Pratajev,
Pratajew, 
Pratalinko

(1901-1961)

Der sibirisch-russisch-sowjetische 
Dichter, Lyriker und Sachbuchautor
Sergej Wasrowitsch Pratalinko, genannt "Pratajew" und 
"Der Puschkin von Miloproschensk"

Ich danke dem herausragenden Pratajev-Forscher H. M. Oley, daß er sich kürzlich im Zwickauer Lutherkeller (am 22.1.10) die Zeit genommen hat, um mich persönlich über den aktuellen Stand der Pratajew-Forschung zu informieren. Ohne seine Geduld hätte ich wohl noch lange über die Geheimnisse dieser sensationellen Wieder-Entdeckung gerätselt. 

Ja! richtig, Makarios, man kann Pratajev nicht als Dissidenten bezeichnen, und auch nicht als Opfer der Sowjetmacht (bzw. des Kommunismus, bzw. des KGB). Ja! er hatte "mächtige Gönner". ABER: Haben ihn den nicht seine Gönner zur Selbstzensur 'überredet'? Was wissen wir denn wirklich darüber, was er ohne Selbstzensur geschrieben hätte? 

Sicher wurden auch Pratajew 'die Instrumente gezeigt', oder? Nächstes Jahr feiern wir erstmal den 50. Todestag des Dichters! Und dann sehen wir weiter: Wie die Persönlichkeit Pratajews abschließend zu bewerten ist - und ob es nicht doch Unterschiede zwischen ihm und Puschkin gibt. Viele Fragen sind offen, Makarios! -- Wenigstens ist seine Geburt jetzt auf den 02.09.1902 festgelegt worden. Ich bleibe vorläufig noch bei 1901; denn das habe ich schriftlich. (d-2010:) 

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Pratajev-
Gesellschaft.de
 

 

 

Der Raucher von Bolwerkow, Pratajew III, Das große Lesebuch - Von H. Makarios Oley

 


Das Phantom des Dichters   -  Die Pratajew-Gesellschaft in Leipzig 
DLF 2002:  Von Ingo Colbow # 27.9.2002 # dradio.de/dlr/sendungen/merkmal/145641 

Als in den ersten Oktoberwochen 1989 in Leipzig Zehntausende Menschen noch für eine bessere DDR auf die Straße gingen, war es in diesem ersten Reflex des Aufbegehrens vor allem die Literatur, die den Gebeugten und Schwachen den Mut und die nötige Entschlossenheit gab. Schon in den 80er Jahren gab es in Leipzig zahlreiche illegale Galerien, Lesungen in Abrisshäusern, Foren, Konzerte und Diskussionen. An der Universität hielten 1989 Autoren wie Christa Wolf, Christoph Hein und Wolfgang Hilbig vor überfüllten Hörsälen ihre Poetik-Vorlesungen. In Studenten-Theatern spielte man Texte von Becket oder Heiner Müller.

Mit dem Wegfall der Mauer verebbte diese Neugier am Entdecken in Büchern. Man konnte die Welt nun mit eigenen Augen betrachten und stellte ernüchtert fest: In der größer und freier gewordenen Welt fehlte vielen, insbesondere den jüngeren Leuten, der Platz für die Renitenz, für den Widerspruch und das subversive Vordringen in verbotene Räume.

In dieser Zeit, etwa Mitte der 90-er Jahre, machte im Dunstkreis der Leipziger Universität und des MB, des größten Studenten-Clubs der Stadt, plötzlich die Pratajew-Gesellschaft von sich reden. Ziel dieser Gesellschaft war:

"Umfassende wissenschaftliche Untersuchung 
und Veröffentlichung der Werke 
des zu Unrecht kaum bekannten 
und in seiner Heimat vergessenen 
Dichters Sergej Waschowitsch Pratajew."

Wie ein Lauffeuer breitete sich das Interesse an der Beschäftigung mit den Werken Pratajews auch über die Grenzen Leipzigs hinaus. Es gab Lesungen, Studienarbeiten und Forschungsansätze. Auf universitärer Ebene gab es Kontakte nach Kanada und nach Japan. Makarios Oley, damals Sänger der gefeierten Rockband "Die Art", erinnert sich an die erste Zeit:

"Am Anfang war es so, dass ich mit dem André Kuternatsch, ein Freund, der hat mich auch animiert dazu, das überhaupt öffentlich zu machen. Und dem Publikum hat es aber gefallen und sie fragten: Kann man da mehr erfahren? Und: Gibt es da noch mehr, als du jetzt hier gelesen hast? Ich hatte nur ein ganz dünnes Heftchen, was ich den Leuten anbieten konnte. Und da sind wir auf die Idee gekommen, die Pratajew-Gesellschaft zu gründen, wo jeder Mitglied werden konnte, ohne einen Obolus zu entrichten, einfach nur das Interesse zählte."

Allein in Leipzig zählt die Gesellschaft innerhalb kurzer Zeit mehr als zweihundert Mitglieder. Die Veranstaltungen der Gesellschaft müssen in den größten Saal der Moritzbastei verlegt werden. Dort sitzen die Zuhörer dicht gedrängt und lauschen einem Ton, der klingt, als würde er direkt aus dem Orbit auf die Erde kommen, um die Menschen hier - inmitten ihrer neuen Welt der Täuschungen, Illusionen und Träume - zu mahnen und zu ergreifen.

"Schere aus Stahl
Geführt von schwieliger Hand
Mütterchen Iwanowa
Fährt als Frisöse
Übers Land

Schere aus Stahl
Rostig vom vielen Gebrauch
Eine alte Schere
Aber die tut es auch"

Und in einem anderen Gedicht heißt es lapidar:

"Wenn Laub liegt in
Deinem Garten
Kann es passieren
Dass man Dir befiehlt
Fege den Hof
Aber schnell"

Um die Wirkung dieser Lyrik und Texte zu verstehen, muss man daran erinnern, dass man in der DDR noch in den späten 80-er Jahren versuchte, Abitur-Schüler mit Werken wie "Neuland unterm Flug" von Michael Scholochow oder Ostrowskis "Wie der Stahl gehärtet wurde" für die Sache des Sozialismus zu begeistern. Man erinnerte sich an Majakowskis "Ballade vom roten Paß", in welcher der Dichter im Komturschritt des Tschekisten doziert, wie er bei seiner ersten Amerika-Reise dem kapitalistischen Zollbeamten an der deutschen Grenze seinen neu gedruckten sowjetischen Paß aushändigt - und dieser entsetzt wie vor einer Seuche zurück weicht. In der DDR lasen das Schüler, die jeder Zöllner misstrauisch beäugte, wenn sie mit ihrem bescheidenen blauen DDR-Ausweis nach Prag fuhren.

Doch in der sowjetischen Literatur gab es auch die andere Seite: es gab die Dichter des Tauwetters und es gab die Perestroika. Mit Büchern von Autoren wie Aitmatow, Schukschin oder Jewtuschenko entwickelten diese Schüler, die Studenten der 90-er Jahre, ihren Anspruch ans Leben. Und nun tauchte in Leipzig das Werk des Sergej Waschowitsch Pratajew auf, eines großen, zu Unrecht verkannten russischen Dichters. In einem aus der Zeit unmittelbar nach Stalins Tod stammenden Gedicht Pratajews heißt es:

"Reg Dich nicht auf, wenn es mal regnet,
auch wenn der Bach zum Fluss anschwillt.
Reg Dich nicht auf, wenn Dein Haus überschwemmt ist.
Es gibt wirklich Schlimmeres...

Reg Dich nicht auf, wenn es mal regnet
Und im Wasser
Deine Kuh ertrinkt.
Reg Dich nicht auf,
wenn auch
Dein Dach dann noch einstürzt.
Es gibt wirklich Schlimmeres...

Reg Dich nicht auf, wenn es mal regnet 
Und die Flut Dein Gut verschlingt. 
Reg Dich nicht auf, wenn danach 
Du im Zelt wohnst. 
Es gibt wirklich Schlimmeres."

Die Gedichte und Texte Pratajews wecken in Leipzig das Interesse einer jungen Nach-Wende-Generation, die noch keine neue Orientierung gefunden - und die zugleich das Gefühl hat, etwas verloren zu haben. Anders gesagt: in dem Moment, da die Russen aus dem Leben wie aus den Buchläden der Ostdeutschen verschwunden sind, beginnt die Suche nach Ersatz - und der unbekannte Literat Pratajew wird gefunden.

Makarios Oley: 

"Und das stieß auf ziemlich großen Zuspruch, weil es ja doch recht lustig war und das eigentliche Land der unbegrenzten Möglichkeiten ja doch Russland ist und da schien alles wahrscheinlich. Und - ja, es war auch gar nicht anders gedacht, als dass praktisch nur die Person Pratajews uns nahe bringt, also es ging gar nicht so sehr um das Entdecken seines Werkes, sondern eigentlich um die Umstände: Warum war der so? Was hat der alles gemacht? Und ein Zitat aus seinem Werk war praktisch immer nur Bebilderung."

Der Erfolg der Wiederentdeckung Pratajews schien ohne Grenzen: man druckte Bücher, produzierte Hörbücher mit Lesungen. Und rangierte nicht ein vertontes Gedicht Pratajews wochenlang ganz oben in der (noch aus friedensbewegten Zeiten stammenden) legendären Folk-Hitparade des Südwestfunks?

Doch dann platzt die Bombe. Alles entpuppt sich als Fake! Einen Augenblick lang scheint das Ende der Pratajew-Gesellschaft gekommen. Doch das Publikum überwindet den Schock und holt tief Luft. Wie kann man umgehen mit einer solchen Lüge? Dann zwinkern sich alle mitwisserisch zu: <Macht doch nix! Auch wenn es ihn gar nicht gibt. Wir wollen ihn trotzdem!>

Im Januar 2002 erscheint im Leipziger 'Fünf-Finger-Verlag' der Pratajew-Almanach, Band 2. Mit ganz neuen, bislang unbekannten oder unveröffentlichten Texten. Und im September feiert man - wieder mit Foren, Lesungen und Konzerten - den hundertsten Geburtstag Pratajews, zu dem auch eine ganz neue - real existierende - CD mit den vertonten Gedichten Pratajews erscheint.

In seiner Ansprache anlässlich der Feierlichkeiten erklärt Bert Hähne, der Verleger des 'Fünf-Finger-Verlages', vor überfülltem Saal:

"Liebe Mitglieder der Pratajew-Gesellschaft! Verehrte Gäste! 
Werter Herr Botschafter und Frau Kultur-Staatssekretärin! 
Pratajew, zu dessen Ehrung wir uns hier heute alle versammelt haben, gilt als der größte russische Dichter aller Zeiten! Und als eines der letzten Universalgenies. Denn Pratajew begnügte sich nicht allein mit dem Fertigen anspruchsvoller Lyrik, dem Konstruieren packender Kriminalfälle und dem Verfassen anrührender Geschichten. Nein! Er griff ohne Furcht auch die drängendsten medizinischen Fragen seiner Zeit auf, wie zum Beispiel das Phänomen des '90-Grad-Fingers'. Pratajew setzte Meilensteine in der Musikgeschichte. Er malte, er rauchte, er trank und er unterhielt Kontakte zu Frauen. Allerdings wurde er jahrelang verkannt. Nach seinem Tod im Jahr 1961 gar vergessen. 

Doch das nur von der breiten Öffentlichkeit. Wegbereiter, Freunde und Verehrerinnen hielten die Fahne Pratajews stets hoch! Voller Zuversicht auf bessere Tage. Und die brachen spätestens mit der Ausrichtung des 8. Pratajew-Kongresses an, welcher 1998 hier in diesen Räumen stattfand. Verloren geglaubte Schriften tauchten wieder auf, Gedichte wurden unter Tränen vorgetragen, Anekdoten zum Besten gegeben, der Pratajew-Forschung neuer Schwung verliehen. Heute wissen wir schon wieder sehr viel über Sergej Waschiwitsch Pratalinko alias Pratajew, genannt der 'Puschkin von Miloproschenskoje'."

Makarios Oley: 

"Reale Spuren sind nicht gefunden, zumal auch sein Grab nicht gefunden worden ist bis jetzt. Das ist ja eigentlich die größte Herausforderung für die Pratajew-Gesellschaft, eben eine Huldigungsstätte zu finden oder zu haben und da gibt's ja auch die wildesten Spekulationen drüber, dass eben Pratajew gar nicht Pratajew hieß und deswegen einfach nicht zu finden ist, sondern einen irgendwie ähnlich lautenden Namen hatte, der irgendein Allerweltsname ist. Laut meinen Informationen hieß er Sergej Wasrowitsch Pratalinkov, aber das kann natürlich auch eine Ente sein, also dass der sich eben einfach Decknamen gegeben hat und seine wirklichen Spuren eben dadurch einfach verwischt sind. Und dann kann man sonstwie suchen, der hieß eben anders."

Die Lesungen enden heute regelmäßig mit Musik und orgiastischem Beifall. Eine Band namens Prumski-Beat spielt auf - ganz im rüden Underground-Ton der späten 90-er Jahre. Prumski-Beat pflegt das Erbe des ebenfalls zu Unrecht vergessenen großen russischen Erlenholz-Gitarristen Anatoli Prumski. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Und alle singen gemeinsam die vertonten Lieder Pratajews - jenes "Puschkin aus Miloproschensk", der die kulturelle Lücke füllt, die die Russen nach ihrem Abzug aus der ehemaligen DDR offenbar hinterlassen haben. Und manche dieser Lieder erzählen - ganz zeitlos - nur von der Sehnsucht dem einen...

"In meinen schönsten Träumen 
Seh ich ein Mädchen fein 
Sie tritt ganz ohne Scheu 
In meine Kammer ein 
Sie legt sich auf mein Lager 
Und flüstert mir ins Ohr 
Ich soll nicht länger zögern 
Mit dem, was ich hab vor  
In meinen schönsten Träumen..."

 

 

 

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Pratajew ist eine Kunstfigur, wer es noch nicht gemerkt hat.