Theodor Plievier

Einige Bemerkungen
über die Bedeutung
der Freiheit 

"Und ich will die Krankheit bei ihrem Namen nennen: 
Die Krankheit heißt Rückschritt!" (S.16)


Published under Military Government Information Control Licence
US-E-149 (Rudolf Zitzmann).

1948 by Nest-Verlag Nürnberg. 

Gedruckt in der Werkdruckerei der Fa. Neumeister, Bayreuth. 

Erstes bis 10. Tausend. 1948

Theodor Plievier (1948) Einige Bemerkungen über die Bedeutung der Freiheit

1948  20 Seiten

DNB.Buch 

Bing.Buch    Goog.Buch


detopia:  Start Plievier 

Utopiebuch   Umweltbuch

1940-Buch  


Gottfried Benn    H.G.Wells 

A.Metternich 

 

Rede zur deutschen Schriftsteller-Tagung 

in der Paulskirche in Frankfurt am Main am 20. Mai 1948 

5-25

Was der Schriftsteller zu sagen hat, das sagt er in seinen Büchern, und ist es wichtig genug, wirkt sein gestaltetes Wort weiter, auch wenn er selbst zu sprechen aufgehört hat. 

Dennoch ist eine historische Erinnerungsfeier, wie es die ist, die uns in diesen Tagen hier zusammenführte, eine Gegebenheit, um einige Worte am Rande zu sagen. Und am Rande möchte ich einige Bemerkungen zu unserer heutigen Lage, auch über die Bedeutung der Literatur in unserer heutigen Lage machen. 

Erwarten Sie von mir keine Auseinandersetzung mit irgendwelchen Prinzipien, kein Haften an politischen Tatsachen (dafür ist hier weder der Ort noch die Zeit); aber ich hoffe zum Wesen der Sache, die uns alle angeht, einiges sagen zu können.

 Wir haben in diesen Jahren viel von einer Erneuerung Deutschlands gehört — so viel, daß es manchmal dünn und gehaltlos und manchmal als bloße Phrase und Plakat erschien. Unzweifelhaft hat das Leben sich dauernd zu erneuern: das gilt für das Individuum, das gilt für ganze Völker, das gilt für den weitesten Kreis, für die Menschheit. 

Und in wiederkehrenden Perioden ist die Frage einer Erneuerung geradezu gleichbedeutend mit der Frage nach dem Weiterbestand, und unzweifelhaft befinden wir uns in einer solchen Periode. 

Individuen und Völker und zuerst die Völker des europäischen Kulturkreises stehen dem Entweder—Oder gegenüber. Entweder Handeln oder Untergehen! Und Handeln heißt in diesem Falle: Seelische Neugeburt des Individuums! Gesellschaftliche Neugeburt von Völkern! Neugestaltung der politischen Beziehungen der Völker untereinander! 

Und noch genauer: Neugestaltung unter Aufgabe enger national-egoistischer Interessen und unter Voranstellung der allen gemeinsamen und das Ganze fördernden Interessen. Und Handeln bedeutet nicht Umstürzen, es bedeutet Erfüllen.

6/7

Die geistigen Grundlagen sind uns gegeben. Und wenn wir das uns Gegebene — beginnend mit den zehn Geboten vom Berge Sinai und endend mit den Thesen der Atlantic-Charta — von den Fesseln des Papiers befreien und alle sittlichen Gebote und die gegebenen bürgerlichen Freiheiten und Rechte des Menschen in das tägliche Leben und die alltäglichen Beziehungen der Menschen untereinander übertragen, und wenn Intoleranz und Rassenwahn und Sklaverei nicht nur auf dem Papier, sondern in der Wirklichkeit beseitigt sein werden, wenn alle uns gegebenen sittlichen Prinzipien nicht nur Angelegenheiten feierlicher Staatsakte und Inhalte kirchlicher Sonntagspredigten, sondern Gesetze auch auf den Gebieten der Gesellschaft und der Wirtschaft geworden sind, dann haben wir das Revolutionärste vollbracht, das Menschen überhaupt zu vollbringen vermögen, und haben doch nur erfüllt, was die Menschheit von weit her begleitet und bis hierher zusammengehalten und lebend erhalten hat!

Aber da klafft die Lücke — zwischen Theorie und Praxis. 

Doch bis hierher und nicht weiter! Wir haben die Linie erreicht, die nicht zu überschreiten ist. Die gesellschaftserhaltenden Prinzipien ließen sich lange verleugnen und nun nicht mehr. Tiefe Not hat die Menschheit vor einen entscheidenden Schritt, vor den Anbruch eines neuen Zeitalters gestellt, und es kann nur ein Zeitalter der Toleranz und Humanität und sozialer Gerechtigkeit sein. Dieser Weg ist zu beschreiten, alles andere wäre Abweg und Sturz und Zurückfallen in unvorstellbare Finsternis. Solchermaßen ist das Entweder—Oder!

7/8

Und ich glaube damit zugleich angedeutet zu haben, daß das Dilemma, in dem wir uns nach der überstandenen Völkerkatastrophe befinden, kein ausschließlich deutsches ist— und es gibt auch keine ausschließlich deutsche Lösung und kein gesondertes deutsches neues Werden. Ein neues Deutschland kann nur im Verein und in Abstimmung mit allen anderen Nationen erstehen, und zwar mit allen Nationen ohne Ausnahme.

Es handelt sich also bei der Entwirrung unserer heutigen Nöte um einen die ganze Menschheit berührenden Fragenkomplex. Aber "Die Menschheit" ist ein großes Wort und ein weiter Begriff und wird in unserer Anschauung sehr leicht zu einer bloßen Abstraktion. Für den Einzelnen erhält dieser Begriff nur konkreten Inhalt im Erleben und in der Anschauung des eigenen Volkes, und wenn wir uns umblicken und dabei nicht an der Oberfläche haften, wächst die Erkenntnis, daß bei uns mehr als Wohnhäuser und Fabriken und Städte zerstört wurden, daß die massenhafte äußere Vernichtung lediglich Ausdruck einer vorangegangenen Vernichtung immaterieller und geistiger Werte ist.

8/9

Von solchen Erkenntnissen und von unserem Willen zu umfassenden Lösungen wird unsere weitere Existenz als Volk abhängen, und gerade weil wir heute am geschlagensten und am bedürftigsten sind, könnten wir Lösungen am nächsten sein und haben wir jedenfalls umso ernster und entschlossener um ein Neuwerden zu ringen!

Natürlich ist die praktische Erneuerung Deutschlands eine Aufgabe der wirtschaftlichen, der politischen und aller gesellschaftstragenden Kräfte. Aber nicht nur mit Hammer und Pflug, auch mit der Feder wird das deutsche Schicksal geschaffen, und zu allererst und vornehmlich ist die Erweckung der Seele des Volkes zu neuem Leben die Aufgabe der Dichtkunst und auch der übrigen Künste. 

"Ohne die Dichtkunst", sagt Jakob Grimm einmal, "würde die letzte Kraft der Menschheit sich längst verzehrt haben und ermattet sein." Und in der Tat, wer sonst als die Kunst hat die Menschheit immer wieder vor der Gefahr des Alterns der Seele gerettet und sie mit Kräften der Verjüngung ausgestattet. Und man kann sagen, daß sich die Höhe der Kultur eines Volkes nach dem Ansehen bemessen läßt, das der Dichter und Künstler in dem betreffenden Lande geniest.

Andererseits ist das Verantwortungsgefühl des künstlerisch Schaffenden für die Gesamtheit entscheidend, und das Ansehen, das er geniest oder hinnimmt, ist nur mit umso größerer Ernsthaftigkeit und dem Gefühl größter gesellschaftlicher Verantwortung zu vereinbaren.

9/10

Kein Gestaltender lebt in einem abstrakten Himmel. Das tägliche Leben, die Nöte, das Schicksal des eigenen Volkes ist das, was er zum Ausdruck bringt. Das tut der Schriftsteller unabhängig vom Sujet, das er wählt, schon deshalb, weil er die Sprache, in der er schreibt, lebendig erhält. Und im besten Falle gelangt er über die bloße Wiedergabe der Wirklichkeit hinaus zu Deutungen, kommt die Materie, die er zusammenballt, ins Glühen, wird Leben und zeugt neues Leben. 

Die Dichtung ist nicht nur die eigentlich idealbildende Kulturmacht; die innerliche Schau des Dichters ist nicht nur der Ausgangspunkt aller Bereicherung und Vertiefung der Wirklichkeit — von der Dichtung wie überhaupt von der Kunst gehen auch wichtigste Impulse in der praktischen Politik aus. 

Luthers Choral: <Ein feste Burg ist unser Gott>, Rouget de Lisle's <Marseillaise>, Beethovens <9. Symphonie> — wer könnte die politischen Wirkungen dieser Gesänge in ihrer ganzen Tragweite auch nur ermessen!

Diese hervorragenden Beispiele seien angeführt, um anzudeuten, was ich unter der politischen Wirksamkeit von Dichtern und dichterischem und schriftsteller­ischem und überhaupt gestaltendem Schaffen verstanden haben möchte. 

10


Auf der einen Seite der Gestalter, der dank seines besonderen Standortes, dank seiner eigenen Fähigkeit und seines umfassenden Wirkens das Schicksal einer Masse, einer Volksschicht oder auch eines Volkes zusammenfaßt und im vollkommensten Fall das erlösende und wegweisende Wort findet, und auf der anderen Seite die Menge der Leser oder Hörer oder Betrachtenden, die das Wort aufnehmen und in den Herzen bewegen, die empfangenen Anregungen aus Eigenem nähren und weitertragen: das ist das glücklichste und fruchtbarste Verhältnis zwischem dem Urheber und dem Aufnehmenden. Und wenn das Ideal auch selten erreicht wird, so sollte es doch vom Autor und auch von der Menge, die ihm zugekehrt ist, gesucht werden.

Dazu gehört auf der einen Seite der Wille zur Wahrhaftigkeit, und auf der anderen Seite geht es nicht, ohne daß dem Autor ein Maß an Glauben entgegen­gebracht wird. Kein bedenkenloser Glauben, und keiner, der nicht prüft — davon haben wir genug gehabt! 

Und daß das Glauben unserer heutigen Generation und insbesondere der heutigen Jugend so schwer fällt, ist ein Zeichen der Zeit, und nicht immer ein negatives. Nachdem der Glaube einer ganzen Generation für Zwecke mißbraucht wurde, die sich als falsch und verderblich und für die Nation als katastrophal herausstellten, ist die heute überall zutage tretende Zurückhaltung eine gesunde Erscheinung, und ein gewisses Maß an Skeptizismus ist eine verständliche Reaktion, was die Vergangenheit anbelangt. 

11


Handelt es sich aber um die höchsten Dinge (dazu gehört das Verhältnis vom Lernenden zum Lehrenden, vom Schüler zum Meister, vom Leser zum Autor) und handelt es sich um zukünftiges Werden unserer Nation, geht es nicht ohne guten Glauben und ohne die Einräumung eines moralischen Kredites, jedenfalls bis zur Erlangung der eigenen Urteilsfähigkeit, die immer das anzustrebende Ziel sein sollte. 

 

Ich habe als Autor des Buches <Stalingrad> hunderte und an tausend Briefe von Lesern erhalten, und an dieser Stelle will und kann ich aussprechen, daß diese Menge an Leserbriefen einen Querschnitt darstellen, der eine ungewöhnliche sittliche Höhe des Lesers erkennen läßt. Der Leser, den ich so kennenlernte, legt an Autor und Werk Maßstäbe, zu denen man ihn nur beglückwünschen kann. Und wenn er sich selbst und sein eigenes Handeln mit den gleichen strengen Maßen mißt, befinden wir uns auf dem rechten Wege. 

Dieser Leser, und er repräsentiert Hunderttausende und ist die Brücke zu weiteren Hunderttausenden, die nie ein Buch in die Hand nehmen, verlangt anderes als Unterhaltung. Er liest ein Buch zu Ende, auch wenn das Lesen qualvoll ist, und er liest in dem Verlangen, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Er will nicht zerstreut werden, sondern Werte finden, die ihm selbst helfen und die der Gemeinschaft dienen. 

12


Eine Frage, die in einem Offenen Brief und auch sonst an mich herantrat und die lautete: Ob ich, da ich <Stalingrad> doch in Rußland geschrieben habe, nicht jetzt, da ich die russisch beeinflußte Zone verlassen habe, das Buch umschreiben müßte, habe ich bereits öffentlich beantwortet und zwar dahingehend, daß ich <Stalingrad> nicht in russischem Auftrag, sondern als deutscher Schriftsteller, als deutsche Angelegenheit und als Ausdruck deutschen Schicksals geschrieben habe. 

Daß das in Rußland möglich war, und zwar in einer Zeit, als Rußland und Deutschland in einen Kampf um Leben und Tod verstrickt waren, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Und ohne diese Freiheit des Schaffens und ohne die Möglichkeit eigene deutsche Gesichtspunkte anzulegen, hätte <Stalingrad> niemals das Buch werden können, das als erstes die Zonengrenzen durchbrach und in der russischen wie in der amerikanischen, britischen und französischen Besatjungszone verlegt und gelesen werden konnte. 

Ich komme auf diese Fragestellung zurück, weil sie eine erschreckende und gefährliche Charakterhaltung verrät: eine Haltung, die voraussetzt, daß es gar nicht anders sein könne, als ob der deutsche Schriftsteller, der deutsche Politiker, der in der deutschen Öffentlichkeit Wirkende der Besatzungs­macht hörig ist, unter der er gerade lebt.

13


Das allerdings würde allen Übeln der Nachkriegszeit, die unvermeidlich sind, die Schmach einer moralischen Annektion hinzufügen, die allerdings vermeidbar sein muß, und die in der Konsequenz, was Deutschland anbelangt, die Haltung einer geradezu selbstmörderischen Politik wäre. 

Kann man sich denn nicht vorstellen, daß einer aus dem Osten weggeht, ohne sich deshalb dem Westen zu verschreiben! 

Ich bin der Meinung, daß man mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören, aus eigenen Eindrücken Gedanken denken sollte, die nicht vorgedacht und vorgeschrieben sind. 

Ich bin weiter der Meinung, daß in Europa und auch in Deutschland unter dem Zustand der Besetzung die Möglichkeit für selbständiges Denken geblieben sein muß; und wenn das auch schwer sein sollte, so ist es besser und selbständiger und auch zukünftiger gerichtet, zwischen allen Stühlen zu sitzen, als einen bequemen Platz einzunehmen, der nur unter Preisgabe selbständigen und unabhängigen Denkens und Schaffens zu erhalten wäre.

Wir können es nicht ändern, daß der Riß, der durch die Welt geht, quer durch Deutschland gezogen ist. Wir haben aber über den Tag hinaus ein einheitliches Deutschland ins Auge zu fassen. Und wenn im Osten und Westen unseres Landes die gleiche Sprache gesprochen wird, ist es gerade unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die gleichen Worte auch die gleichen Begriffe meinen. 

14


Und was die Literatur anbelangt, so ist das Wirken für die Einheit unseres Vaterlandes zugleich auch Wirken für die deutsche Dichtung, für die Fülle und Kraft und Zukunft unserer Sprache und für ihre Bedeutung und Lebensdauer. Einer unserer Historiker hat einmal gesagt, daß es vornehmlich die Dichter waren, die die deutsche Einheit forderten und hervorriefen. Und wenn eine spätere Generation einmal von den Dichtern und Schriftstellern unserer Tage rühmen kann, daß sie den Gedanken eines einheitlichen Deutschland über die Zeit der Gefahr und Zerklüftung hinübertrugen, dann haben die Dichter und Schriftsteller unserer Tage diesen wichtigen Teil ihrer politischen und nationalen Aufgabe an unserem Volke erfüllt.

Die wirtschaftliche und politische Einheit Deutschlands herzustellen, liegt heute ganz offensichtlich nicht in unserer Macht. Nutzen wir indessen die Zeit, um die Grundlagen zu klären und die geistigen Grenzpfähle zu stecken, zwischen denen ein neues Deutschland werden kann. Deutschland liegt noch immer in der Mitte Europas als ein von den geistigen Strömungen aus Nord und Süd, aus Ost und West gespanntes Kraftfeld, und mit dem europäischen Schicksal war und ist es verbunden, in glücklichen Tagen und in bösen Tagen, und heute mehr als jemals zuvor. 

15


Und Deutschland kann nicht zerstückelt bleiben und kann nicht versehrt werden, ohne daß das Ganze darunter Schaden leidet. 

Schwach und bedürftig ist Deutschland heute nicht allein an sich; schwach und bedürftig und elend ist es an der Krankheit der Welt. Und ich will die Krankheit bei ihrem Namen nennen: Die Krankheit heißt Rückschritt!

Irrig aber wäre es anzunehmen, daß Fortschritt oder andererseits Rückschritt eindeutig an bestimmte Parteifahnen, oder an bestimmte Berufs- oder Besitz­verhältnisse, oder an bestimmte Systeme geheftet sei. Die Krankheit, um die es sich hier handelt, ist viel allgemeiner, und sie hat nicht weniger als den ganzen Erdball ergriffen. 

Schon seit langem befindet sich die Menschheit nicht in einer fortschreitenden Entwicklung, sondern, was ihre geistigen Grundlagen anbelangt, in Erstarrung und Verarmung, und der Krisenpunkt ist erreicht. 

Wir haben Raketenflugzeuge konstruiert und verstehen es sogar, Atome zu zertrümmern; aber die geistigen Kräfte und auch der gesellschaftliche Zustand verhältnismäßiger Freiheit, der solche Wunder der Technik und solche Höhe des Wissens erst möglich machten, befinden sich im Verfall.

16/17

Es handelt sich um den rapiden Verfall von Werten, die den Feingehalt jeder, auch noch der schlechtesten Gesellschaftsordnung ausmachen und mit deren Erlöschen die Gesellschaft selbst, jedenfalls in ihrer heutigen zivilisierten Form, zu bestehen aufhört. Es handelt sich um nichts weniger als um den massenhaften Schwund politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Freiheiten und auch politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Verantwortungs­gefühls. 

Freiheit ist nicht nur ein metaphysisches Streben, sondern eine Angelegenheit praktischen Lebens; und nach Offenbarung dieser gewaltigen zeugenden Kraft, und nachdem jedem einzelnen Individuum der aus Aberglauben und Sklaverei heraufsteigenden Menschheit die Entscheidung über Gut und Böse in die eigene Brust gelegt wurde, haben Religionsstifter und Philosophen, Reformatoren, Dichter, Rechtslehrer, theoretische und praktische Politiker immer wieder um ihre Anerkennung auf den Gebieten menschlicher Wirksamkeit und um eine alle umfassende freiheitliche Atmosphäre der Gesellschaft gerungen. 

Die Freiheit als gesellschaftzeugende und gesellschafterhaltende Kraft erkennend, wird es klar, daß jeder Eingriff in ihre Bezirke und jede Zerstörung persönlicher oder gesellschaftlicher Freiheiten Angriffe auf den Bestand der Gesellschaft selbst darstellen.

17


Und wenn man bedenkt, daß kein Automobil fahren, keine Kreissäge sich drehen, keine Wasserleitung laufen würde, ohne die Menge der in einer Umgebung freier Forschung wirkenden Wissenschaftler und ohne die Massen intelligenter, verantwortungsbewußter, an ihrer Arbeit und an den Früchten ihrer Arbeit interessierter Erzeuger, kann man den Wert dieser Prinzipien erkennen und läßt sich auch ermessen, was ihr Verfall für unsere Zivilisation bedeuten muß.

Hungersnöte, Krankheiten, alle Folgen der Kriege lassen sich überwinden, und zertrümmerte Wohnstätten lassen sich wieder aufbauen, so der Geist, der Städte gebaut und die menschliche Gemeinschaft in ihren staatlichen und überstaatlichen Organisationen geschaffen hat, unversehrt geblieben ist —, aber dieser Geist ist bis in seine Gründe erschüttert. 

Der Marsch von zwei Weltkriegen ließ nicht viel mehr als die Erinnerung an Freizügigkeiten übrig, deren sich die Menschheit einmal erfreute. Fast alle Nationen leiden heute ausnahmslos unter den gleichen Übeln: Unsicherheit der Existenz, Verlust der Freizügigkeit, Zwangserfassung menschlicher Arbeitskräfte, die bis zur Sklaverei geht, und als übelstes aller Übel eine Domestizierung des Menschen, wie sie bis dahin nicht geahnt wurde und selbst von den Despotien des Altertums so weitgehend und so den letzten Bürger und Untertan erfassend niemals erreicht worden war. 

18/19

Auf der einen Seite Vermassung — auf der anderen Seite Schematisierung und Bürokratisierung aller Lebensfunktionen, Lähmung der schöpferischen Kräfte und Leerlauf!

Und am Grunde der überhandnehmenden Vermassung steht die Entwertung des Menschen und seine Umwandlung aus einem frei über sich und das Seine bestimmenden Subjekt in ein mit Leib und Leben und persönlichem Besitz der jeweiligen Macht ausgeliefertes Objekt.

 

Nimm dem Bauern das Pferd — und Du hast ihn entmannt, und dröhnende Reden und schlüssigste Theorien und Berge von Pamphleten vermögen nicht darüber zu täuschen, darj er kein Geschöpf Gottes mehr, sondern die Kreatur eines machthabenden Despoten geworden ist!

 

Entziehe dem Arbeiter den ihm gebührenden Anteil an seiner Hände Arbeit und presse ihn so weitgehend aus, daß ihm das Existenzminimum nicht mehr bleibt — und Du hast ihn ebenso entwurzelt wie den landlosen Bauern, und aus dem intelligenten, erfindungsreichen und freudig Schaffenden einen interesselosen Handlanger gemacht!

19/20

Schlage ein Volk nieder, plündere seine materiellen Reserven, zerstöre die Grundlagen seiner Existenz — und Du hast es aus der Reihe der zum allgemeinen Wohl der Menschheit beitragenden Nationen ausgestoßen und ein Vakuum geschaffen, das nicht leer bleiben kann und sich anstelle der ihm nicht mehr zufliegenden wirklichen Werte mit Unwerten, mit abgetragenen Kleidern und schlechten Lebensmitteln, und auch mit abgelegten Ideen, mit Hintergedanken, Furcht, Heuchelei, Korruption und Betrug, und führend mit politischem Betrug, füllen wird!

 

Eine Anzahl solcher Völker, die auf den Gebieten der Kunst, des Wissens, des Rechts nicht mehr mitzureden haben und unschöpferisch geworden sind, und Massen ihrer persönlichen Freiheiten beraubter Individuen, denen nichts mehr zu eigen gehört, die kein eigenes Leben mehr zu leben haben und nur noch von überdimensionalen Mächten verbraucht werden und die nun auch nicht mehr dazu imstande sind, das unter Bedingungen persönlicher und gesellschaftlicher Freiheiten Geschaffene zu erhalten, hat die Menschheit hinter sich gelassen und damit einen Grad der Verarmung erreicht, der bei Strafe des Todes nicht zu überschreiten ist.

Wo ist der Ausweg?
Wo ist Heilung von dieser schrecklichen und die Menschheit mit einer neuen und einer noch größeren Katastrophe bedrohenden Krankheit?

20/21

Von dem noch verbliebenen Willen zur Freiheit und davon, daß dieser Wille sich zu einer alle Völker der Erde umfassenden politischen Macht erhebt, wird es abhängen, daß der verhängnisvolle Weg nicht zu Ende gegangen wird.

Feierliche Deklarationen und Dokumente der Freiheit haben wir gehabt. Das letzte Mal waren es die Thesen der Atlantic-Charta, und klopfenden Herzens haben wir damals vernommen, daß die Menschheit sich durch den Mund ihrer berufenen Vertreter noch einmal auf ihre Grundlagen besinnt. Heute handelt es sich um die Praxis! Durch Not und Tod und Vergewaltigung, durch Ketzerverbrennungen und Kolonial- und Wirtschaftskriege ist die Menschheit gegangen und dahin gelangt — ob ihre Mächtigen und die Massen versklavter Seelen es wollen oder nicht —, durchaus Ernst mit der Praxis der Freiheit zu machen.

Vor Gott ist jeder gleich!
Auch vor dem irdischen Gericht ist jeder gleich! 
Auch den Schäden der Erde gegenüber ist jeder gleich! 

Und es gibt keine Zweiteilung der Welt, und der Paß des Bürgers der USA ist ebensogut wie der Paß des Bürgers der Republik, die eben erst geboren wird! Denn wir sind alle gleich alt und gleichen Ursprungs und bewegen uns alle demselben Ziel entgegen.

21


Wir brauchen überhaupt keinen Paß (wir sind auch früher ohne solchen ausgekommen) und brauchen keine Behörde, die den Paß ausstellt, keine zweite Behörde, die ein Visum aufdrückt, keine dritte Behörde, keine vierte und fünfte, die alle mit derselben Sache zu tun haben. 

Und viele Hände und Kräfte werden frei geworden sein für produktive Arbeit oder auch für heilsame Muße.

Das Tor in die Welt ist für alle offen! Es gibt keine gelenkten Völker und keine Spannungen und keinen eisernen Vorhang, hinter dem Massen von Individuen und ganze Völker in Isolierung verdorren.

Das alles ist keine Sphärenmusik — es brauchte keine zu sein! Es könnte in diesem Augenblick wirklich sein, und wäre nichts als das Diktat der Vernunft und die notwendige Übertragung der schon gegebenen und zum Teil schon einmal wirksam gewesenen Freiheiten in die Praxis. Und so weit und so lange es noch nicht die Praxis des täglichen Lebens ist, wäre das alles jedem Schriftsteller und jedem Politiker und jedem geistig Schaffenden als Marschroute in seinen Tornister zu legen.

Aber wir haben die Erfahrung und wissen es nun, daß Freiheiten sich nicht einfach deklarieren lassen, daß sie in jeder Stunde aufs Neue zu befestigen und aufs Neue zu verteidigen sind. 

22


Und hier ist die vornehmste Aufgabe aller fortschrittlichen Kräfte und insbesondere auch der Gewerkschaften und Arbeiterbewegung. Ohne solchen organisierten Willen und ohne die Bereitschaft, die schon errungenen und die schon wirksamen Freiheiten in jeder Lage und in jeder Stunde zu verteidigen und zu befestigen, wären die Gesetzestafeln vom Berge Sinai bedeutungslos geworden, wäre das Kreuz auf Golgatha vergebens gewesen, hätten alle Scheiterhaufen für nichts gebrannt, verdorrte der Halm auf dem Felde und sängen die Vögel nicht mehr... werden Völker zu amorphen Massen, zu dem Sumpf, der Weltreiche verschlang und der die Menschheit in ihrer heutigen zivilisierten Form nicht mehr tragen wird.

Und zu meinem Ausgangspunkt zurückkehrend, will ich noch Eines sagen: 

Die Natur gefällt sich vielleicht in Versuchen, aber sie kehrt beständig auf das Bessere zurück, strebt unaufhörlich nach Vollkommenheit. Dieses Naturgesetz gilt auch für die menschliche Gesellschaft, und deshalb dürfen wir auch in den düstersten Zeiten auf ihre Erneuerung hoffen! 

Aber Erneuerung ist ein unzureichender Begriff. Für eine bloße Restaurierung ist die Menschheit in dieser Phase zu zerpulvert. Und eine Restaurierung allein des christlich-abendländischen Kulturkreises kann nicht genügen.

23/24

Der Weg führt aus der Enge ins Weite, aus der Abgeschlossenheit in das Umfassende. Europa muß tief eintauchen, noch tiefer als seine Quellen waren. Zur abendländischen Logik, Ethik, Vernunft gehört noch etwas. Und damit Völker und Individuen ihr verlorengegangenes Gesicht wiederfinden und die Seele unseres Kontinents wiedergeboren werden kann, müssen auch die alten östlichen Weisheiten einbezogen werden.

Und der Strom beginnt mit dem Tropfen. Die Wiedergeburt beginnt mit der Zelle. Sie beginnt im Individuum, wird in der Gruppe, im kleinen Kreis, im großen Kreis, im Volk und mündet in der Gemeinschaft der Völker. Und einer solchen alle Völker der Erde umfassenden Gemeinschaft, nicht aber einem dröhnenden Weltimperium streben wir entgegen. 

Und der Inhalt der Völkergemeinschaft kann nicht Gewissenszwang, nicht Intoleranz, nicht Sklaverei sein. Die neue Gesellschaft kann nur auf Gewissens­freiheit, auf Toleranz, auf Humanität, auf Recht und Gerechtigkeit, auf Freiheit geeint mit geistiger Gebundenheit begründet sein.

Wir sind hier in Frankfurt versammelt im Gedenken an den tragischen Untergang deutschen Verlangens nach demokratischer Erneuerung. Hundert Jahre sind seit jener Erhebung vergangen. Es waren hundert Jahre einer in Abständen und in immer stärkerem Maße wiederkehrenden deutschen Katastrophe. 

Wenn wir heute auf Trümmern stehend unsere Augen erheben, wissen wir, daß die damals nicht gelösten Fragen auf uns überkommen und heute zu lösen sind. 

Und wenn wir in einem Geiste, der allen Bevölkerungsschichten in unserem Lande gerecht wird, der sich über unsere Grenzen hinaus auf das Wohl des Ganzen richtet, und wenn wir getragen von Erkenntnissen und geleitet von Freiheiten, die in den Sternstunden der Menschheit geboren wurden, an unsere Aufgabe herangehen, können wir gewiß sein, daß die weisesten unserer Zeitgenossen und die edelsten Geister, die über die Erde gingen, mit uns sein werden!

24-25

 

Ende

 ^^^^

 

 

 (Ordner www.detopia.de     ^^^^

Theodor Plievier (1948) Einige Bemerkungen über die Bedeutung der Freiheit