressourcen verfügt, um die wissenschaftlichen Institutionen, die wir fordern müssen, aufbauen zu können. Das ist auch in der gegenwärtigen Verfassung der Welt ein lösbares Problem. Die Mittel, die erforderlich wären, sind zunächst bescheiden.
Aber wenn man hier einen Anfang machen würde, könnten die Wirkungen außerordentlich sein. Es wäre nämlich dann zum erstenmal ein geistiger Träger jener universalen Verantwortung konstituiert, die auch für das Bewußtsein der Menschheit eine neue Epoche der Weltgeschichte begründet. Erst wenn wir uns in die Lage versetzen, die Zukunft geistig zu durchdringen, werden wir Wege finden, um auch materiell die Zukunft des Menschengeschlechtes zu sichern.
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Georg Picht / Mut zur Utopie / Die großen Zukunftsaufgaben / Zwölf Vorträge