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12  Die Zukunft des Menschen 

Von Georg Picht 1969

"Es scheint mir, daß der Versuch der Natur, auf dieser Erde
ein denkendes Wesen hervorzubringen, gescheitert ist."
 
Max Born, 1882-1970, Nobelpreis 1954

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Dieses Wort von Max Born in der <Zeit> vom 7.6.1968 — einem der großen Pioniere der neuen Physik bezeichnet den Punkt, an dem wir heute stehen, wenn wir nach der Zukunft des Menschen fragen. Wir wissen nicht, ob es gelingen wird, den äußeren Bestand des Menschen­geschlechtes zu sichernNoch weniger wissen wir, ob es wünschenswert ist, daß eine Gattung von Lebewesen erhalten bleibt, die durch ihr verantwortungsloses Spiel mit den Gesetzen der Natur auf dem ihrer Herrschaft anvertrauten Erdball die furchtbarsten Verwüstungen angerichtet hat und für die übrigen Lebewesen und die Pflanzen nach einem Wort des Biologen Oehlkers als das »schlechthin satanische Wesen« erscheinen muß (Festvortrag bei der Jubiläumsfeier der Ludwig-Universität-Freiburg, 1957). 

Kein Raubtier erreicht die Stufe der Bestialität, der Ruchlosigkeit und der zynischen oder tückischen Wut, mit der der Mensch im Namen der Zivilisation zu morden, zu vernichten, auszurotten, zu unterdrücken, zu erpressen, zu knechten und auszubeuten versteht.

Man muß an Gott glauben, wenn man den Glauben an die verborgene Zukunft des Menschengeschlechtes nicht verlieren soll. Empirisch läßt sich die Hoffnung nicht mehr begründen, daß aus der Schändung von allem, was heilig ist, daß aus Niedertracht, Dummheit, Gier, Rohheit und Barbarei noch ein Segen für die Zukunft der Welt hervorgehen kann.  

Wir haben in dieser Vorlesungsreihe die Frage untersucht, ob es möglich ist, im Zeitalter der Welthungersnot und des beginnenden Weltbürgerkrieges trotz der Vernunftwidrigkeit der politischen Organisation unserer Erde und trotz der Vernunftlosigkeit, mit der die Menschen von dem Potential der modernen Wissenschaft Gebrauch machen, die äußere Existenz der Menschheit zu sichern. 

Auf diese Frage haben wir zwei Antworten erhalten, die noch genauer betrachtet werden müssen:

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1. Es ist zwar möglich — aber es ist unwahrscheinlich —, daß die Vernichtung des größeren Teiles der Menschheit und aller bisherigen Formen der Kultur verhütet werden kann.  

Das Experiment Menschheit wird gescheitert sein, wenn es nicht gelingt, in wenigen Jahrzehnten: eine neue politische Organisation der gesamten bisherigen Staatenwelt zu errichten, die Waffensysteme abzubauen und die Führung von Kriegen technisch unmöglich zu machen, im Rahmen einer revolutionären Neuordnung der Weltwirtschaft eine Umverteilung des Reichtums der Welt herbeizuführen, in kürzester Frist riesige Bildungs­systeme aufzubauen und durch einschneidende Konsumverzichte der reichen Länder die Mittel für den Ausbau der Infrastruktur der technischen Welt in sämtlichen Erdteilen bereit­zustellen. 

Die Menschheit wird nur überleben, wenn es gelingt, in planetarischem Ausmaß die Gesamtheit jener Probleme zu lösen, an denen die hoch­entwickelten Länder innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften bisher gescheitert sind. Das wäre, wie wir gesehen haben, möglich, und wir können auch die Bedingungen angeben, die zur Erreichung dieses Zieles erfüllt werden müssen.

Daß es unwahrscheinlich ist — wer wollte das leugnen? 

Aber der Verweis auf die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens ist im Bereich der menschlichen Geschichte kein Argument. Es ließe sich demonstrieren, daß der Mensch, schon rein biologisch betrachtet, das unwahrscheinlichste aller Lebewesen ist, und daß er eine Konstitution hat, die ihn zwingt, sein Dasein in einem fortgesetzten Kampf gegen die Regeln der Wahrscheinlichkeit zu behaupten. 


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Aus diesem Kampf geht die Geschichte der Menschheit hervor, die uns durch alle Niederlagen hindurch auf immer unwahrscheinlichere Stufen der Kultur­entwicklung und der politischen Organisation geführt hat. 

Welche Energien haben die Menschheit dazu befähigt, den Wettlauf gegen die Wahrschein­lichkeit bisher zu gewinnen? Man nennt das Vermögen des Menschen, sich der Wahrscheinlichkeit zu widersetzen, seine Moral. Sie entspringt dem Vermögen der Vernunft und dem Vermögen zur Freiheit. Die Menschen sind bisher nicht zugrunde gegangen, weil sich trotz riesiger Katastrophen Vernunft und Freiheit gegen die Übermacht der entgegen­wirkenden Kräfte zu behaupten vermochten.

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2. Daraus erklärt sich die zweite Antwort, die wir durch die Analyse der großen Weltprobleme auf die Frage erhalten haben, wie die Existenz der Menschheit gesichert werden soll. 

Es zeigte sich nämlich, daß die materielle Sicherung der physischen Existenz der Menschheit in der jetzigen Phase unserer Zivilisation ausschließlich von den geistigen und moralischen Kräften der menschlichen Natur abhängig ist. Die politische und die wissenschaftliche Vernunft verfügen über das zukünftige Schicksal der Menschheit. 

Da aber sowohl unsere politischen Ordnungen wie unsere Wissenschaften desintegriert und damit vernunftlos sind, hängt die Zukunft des Menschen­geschlechtes davon ab, ob es gelingt, in einem qualitativen Sprung eine neue Stufe der kollektiven Moral und eine neue Stufe der kollektiven Vernunft zu erreichen. 

Die Zukunft, die wir suchen, wird uns nicht durch äußere Errungenschaften, wie die Erschließung neuer Reichtümer und die Vermehrung unserer technischen und industriellen Ressourcen, in den Schoß fallen; denn alle diese Errungenschaften, so nötig sie sind, beschleunigen nur den Prozeß der Vernichtung, wenn es uns nicht gelingt, eine politische und gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, in der es möglich wird, solche Ressourcen vernunftgemäß und sinngemäß zu gebrauchen.  

Die Menschheit wird ihre Zukunft nur durch einen moralischen und geistigen Durchbruch erobern können, für den es in der bisherigen Geschichte kein Vorbild gibt. 


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Das Fundament der neuen künstlichen Welt wird nicht von jenen komplizierten und hochgradig abstrakten Planungssystemen gebildet, die wir ebenfalls brauchen; das Fundament setzt sich aus den einfachsten und edelsten Grundelementen der geistigen Existenz des Menschen zusammen. Wir treten in eine Weltepoche ein, in der jeder einzelne von uns durch Prüfungen hindurchgehen muß, die alles, was mürbe, faul und brüchig ist, verbrennen und alles, was wir für unzerstörbar halten, auf die Probe stellen werden. 

»Wenige Menschen«, so sagte Robert Kennedy,

»sind bereit, der Mißbilligung ihrer Mitmenschen, der Kritik ihrer Kollegen und der zornigen Feindschaft ihrer Gesellschaft standzuhalten. Moralischer Mut ist ein selteneres Gut als Tapferkeit in der Schlacht oder hohe Intelligenz; und doch ist er die eine, wesentliche, unerläßliche Qualität derer, die eine Welt verändern wollen, die sich nur widerwillig der Veränderung beugt«. 

New-York-Herald-Tribune vom 10.06.1968 -  Robert Kennedy auf detopia

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Die Frage nach der Zukunft des Menschen ist also nicht dadurch beantwortet, daß wir uns um möglichst sichere Informationen bemühen, aus denen sich errechnen läßt, mit welcher Wahrscheinlichkeit es die biologische Gattung Mensch in näherer oder fernerer Zukunft auf dieser Erde noch geben wird. 

Die Frage fragt nach etwas anderem; sie fragt nach der Zukunft der Menschlichkeit des Menschen; läßt sich doch, wie wir gesehen haben, demonstrieren, daß auch die biologische Erhaltung unserer Gattung von jenen geistigen und moralischen Qualitäten abhängen wird, welche die Menschlichkeit ausmachen.

Das schließt nicht aus, es setzt vielmehr voraus, daß wir auch das Problem der biologischen Erhaltung der Gattung Mensch mit größerer Gründlichkeit und größerem Ernst bedenken müssen, als das bisher geschieht. Die biologische Erhaltung hängt nicht nur von Ernährung und Wasserversorgung ab. Der Aufbau der künstlichen Welt, auf die wir angewiesen sind, zwingt uns zu Eingriffen in die Natur, welche die biologische Umwelt sämtlicher Lebewesen radikal verändern und in unzähligen Fällen vernichten. 


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Soweit der Mensch ein bloßes Lebewesen ist, ist er den unwiderruflichen Zerstörungen der natürlichen Umwelt, die er durch seine verantwortungslose Verwaltung des ihm anvertrauten Planeten angerichtet hat, ebenso wehrlos ausgeliefert wie alle anderen Lebewesen auch. Er produziert blind und gedankenlos technisch-industrielle Systeme, die ihm erlauben, durch massenhaften Einsatz von Chemikalien, durch die Störung des natürlichen Wasserhaushaltes, durch Raubbau jeder Art, durch Verschmutzung von Wasser und Luft, durch radioaktive Strahlung und durch eine Fülle von sonstigen Einwirkungen die Sphäre, in der sich alles natürliche Leben entfaltet, so rasch und tiefgreifend zu verändern, daß durch die unberechenbaren Neben­wirkungen dieser Eingriffe sämtliches Leben auf der Erde einem uns unbekannten Wandel unterworfen wird. 

Das gilt auch für den Menschen selbst. Die Veränderungen, welche die biologische Konstitution des Menschen durch die Auswirkungen der Wissenschaft erleiden wird, treten heute am sichtbarsten in der rapiden Vermehrung der Erdbevölkerung zutage, über die schon ausführlich gesprochen wurde. Aber die unsichtbaren Auswirkungen der Wissenschaft sind nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ von nicht geringerer Bedeutung. 

Durch die modernen Formen der Nahrungsmittelproduktion, durch die Überschwemmung von Erde, Wasser und Luft mit Chemikalien, durch die kollektive Arznei­mittelvergiftung, durch biologisch abnorme Wohn- und Lebensverhältnisse, durch den rapiden Rückgang körperlicher Arbeit und das entsprechende Zunehmen der geistigen und nervlichen Belastungen, durch das rasche Absinken der Sterblichkeit und die steigende Bevölkerungsdichte und durch ein enges Geflecht von unkontrollierten Nebenwirkungen aller dieser Faktoren hat sich die biologische Umwelt des Menschen in wenigen Jahrzehnten radikal verwandelt. 

Die Selektionsbedingungen, unter denen eine zukünftige Menschheit sich biologisch entwickeln wird, sind mit den Selektionsbedingungen der bisherigen Geschichte nicht zu vergleichen. Entsprechend werden sich die Selektionsprodukte verändern. 


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Die zukünftige Menschheit wird biologisch mit der bisherigen Menschheit nicht identisch sein; aber niemand vermag heute zu sagen, ob die Veränderungen, die unentrinnbar sind, negativ als Degenerationserscheinungen oder positiv als Symptome der Fortentwicklung zu deuten sind. Der Prozeß ist in Gang gesetzt und kann nicht wieder rückgängig gemacht werden; wir wissen nicht, ob er der Erhaltung der Gattung Mensch zugute kommt oder ob er die Gattung in ihrem Kern gefährdet. 

Wohl aber könnten wir durch zielbewußte und energische Kontrollen die gröbsten und eindeutigsten Schädigungen der biologischen Substanz der Mensch­heit verhindern. Durch willkürliche Gefährdung oder Zerstörung des menschlichen Erbguts werden ohne nennenswerte Gegenwirkung fortwährend Verbrechen von planetarischem Ausmaß begangen, die unabsehbare Schäden zur Folge haben. Die Kontrolle verantwortungsloser Eingriffe in die Lebenssphäre unserer Erde ist ohne jeden Zweifel eine der wichtigsten Aufgaben der zukünftigen Weltpolitik.

Die Prüfung der rein biologischen Existenzbedingungen der zukünftigen Menschheit führt uns also erneut darauf zurück, daß nur die Herrschaft der Vernunft über die zukünftige Entwicklung von Wissenschaft und Politik den Fortbestand unserer Gattung zu sichern vermag. Jede Gestalt der Vernunft geht aus der moralischen Grundhaltung hervor, die man als Humanität zu bezeichnen pflegt. 

Wenn überhaupt, so wird der Mensch nur kraft seiner Menschlichkeit überleben können.

Aber was ist die Menschlichkeit des Menschen? Was ist das Humanum, das es zu retten gilt?

Vor dieser so einfachen und so naheliegenden Frage, die sich uns täglich beim Umgang mit anderen Menschen, beim Lesen der Zeitungen und bei der Erfüllung unserer Berufspflichten aufdrängt, verstummt die Wissenschaft und erweist sich als ratlos. Keine der ungezählten Disziplinen, die sich mit der Biologie, der Psychologie, den Krankheiten und dem Denken des Menschen befassen, weiß über seine Menschlichkeit etwas auszusagen. 


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Man wäre versucht zu behaupten, daß die Menschlichkeit den Wissenschaften vom Menschen unbekannt ist; aber genaueres Zusehen belehrt uns darüber, daß alle die Regungen, in denen Menschlichkeit sich manifestiert, von der Wissenschaft verdrängt werden, weil sie als suspekt erscheinen. Die Denkweise, die heute nicht nur die Wissenschaft, sondern die gesamte industrielle Gesellschaft und die Verwaltung unserer Welt beherrscht, betrachtet alles, was nicht objektiviert werden kann, als ungehörig, als anstößig, ja als indezent. 

Als 1945 in der Zeitschrift <Die Wandlung> ein <Wörterbuch des Unmenschen> erschien, das den Jargon des Nationalsozialismus demaskieren sollte, konnte man sich noch der arglosen Hoffnung hingeben, es genüge, dieses Unkraut auszurotten, um die deutsche Sprache wieder in eine Sprache von Menschen zu verwandeln. Inzwischen kann uns die Sprachanalyse darüber belehren, daß es in unserer Gesellschaft keinen Winkel mehr gibt, der nicht von der alles zerfressenden Lauge einer ungreifbar sich verbreitenden Unmenschlichkeit durchdrungen würde.  

Nicht nur die Wissenschaft ist für die Menschlichkeit blind, auch Literatur, Musik und bildende Kunst vermögen der gequälten Kreatur des Menschen im Menschen oft nur noch dadurch Ausdruck zu verleihen, daß sie in schrillen Dissonanzen oder mit dem Seziermesser der Analyse unseren stumpf gewordenen Nerven die Qualen und Verkrümmungen des Wesens in Erinnerung rufen, das einmal Mensch war und auf neue Menschheit hofft. 

Wir haben von der Menschlichkeit nicht nur kein Wissen; es fehlt uns auch die Sprache, in der wir, ohne zu lügen, noch aussprechen könnten, daß wir menschlich empfinden. Das Wort »vergasen« ist zu einem Modewort der Umgangssprache geworden. Man kann sich mit Adorno fragen, ob es nicht ein bloßer Schein ist, wenn wir uns einbilden, wir hätten als Menschen die Gaskammern, die Bomben und das Vernichtungswerk der Terrorsysteme überlebt.

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Es wäre deshalb ein Selbstbetrug und eine Verblendung, wenn wir die Menschlichkeit des Menschen in den offiziell anerkannten Tugendsystemen, in den Zielvorstellungen und in den Idealen einer der Unmenschlichkeit verfallenen und die Unmenschlichkeit betreibenden Gesellschaft aufsuchen wollten. 

Längst hat sich, was menschlich ist, auf die Schattenseite des Daseins, in Krankheit, Leiden, Not und in die sogenannten Abnormitäten geflüchtet. Menschlich sind heute nicht die Angepaßten, die Satten und Normgerechten, die standardisierten Musterexemplare jenes Erfolgstyps, den uns die Stellenanzeigen der Zeitungen beschreiben — menschlich sind die Hungernden und Unterdrückten, die Ausgestoßenen, die Armen und die Kranken. In einem solchen Zustand der Gesellschaft muß man die Chiffren der Not zu entziffern lernen, wenn man die Menschlichkeit wieder entdecken will. Wir suchen deshalb einen Zugang zum Verständnis der Humanität und zur Enträtselung der Zukunft des Menschen auf dem Weg über ein besseres Verständnis der Krankheit.

Etwa die Hälfte aller Patienten, die heute einen Arzt aufsuchen, leiden an Krankheiten, die es bei Tieren nicht gibt. Diese Krankheiten sind demnach nicht rein naturwissenschaftlich zu erklären, sondern sie sind ein Produkt der Biographie des Patienten und der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er leben soll. Sie sind also ein Produkt der künstlichen Welt, und da diese künstliche Welt der zukünftige Lebensraum der gesamten Menschheit ist, werden die Zivilisationskrankheiten in Zukunft die psychophysische Verfassung der Menschen noch weit stärker bestimmen als heute. 

Die Expansion der Wirtschaft, der Fortschritt der Technik und der Prozeß der Gesellschaft im ganzen wird dadurch erkauft, daß sich die Krankenhäuser, die psychiatrischen Kliniken und die Gefängnisse mit unzähligen Opfern dieses Prozesses füllen. Die Zahl der Opfer muß um so größer sein, je reibungsloser die Maschinerie funktioniert. Die Erfolgreichen, die Angepaßten, die Funktionäre des Systems pflegen mit einem bedauernden Achselzucken darüber hinwegzusehen, daß jener Fortschritt, auf den wir angewiesen sind, mit Opfern erkauft wird, die man als eine Art von normalen Abfallprodukten zu betrachten pflegt. 


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Daran wird deutlich, daß die Normen, nach denen sich die Gesellschaft orientiert, Symptome der Krankheit — die Ordnungen, in denen sie lebt, Symptome der Deformation des Menschen — die Sitten, die sie hochhält, Spiegelungen versteckter Laster sind. Um Victor von Weizsäcker zu zitieren: »Zu den Krankheiten gehören nicht nur die Anginen, die Tuberkulosen und Krebse, sondern auch die naturwissenschaftliche Medizin selbst. Krankheiten haben auch Kulturen, Politiken, Künste, Wissenschaften und Religionen« (<Pathosophie>, Göttingen 1956, S. 238). 

Wenn aber eine Gesellschaft insgesamt, wenn ihre Wissenschaft, ihre Sozialordnung, ihr Bildungswesen, ihre Justiz und ihre Politik selbst krank sind, dann kann die Anpassung an ihre Normen, obwohl man sie als Gesundheit ausgibt, nur neue Krankheit produzieren, selbst wenn man durch Psychopharmaka und Medikamente den Anschein der Gesundheit zu erhalten versteht. In einem solchen Zustand der Gesellschaft läßt sich die Menschlichkeit des Menschen nur entdecken, wenn man die tief erkrankte Gesundheit dazu befreit, ihrer Krankheit inne zu werden. Je weiter die Analyse oder — wie wir nun sagen müßten — die Diagnose der Gesellschaft, ihrer Strukturen und Bewegungsabläufe, ihrer Verhaltensformen, ihrer Mentalität, ihrer Normen und ihrer Denkweisen vordringt, desto unmöglicher wird es, noch ein Koordinatensystem festzulegen, nach dem sich bestimmen ließe, was als gesund und was als krank, was als menschlich und was als unmenschlich zu gelten hat.

Wir sind gezwungen, von der Diagnose der industriellen Gesellschaft auszugehen, wenn wir entdecken wollen, welche Möglichkeiten der Menschlichkeit des Menschen in der zukünftigen Welt, von der ich in dieser Vorlesungsreihe zu sprechen habe, offenstehen. Denn die nachindustrielle Gesellschaft dieser zukünftigen Welt hat unsere gegenwärtige Industriekultur zur Vorgeschichte. Sie geht aus dieser Industriekultur hervor und ist durch ihre Deformationen gezeichnet.

Der Zugang zu neuen Formen der Menschlichkeit und der kollektiven Moral führt nicht an der Erkrankung unserer Gesellschaft vorbei; er führt mitten durch sie hindurch.

Solange wir vor dieser Krankheit die Augen verschließen, ist uns der Weg zur Menschlichkeit versperrt. 


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Ich habe diese Fragen gestellt, um deutlich zu machen, daß es grundsätzlich unmöglich ist, die Erkrankung eines Gesellschafts­systems mit system­immanenten Methoden nach systemimmanenten Normen zu überwinden. Aber auch der Ausweg in den Umsturz der Gesellschaft, die Destruktion der technischen Systeme und die Zerstörung der falschen Welt ist uns versperrt, denn von dem Funktionieren dieser Maschinerie hängt das Überleben der hungernden Menschheit ab.

Wir stehen also vor der Paradoxie, daß wir den selben Prozeß befördern müssen, von dem wir wissen, daß er die Menschlichkeit des Menschen zerstören und damit auch sich selbst aufheben könnte. Paradoxien werden in der menschlichen Geschichte nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß man sie leugnet und an ihnen vorbeizuleben versucht; man muß sie akzeptieren und durchdringen.

Ich habe schon in der zweiten Vorlesung an die Erkenntnis der griechischen Philosophie erinnert, daß es die Natur des Menschen ist, nur auf künstliche Weise existieren zu können. »Erst durch die Erzeugung einer künstlichen zweiten Natur«, so sagte ich, »versetzt sich der Mensch in die Lage, der Entdeckung seiner wahren Natur als einer unendlichen Aufgabe nachzustreben.« Wenn wir die Menschlichkeit des Menschen in der künstlichen Welt erhalten und ermöglichen wollen, müssen wir die Physik der künstlichen Natur, also die Physik der Gesellschaft, besser studieren und müssen zu erkennen versuchen, wie die wahre Natur aus dieser künstlichen Natur hervorgeht. 


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Die heute politisch virulentesten Formen eines ideologischen Bewußtseins, das sich als Humanismus versteht, nämlich die verschiedenen Varianten eines anti-stalinistischen Marxismus, und die konservativen Richtungen jeglicher Art sind sich darin einig, daß sie die »sekundären Systeme« des Kapitalismus und der technischen Welt perhorreszieren. Die ideologische Fiktion von angeblich primären Strukturen, die ihren Ursprung bei Rousseau, bei Herder und in der Romantik hat, dient der versteckten Absicht, den Bereich unserer realen Verantwortung, nämlich die Zivilisation, in der wir leben, zu diffamieren. 

Das Stichwort für diese Tendenz ist der Begriff der Entfremdung. Wo immer dieses Stichwort ertönt, werden kollektive Affekte in Bewegung gesetzt, die jegliche Rationalität überschwemmen und die Menschen ihrer Besonnenheit berauben. Man ist nicht mehr in der Lage einzusehen, daß die Entfremdung kein Kulturprodukt und kein Erzeugnis des Kapitalismus ist, sondern am Anfang der Geschichte des Menschen steht. 

Der Mensch ist entfremdet, weil er weiß, daß er in der Zeit ist. Daher entspringt ihm die Erfahrung, daß er über sich selbst und seinen gegenwärtigen Zustand hinausgehen muß, um leben zu können. Der Mensch ist sich selbst immer entfremdet, denn er ist das Lebewesen, das sich im Dasein nur behaupten kann, indem es zu werden versucht, was es noch nicht ist. Alles Bemühen, einen Zustand herbeizuführen, in dem der Mensch mit sich selbst versöhnt wäre und mit dem Schlager aus der Nazizeit behaupten dürfte: »So sind wir und so wollen wir auch bleiben«, ist eine Verleugnung der Humanität. 

Weil der Mensch immer entfremdet ist, hat er Geschichte. Er hat Geschichte, weil ihn die Entfremdung, die in die Grundfigur seines Wesens eingezeichnet ist, dazu zwingt, in keinem Zustand verharren zu können, sondern sich stets aus sich selbst heraus in die Ungewißheit einer antizipierten Zukunft versetzen zu müssen. Schon immer diente der Begriff der Transzendenz als Schlüssel zu dem Geheimnis des menschlichen Daseins. Heute verstehen wir die Transzendenz geschichtlich als Überstieg in eine höhere Zukunft, welche die Gegenwart aus den Angeln hebt. 

Das bedeutet aber, daß die geschichtliche Krise die Form ist, in der sich das Menschengeschlecht am Leben erhält. Jeder Einklang mit der Gesellschaft, wie sie ist, jede Geborgenheit in der Umwelt, die wir uns schaffen, gefährdet unsere Humanität, denn sie verführt uns, ein System von Lügen zu errichten, das uns ermöglichen soll, den Fortgang der Zeit, das unerbittliche Weiterschreiten der Geschichte und die allgegenwärtige Wirklichkeit des Todes zu verleugnen.

Menschlich ist nur, wer die Wahrheit der condition humaine erträgt, wer sich dem Anblick der Not in ihren tausenderlei Gestalten nicht entzieht, und wer vor dem Tod, den er auf seinem Weg zur letzten Stunde täglich zu sterben hat, nicht die Augen verschließt. Denn nur ein solcher Mensch vermag zu helfen, Not zu bekämpfen, Krankheit zu lindern und dem Tod sein Heimatrecht inmitten unseres Lebens zu gewähren.

Ich sagte, die geschichtliche Krise sei die einzige Form, in der wir zu bestehen vermögen. Das ist im Rückblick auf die Tatbestände, die wir ins Auge fassen mußten, ein Satz, der eine Tragweite besitzt, die unser Denken und unsere Phantasie weit übersteigt. Er besagt, daß wir die Hoffnung haben dürfen, daß sich die Menschlichkeit des Menschen und die zukünftigen Gestalten der Vernunft überall dort befreien, wo die Not des Menschen ans Licht tritt, wo sein Elend spricht, wo seine falsche Sicherheit zerbricht und sich die Lügen enthüllen, die sich in seinen Gesellschaftssystemen und Staatsordnungen und in den etablierten Hierarchien der Werte verbergen. 

Die wahre Hoffnung auf Menschlichkeit entzündet sich überall dort, wo die Gefahren uns zu überwältigen drohen und alle falschen Hoffnungen versinken.

Die Welt, in der wir leben, wird in den nächsten Jahrzehnten von Krisen und Katastrophen erschüttert werden, wie sie die Menschheit in ihrer Geschichte noch nicht erfahren hat. Diesmal steht nicht der Bestand von Völkern oder Kulturen auf dem Spiel, diesmal ist der Bestand der ganzen Menschheit bedroht.

Nur diese äußerste Gefahr kann jenen ungeheuren Wandel des Bewußtseins erzwingen, der aus der Menschlichkeit des Menschen eine neue Gestalt der geschicht­lichen Vernunft hervorgehen läßt.   

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Ende

 

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Georg Picht (1969) Mut zur Utopie -  Die großen Zukunftsaufgaben. Zwölf Vorträge.