Tina RosenbergDie Rache der GeschichteErkundungen im neuen Europa
1996
in New York - "The haunted land"
Lesebericht
von Jens Reich |
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1996
480 Seiten
Bing.Buch -> Zeit-Artikel
detopia: |
Ein Buch sorgt für Streit:
Die amerikanische Journalistin Tina Rosenberg konfrontiert Täter und Opfer mit ihrer Rolle in kommunistischen Diktaturen.
Der Bürgerrechtler Jens Reich vergleicht ihr Urteil mit seinen Lebenserfahrungen.
Tina Rosenberg, außenpolitische Redakteurin bei der "New York Times", erhielt für ihr Buch "Die Rache der Geschichte" den Pulitzerpreis 1996.
Es wurde in Amerika enthusiastisch aufgenommen, in Deutschland aber heftig kritisiert.
Am Freitag stellt sich die Autorin in Berlin der Diskussion.
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Es ist wie immer. Erst ein leises Lüftchen, dann Wind, dann ein wenig Ruhe, dann prasselt plötzlich der Hagel, dann ist wieder alles still. Zuerst liest man die Verlagsankündigung. Dann die Besprechungen in den amerikanischen Tageszeitungen, dann kommt im Juli 96 das Flaggschiff der Rezensionen, die New York Review of Books; darin, von Tim Garton Ash verfaßt, eine vornehm-ausgewogene Besprechung, mit Kritik vermengt, insgesamt ein großes Lob.
Danach hören wir von der vernichtenden Abfuhr durch Catarina Kennedy-Bannier im Tagesspiegel. Anfang Februar trifft das Buch selber ein, und es hagelt ablehnende, drastische Verrisse, angeführt vom Spiegel und von der taz. Danach klingt das Gewitter ab, die überregionalen Zeitungen wollen nicht so laut dagegen bellen. Jetzt warten wir darauf, ob es noch einmal einen Rückkehr-Taifun gibt wie damals bei Daniel Goldhagen oder ob das ruhige Verkaufsgeschäft einsetzt, bis das Buch in jedem zweiten Bücherschrank steht und verstaubt.
Tina Rosenbergs Buch "Die Rache der Geschichte" verspricht uns Gespensterspuk in den drei Ländern, die die Autorin 1991 bis 1993 bereist hat: in der vormaligen Tschechoslowakei, diesem inzwischen operativ getrennten siamesischen Zwillingspaar, in der früheren DDR, der lang verblichenen, die noch allmitternächtlich umgeht, und in Polen, dem nie verloren gegebenen, solange wir alle noch leben.
Ich wohne in einem dieser ominösen Spukschlösser und kann mitteilen, daß bei Tage trotz allem gelegentlich die Sonne durch die Fenster scheint, und nachts, da schlafe ich. Die Gespenster der sozialistischen Vergangenheit sind zwar nicht zur Ruhe gekommen, aber mit all ihrer Rastlosigkeit besetzen sie nicht mehr die Vorderbühne des öffentlichen Interesses.
Das Buch wäre vor drei oder vier Jahren eine Sensation gewesen — jetzt hat sich der Staub etwas gelegt, und wir können in Ruhe über die Sache reden.
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Natürlich haben wir zuerst das Kapitel über Deutschland gelesen. Es spielt sozusagen im eigenen Kiez. Die Präzision der Darstellung von Fakten und Kurzcharakteristiken ist im deutschen Teil der Reportage leider wenig ausgeprägt. Das geht gleich los mit der Unterstellung, daß der letzte Mauertote über die Grenze wollte, weil er gern bessere Kleidung getragen und in Diskotheken gegangen wäre, wo man mit Mädchen tanzen konnte. Lärmende Diskotheken mit vielen hübschen Besucherinnen gehörten nun gerade zu den wenigen Gütern, mit denen der ewige FDJler Egon Krenz seine DDR-Jugend ausreichend ausgestattet hatte.
Ob der Kellner Chris Gueffroy, der seinen Fluchtversuch mit dem Leben bezahlte, tatsächlich nur oberflächlich und vergnügungssüchtig war — das im nachhinein feststellen zu können, bestreite ich der journalistischen Methodik.
Ebensowenig ist genau zu ermitteln, wie groß bei der Jugend, die im Sommer 1989 über Ungarn und Prag in den Westen wollte, der Anteil von Konsumhunger und wie groß ihr Überdruß am Käfigdasein in Unfreiheit war.
Ein so flottes Urteil stellt eine total schiefe Verallgemeinerung der Motive dar, die die DDR-Jugend gegen die Mauer rennen ließ.
"Tatsächlich hatte die DDR wie andere totalitäre Regimes von Anfang an psychologische Tricks und Kniffe eingesetzt, um ihre Bürger frühzeitig zu indoktrinieren: So durfte zum Beispiel kein Kind im Kindergarten seiner Mutter zum Abschied hinterherwinken; das Kollektiv war alles."
Das sind so die Stellen, wo man das Buch in den Papierkorb werfen möchte. Ein abstrakt zutreffender Satz, dazu ein total schiefer, grob falscher Beleg, der jeden Informierten zum Widerspruch reizt, und das ganze schwierige Thema ist verschenkt. Hinzu kommt eine Fülle von kleinen Fehlern im Detail. Ein heute arbeitsloser DDR-Lektor hätte die schlimmsten Schnitzer ausmerzen können.
Trotzdem habe ich das Buch nicht in hohem Bogen in die Ecke geworfen, sondern in Ruhe von vorn bis hinten durchgelesen. Seine tschechischen und polnischen Kapitel enthalten eine Reihe von aufregenden politischen Biographien, mit allen Drehungen und Wendungen, wie sie nur dieses wahnsinnige 20. Jahrhundert im Schatten von Hitler, Stalin und Breschnjew hervorbringen konnte.
Der deutsche Abschnitt hat als Kern die Interviews mit drögen Typen von Grenzsoldaten und verklemmten Stasi-Informanten, die zwischen Bagatellisierung und Beschönigung ihrer Berichtstätigkeit schwanken. Auch auf mich wirken die Menschen in Warschau farbiger und lebendiger als der Durchschnitt in Berlin.
Allerdings verstimmt mich die Neigung der Autorin zu weitausholenden Generalisierungen angeblich nationaler Eigenschaften und Verhaltensweisen. Der für Deutsche besonders charakteristische Drang zur Selbsterforschung und Buße. Ihre Neigung, die Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Die meisten Ostdeutschen stellten die Legitimität ihres Staates nicht in Frage. Der polnische Normalbürger, der polnische Juden noch nie als echte Polen ansah. Die Polen, eine Nation von Romantikern, die nichts lieber tun, als für eine edel motivierte, aber sinnlose Sache zu kämpfen. Der "Tschechoslowake", der den Mund hält, mitmacht und sich mit den Brosamen vom Tisch des Systems begnügt.
Das Hauptthema der Autorin ist die Frage, wie die drei Gesellschaften mit der Vergangenheit der Partei und der Staatssicherheit umgehen, mit dem Schicksal der Widerständler und Revolutionäre, mit dem Verhalten der obersten Machthaber und ihrer großen und kleinen Diener, der Polizisten und Informanten, der Befehlsempfänger und Befehlsausführer.
Dies ist ein großes Thema, und es ist hoch an der Zeit, es vergleichend zu behandeln. Die Autorin zieht auch ihre Erkenntnisse aus Studien über die früheren Diktaturen in Lateinamerika und Afrika hinzu. Das führt sie zu sehr differenzierten und scharf formulierten Einsichten.
Eines der Kapitel enthält eine detaillierte und vielseitige Analyse der praktischen Auswirkungen des tschechoslowakischen Lustrations-Gesetzes, das ehemalige Informanten aus dem reformierten Staatsdienst fernhalten soll, dabei aber wegen rein formaler Kriterien erhebliche Ungerechtigkeiten verursacht und für politische Intrigen mißbraucht werden kann.
Das deutsche Verfahren hingegen (Stichwort: Gauck-Behörde) erscheint der Autorin als sorgfältiger. Gleichwohl kam es auch hier trotz der ausführlicheren Gutachten über IMs zu falschen Schlußfolgerungen der beurteilenden Kommissionen, und die moralische Verurteilung, die ein IM-positives Gutachten verursachen kann, hat in einem Fall sogar zu einem tragischen Selbstmord geführt.
Die Kritik der Autorin richtet sich gegen die juristische Behandlung durch bundesdeutsche Gerichte, gepreßt in die Rechtsform der Bundesrepublik, dabei aber (angeblich) materiell nach DDR-Recht urteilend. Diese Kritik trifft eine fundamentale Schieflage der juristischen "Aufarbeitung" von DDR-Unrecht.
Der Autorin weitergehendes Argument, die Täter hätten kein Bewußtsein des begangenen Unrechts haben können (zum Beispiel, weil in ihrem Wohnort kein Westfernsehen zu empfangen war), bestreite ich. Daß die Flüchtenden in der Regel keine Verbrecher, sondern allenfalls leichtsinnige Abenteurer waren, das konnte in der DDR jeder wissen.
Im übrigen sind zahllose Fluchtversuche gelungen, und nicht nur, weil die Wächter zu ungeschickt zum Fangen waren, sondern weil sie sich ungeschickt stellten und in die falsche Richtung oder gar nicht schossen. Da gab es Schwejks, die sich durchwinden wollten, und die verstehe ich weit besser als die stumpfen Typen, die alles so ausführten, nur weil es Befehl war. Es war sehr wohl möglich, den Schießbefehl zu umgehen, und denen, die den Weg dazu nicht fanden, kann ich allenfalls als mildernden Umstand zubilligen, daß sie dem starken Druck der Befehlsgeber ausgesetzt waren.
Schon gar kein Verständnis kann ich für die Sympathie der Autorin für Befehlsgeber bis in die politische Spitze aufbringen. Es sind alte Männer, das stimmt, und es bringt nichts, ihnen den Prozeß zu machen, zumal die juristischen Konstruktionen abenteuerlich sind. Aber wer sich ein Leben lang nach Macht und Verantwortung drängt, muß auch die Verantwortung tragen, wenn er weit hinter die Ideale seiner Jugend zurückfällt und zum Antreiber eines Polizeisystems wird. Niemand wurde ins Politbüro oder in den Verteidigungsrat gezwungen, und wenn es politisch opportun war, zeigten die Machthaber sehr wohl, daß sie Selbstschußanlagen und Schießbefehl abschaffen konnten.
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Die Gespräche, die Tina Rosenberg führte, sind farbig geschildert und bezeugen ihr Einfühlungsvermögen in fremde Schicksale. Diese Ambivalenz behindert aber die analytische Durchdringung der Biographien und klare Schlußfolgerungen. Da gibt es viele Widersprüche, die auch die zusammenfassenden abstrakten Überlegungen am Ende jedes Abschnittes nicht auflösen.
Am klarsten hat die Autorin ihre analytischen Resultate an anderer Stelle dargestellt, nämlich in einem Artikel der Zeitschrift Foreign Affairs (Mai/Juni 1995), wo sie nicht journalistisch, sondern politologisch schreibt: Die reale Gefahr für die osteuropäische Demokratie sei nicht der alte Kommunismus, sondern seine Transformation in ungebremste Staatsmacht. Lustration rieche nach Kommunismus, nach seinen Methoden, schreibt sie. In Deutschland werden die ehemaligen Machthaber formal fairer behandelt, während die kleinen Spitzel und Mitläufer benachteiligt werden. Die Lateinamerikaner kehren die Verbrechen unter den Teppich, die Osteuropäer bauschen die banalen Alltagsgemeinheiten auf. Alle sollten sich mehr an die demokratischen Standards halten, die sie angeblich übernommen haben.
Was mir bei solchen flotten Feststellungen fehlt, ist die Einsicht, daß es überhaupt keine gerechte Behandlung der Vergangenheit geben kann, und das hat nichts mit nationalen Mentalitäten zu tun.
Der Sachverhalt widersetzt sich rationaler Zergliederung, er ist objektiv total widersprüchlich und zerrissen. Zu jedem Schicksal gibt es genau entgegengesetzte — Gut und Schlecht ist ineinander vermengt, entlang einer Biographie ebenso wie quer durch Gruppen und Bevölkerungen.
Was wir erlernen können, ist, daß die Regeln der Demokratie und die Menschenrechte einzuhalten sind, und schon das ist beim nächsten anstehenden Konflikt wieder in Gefahr, vergessen zu werden.
Ich kann beanspruchen, für eine Analyse des Sozialismus in den drei Ländern Insider zu sein. Es geht hier unmittelbar um meine Lebenserfahrung. Ich kenne die drei Sprachen, ich kenne die behandelten Länder, ich habe in allen zahlreiche Kollegen, Bekannte, Freunde und Verwandte. Die deutschen Gesprächspartner von Tina Rosenberg kenne ich fast alle persönlich, wenn auch nur oberflächlich aus dem öffentlichen Raum. Ich bin zu nahe dran.
Tina Rosenberg hat dagegen die drei Länder als Außenseiterin besucht. Ihre Distanz hat sie zwar zu einigen Ungenauigkeiten und Fehlern verleitet.
In diesem Abstand lag jedoch auch ein methodischer Vorteil, weil er eine abstrakte, eine vergleichende Analyse ermöglicht. Die finde ich nicht rundum zutreffend, aber interessant genug für eine tiefergreifende Diskussion. Alle Befragten allerdings, Dissidenten wie Regimevertreter, waren explizit politische Personen. Über das Verhalten der Millionen von Menschen, die nie in die Öffentlichkeit treten, hat Frau Rosenberg ziemlich pauschale Vorurteile.
Die Bevölkerungen dieser Länder waren die willfährigsten Kommunisten, schreibt sie (sie meint CSSR, DDR und Bulgarien). Alle Tschechoslowaken waren Mitläufer, steht an anderer Stelle.
Oder: Kommunist war in den sechziger Jahren fast jeder. Nur in der SU, der DDR und der CSSR traf man in den siebziger Jahren noch echte Kommunisten, aber nicht in Polen.
Oder auch: 1989 konnte man immer noch zahlreichen DDR-Bürgern begegnen, die im Unterschied zu allen anderen Ostblockländern fest an ihre Regierung glaubten.
Alles ungenau. Alles schief. So scharf ihre Portraits von Politikern, so schemenhaft taucht in ihrem Buch "das Volk" auf, die schweigende Mehrheit. Sie hat es nicht vor ihren Kassettenrecorder bekommen.
Dieser Befund enthält keinen Vorwurf, aber er bezeichnet die Grenze, über die ein solches Buch nicht hinauskann.
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Tina Rosenberg (1996) Die Rache der Geschichte - Erkundungen im neuen Europa