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15  Das verbotene Date

 

 

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Meine Wochen in Russland gingen am Schluss schnell vorüber. Larissa nahm mich mit nach St. Petersburg, dort würde sie die nächsten zwölf Monate als Missionarin verbringen. Gemeinsam mit anderen jungen Frauen teilte sie sich eine Wohnung am Stadtrand, die etwas luxuriöser ausgestattet war als unsere Wohnung in Petrosawodsk. Bevor sie mit ihrer Arbeit weitermachte, hatte sie ein paar Tage frei, um mit mir die Stadt zu erkunden. Wir standen in der Eremitage und schauten uns Bilder von El Greco, Matisse und Renoir an. Wir besuchten den Panzerkreuzer Aurora, mit dem 1917 die Oktoberrevolution in Russland begann. Wir aßen Blini mit Kaviar in einem Restaurant an der Newa. Zum Abschied betete Larissa für mich, sie bat Gott, dass er mich bald nach Russland zurückschickte. Ich dankte ihr, doch ich ahnte, dass ihr Gebet vergeblich war.

Zu Hause in Hamburg packte ich den Koffer aus, legte die langen Röcke weg und ging einkaufen. Als ich die vollen Regale im Supermarkt sah, fand ich es wider Erwarten gar nicht so unangenehm, die Wahl zwischen fünf verschiedenen Sorten Kaffee zu haben.

Im Fernsehen liefen Sondersendungen. Helmut Kohl feierte sein Amtsjubiläum. Seit 1982 regierte er als Kanzler - mit 14 Jahren Amtszeit übertraf er den Rekord des konservativen Übervaters Konrad Adenauer. Sie nannten ihn den Kanzler der Einheit. Sie überschlugen sich mit Ehrerbietungen, als hätte er selbst die Mauer zum Einsturz gebracht. Die Ostdeutschen wurden nicht mehr gebraucht. Ich schaltete den Fernseher aus. Ich versuchte mein normales christliches Leben wieder aufzunehmen, morgens eine Andacht halten, die Bibel lesen, Jugendgottesdienste organisieren, Predigten hören.

Doch etwas hatte sich verändert. Die Reise fühlte sich schon wenige Tage nach meiner Rückkehr unwirklich an. Meine Freunde wollten wissen, wie es gewesen war, wie viele Leute ich bekehrt hatte, aber ich wich aus. Sollte ich die Wahrheit sagen?

Wie soll das schon gewesen sein, durch eine russische Stadt zu ziehen mit nichts anderem im Gepäck als der Parole: Hört auf Wodka zu trinken, ich hätte hier eine tolle Religion für euch. Ich hatte an hundert Türen geklopft und immer nur ein Njet gehört. Die Russen wollten keinen Heiland. Sie wollten einen Mercedes.

Ich schien besiegt, fühlte mich geschlagen, wieder. Von wem eigentlich? Was war das für ein Kampf, den ich unbewusst führte? War es der Kampf, den mir mein Vater mit 19 als Lebensinhalt prophezeit hatte? Gegen wen kämpfte ich, wer war mein Feindbild? Die Russen? Die Westdeutschen? Ihr Kapitalismus?

Es war nicht mein Kampf, es war ein Kampf, der lange vor meiner Zeit begonnen hatte. Es war, als müsste ich die Demütigung, die meine Eltern und ihre Generation erlebt hatten, wiedergutmachen, indem ich mich stellvertretend den neuen Werten verweigerte, aus einer Solidarität heraus, die weder eingefordert worden war, noch als solche verstanden wurde.

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Ich hatte keine Bomben gezündet, ich hatte Bibeln in Russland verteilt und von Jesus erzählt. Ich wollte etwas erreichen. Aber was genau?

Was ich als Niederlage erlebte, war für die Missionsgesellschaft ein Erfolg. Ich erhielt einen Brief, in dem ich gefragt wurde, ob ich mir ein Langzeit-Engagement vorstellen könnte. Der Brief lag ein paar Wochen auf meinem Schreibtisch, ohne dass ich ihn anguckte. Wie eine Rechnung, deren Bezahlung ich hinausschob. Vor der Russland-Reise hatte ich mir vorstellen können, dass es meine Berufung wäre, Missionarin zu werden. Ich war bereit gewesen, alles aufzugeben. Jetzt kam mir das ziemlich verrückt vor. Mein Einsatz war zu Ende, und es würde keinen zweiten geben. Ich würde nie wieder nach Russland zurückkehren, jedenfalls nicht als Missionarin. Das wusste ich damals schon, auch wenn ich es mir noch lange nicht eingestehen wollte.

Eines Tages nahm ich den Brief der Missionsgesellschaft, zerknüllte ihn und warf ihn weg. In die Erleichterung mischten sich schreckliche Zweifel: Wenn ich in dieser wichtigen Frage Gott falsch interpretiert hatte, wo hatte ich ihn sonst missverstanden? Woher wusste ich, dass Gott mit mir redete? Machte ich mir etwas vor?

Ich versuchte, die Gedanken zu verdrängen.

Meine Freundin Billy, die in Zungen betete und sonst im schwäbischen Dialekt sprach, warnte, der Teufel ginge herum und säe Zweifel in unseren kleinen Sünderseelen. Solche Sätze hatten mich vor einem Jahr noch beeindruckt, aber inzwischen klangen sie albern. Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Billy erinnerte mich an die Direktorin meiner Schule, die jede Diskussion abgeblockt hat. Sie hätte wohl auch als Parteisekretärin vor zehn Jahren gut funktioniert. Sie hätte »Teufel« nur durch »Klassenfeind« ersetzen müssen.

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Wer über Glaubenszweifel oder Fragen sprach, musste kein Tribunal fürchten oder eine plötzliche Verhaftung. Der Druck funktionierte unendlich viel feiner. Woche für Woche wurde den Gläubigen eingetrichtert, dass Zweifel, vereinfacht gesagt, nur dazu da waren, überwunden zu werden. Wem das nicht gelang, der glaubte nicht genug. Schuld an Misserfolgen war nicht Gott, sondern der Einzelne.

Je länger ich dabei war, desto mehr glaubte ich die Argumentation zu durchschauen. Ich sah die Gottesdienste in der Anskar-Kirche mit anderen Augen.

An einem Abend ging ein Mann nach vorn, bedächtiger Typ, Brille, Schnauzer. Er erzählte von einem schweren Unfall, den er vor Jahren hatte und bei dem er sich einen Schädelbasisbruch zuzog. »Mein Unfall steht in der Bibel«, erklärte der Mann eine Spur zu pathetisch und zeigte auf sein Buch. Er meinte einen Satz des Propheten Hesekiel: »Du sollst leben.« Ein Allerweltssatz, den der Mann auf sich bezog, um daraus Trost zu ziehen. Er erholte sich tatsächlich von seinen schweren Verletzungen. »Der Patient, der neben mir auf der Intensivstation lag, ist tot«, sagte der Mann, der sich auserwählt fühlte.

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, klatschten die Zuhörer begeistert. Alles Gefällige wurde mit Applaus bedacht.

Am Anfang hatte mir dieser dauernde Zuspruch gefallen, jetzt empfand ich die permanente Bestätigung als künstlich, oberflächlich und falsch. 

Ich bewegte meine Hände nicht, es war mir zu peinlich. Die Gottesdienste erinnerten mich immer mehr an Shows. Ich musste an den anderen Patienten denken, der gestorben war. Waren bibeltreue Christen die besseren Menschen? Ich dachte an Irina in Petrosawodsk, ihre Mutter, ihre Großmutter, sie glaubten nicht an Gott, hatten sie deshalb die Hölle verdient?

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Ich hatte zweimal in meinem Leben einen radikalen Wandel erlebt, erst die Wende, die große, historische, dann die persönliche, die Wandlung vom atheistischen DDR-Kind zur radikal-religiösen Rockträgerin. Eine Mauer war gefallen. Als mir die Welt dahinter nicht gefiel, hatte ich mich hinter einer neuen Mauer versteckt.

Die religiöse Welt bot Schutz, aber sie konnte auch ein Gefängnis sein.

Nachdem ich aus Russland zurückgekommen war, ging ich wieder öfter an die Universität. Ich traf mich häufiger mit Kommilitoninnen, die nicht in die Gemeinde gingen. Wir freundeten uns an.

Ich meldete mich im Rechenzentrum an und bekam die erste E-Mail-Adresse meines Lebens. Mein Lieblingsprofessor redete viel vom Internet, seinem Potenzial, die Bürger bei politischen Entscheidungen stärker einzubinden und die bestehenden Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen. Er sprach von »electronic democracy«, lange bevor mit den Piraten eine Partei gegründet wurde, die ihren Inhalt über digitale Kanäle bestimmte.

Es war schwer vorstellbar, dass dieses Internet, das ewig brauchte, um eine neue Seite aufzubauen, eine Revolution auslösen sollte. Ich konnte mir nicht mal meine E-Mail-Adresse merken, weil sie so lang und kompliziert war. Trotzdem riss mich die Begeisterung mit. Eine Revolution hatte ich schon erlebt, warum nicht eine zweite? Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass mich etwas außerhalb der christlichen Welt bewegte.

Ich wechselte die Gemeinde, und im Nachhinein kann man sagen, dass es mein erster Versuch war, dem Regelwerk zu entfliehen. Ich bin zwar von einem Tag auf den anderen zur wiedergeborenen Christin geworden, aber der Ausstieg dauerte länger.

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Anders als in den traditionellen Konfessionen war es einfach, innerhalb der Freikirchen hin und her zu wechseln. Es gab wenig feste Verbindlichkeiten, man musste sich bei niemandem an- oder abmelden.

Ich war zwar in der Anskar-Kirche getauft worden, bin aber nie Mitglied geworden, und habe als Studentin auch keine Beiträge bezahlt. Nur von Berufstätigen wird erwartet, dass sie zehn Prozent ihres Einkommens abführen. So finanzieren sich die Freikirchen. Irgendwann ging ich nicht mehr in die Anskar-Kirche, ohne dass es jemandem aus der Gemeindeleitung groß auffiel.

Ich wechselte in eine andere Freikirche, die kleiner und weniger bekannt als die Anskar-Kirche war. Sie gehörte zu dem gleichen Verbund von Gemeinden, in dem ich mein erstes ernst gemeintes Gebet gesprochen hatte.

Das Gemeindehaus lag am östlichen Stadtrand, und die Lage schuf ein ständiges Dilemma. In Hamburg-Jenfeld gab es viele Sozialhilfeempfänger und wenig Geld, während zur Gemeinde eher Gutsituierte gehörten, Ingenieure, Ärzte, Architekten. Jeden Sonntag fuhren die Gemeindemitglieder aus ihren feinen Vororten ins Problemviertel, parkten ihre großen Autos zwischen den Hochhäusern, immer in Angst vor einem Kratzer.

In Amerika hätte man vielleicht versucht, Gläubige aus den umliegenden Hochhäusern zu rekrutieren. Der frühere Pastor der Megachurch Mars Hill, Rob Bell, beschrieb einmal, wie er tagelang mit einer Gruppe Freunden durch ein Arbeiterviertel zog, an den Türen klingelte und fragte und Hilfe anbot. Eine Alleinerziehende schickte ihn schließlich dankbar zum Milchholen.

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Vielleicht lag es an der hanseatischen Kühle, aber das wäre in Jenfeld undenkbar gewesen. Angebote, die für bedürftige Menschen im Viertel attraktiv gewesen wären, wurden kaum gemacht, es gab keine Suppenküche oder Hausaufgaben-Hilfe. Es war fast, als fürchte man die Armen ein wenig.

Die Gottesdienste wirkten traditioneller, sie boten weniger sinnliche, ekstatische Erlebnisse als die Anskar-Kirche, keine Zungenrede, keine Wunderheilungen.

Mir gefiel vor allem, dass es viele junge Christen gab und einen Pastor, der Daft Punk mochte und Jeans trug.

Die Jugendgruppe organisierte einmal im Monat das »Holy Date«, ein Gottesdienst für junge Erwachsene am Samstagabend. Ich wurde schnell integriert, bastelte Dekorationen, suchte Kostüme in Secondhandläden und führte selbstgeschriebene Sketche auf. Doch ich merkte, dass ich mich auf die Organisationstreffen mehr freute als auf die Gottesdienste. Während der Predigt wanderten meine Gedanken weg.

Nicht-Christen kamen selten in die Gemeinde. Früher hatte mich das geärgert, jetzt war es mir egal. Ich las in der Bibel und spürte nichts mehr.

Trotzdem machte ich weiter.

Ich hatte Angst davor, mich aus der Gruppe zu lösen. Wieder allein zu sein. Die Welt hinter der Mauer bot ein Gefühl der Geborgenheit.

Mein Leben drehte sich um die Gemeinde, die längst meine Ersatzfamilie war. Ich wohnte mit meiner Freundin Ruth zusammen. Wir beteten mehrmals am Tag gemeinsam, wir teilten Gedanken und Freunde. In unserer Wohnung wurde es nie still, dauernd fanden Gebetstreffen und Andachten statt, an den Wänden pinnten Bibel- und Sinnsprüche.

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Die Wohnung war ein Treffpunkt für die Jugendgruppe, wie eine kleine Gemeinde in der Gemeinde. Wenn ich mich von der Kirche abwandte, würden sich die Menschen, die ich Freunde nannte, auch abwenden. Das verstand ich auf einmal. Das war, im Nachhinein gesehen, der Moment, an dem ich begriff, dass es sich bei den meisten nicht um echte Freundschaften handelte. Man wurde nicht so angenommen, wie man ist. Man konnte sich nicht entwickeln.

Ich verbarg meine wachsenden Zweifel. Ich hatte das Denken und Fühlen der Gemeinde so verinnerlicht, dass es mir nicht in den Sinn kam, über konkrete Schritte nachzudenken, wie ich die Gemeinde verlassen könnte. Meine eigenen Gefühle nahm ich kaum noch wahr. Ich hatte mir in den Jahren nach der Wende ein Image aufgebaut, mein Selbstbild als radikale Christin. Das wollte ich nicht aufgeben.

Im Herbst 1997 fiel mir in einem meiner Seminare an der Uni ein Junge auf. Es war ein Hauptseminar, an dem nur ein Dutzend Studenten teilnahmen, die sich auf ihre Diplomprüfungen vorbereiteten. Die meisten kannte ich inzwischen, es war eine offene Atmosphäre, es wurde viel diskutiert. Mit zwei, drei Kommilitoninnen hatte ich mich angefreundet, wir trafen uns auch mal zum Kino oder zum Kaffeetrinken.

Den Jungen hatte ich zuvor noch nie gesehen.

Das Semester lief seit sechs oder acht Wochen, und ich beobachtete ihn. Wir saßen im Seminarraum in einem Kreis, und er saß schräg gegenüber, die Sonne schien direkt in sein Gesicht. Ich freute mich auf jeden Dienstagvormittag, an dem ich ihn sehen würde. Ich kam ein paar Minuten früher, um sicherzustellen, dass ich einen guten Platz bekomme. Ich selbst hielt mich für unsichtbar, ich dachte nicht, dass er mich sehen könnte. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich auch unter der Woche an ihn dachte, während ich im Gottesdienst saß oder in der Bibel-Gruppe.

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Alexander war schmal, hatte braune Haare und einen melancholischen Blick. Oder das, was ich für einen melancholischen Blick hielt. In Wahrheit sah er immer so aus, wenn er in Gedanken versunken war. Alexander sagte wenig im Seminar, machte sich auch kaum Notizen, er hörte nur zu. Er war keiner der Studenten, die vor dem Professor eine Show abzogen. Mir gefiel das. Manchmal stellte er eine Frage, auf die ich nie gekommen wäre und die mir allein deshalb immens klug erschien.

Ich hätte ihn nicht angesprochen, aber dann stand er nach einem Seminar plötzlich vor mir. Er sagte etwas, und ich war überrascht, wie seine Stimme klang, klar und selbstsicher, gar nicht schüchtern. Er stellte mir eine Frage zum Seminar oder zur Hausarbeit, ich weiß nicht mehr, worum es ging, es war auch nicht wichtig. Ich wurde rot, aber nicht so leicht wie Erwachsene, sondern so, wie Kinder rot werden, mein Gesicht brannte. Mit Mühe bekam ich ein paar Worte heraus, unzusammenhängendes Zeug, und ich wich seinem Blick aus. Ich rechnete damit, dass er lieber jemand anders fragen würde. Doch er holte etwas zu schreiben heraus und riss einen Zettel aus seinem Block und schrieb eine Nummer und seinen Namen darauf. Alexander.

Er würde sich gern weiter mit mir unterhalten. Ich erschrak und fühlte mich sofort ertappt. Ich wollte den Zettel erst wegwerfen. Das wäre vernünftig gewesen, so hätte eine vorbildliche Christin gehandelt. Ich hätte ihm sofort sagen sollen, dass ich nicht verfügbar war. Aber ich steckte den Zettel ein. Die Nummer könnte nützlich sein, wenn ich Hilfe bei einem Seminar brauche, redete ich mir ein.

Als ich nach Hause kam, schloss ich meine Zimmertür hinter mir und starrte auf den Zettel. Ich war hin- und hergerissen zwischen meinen Gefühlen und den Vorgaben der Kirche.

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An einem Tag musste ich nicht in die Uni, ich saß zu Hause und wollte lernen, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab, zu dem Zettel. Ich studierte Alexanders Handschrift, mit der er seinen Namen geschrieben hatte. Große, eckige Druckbuchstaben.

Ich legte mir Argumente zurecht, warum ich ihn treffen dürfte. Wir könnten uns über das Seminar unterhalten. Wir könnten einen Film sehen. Ich könnte ihm von Jesus erzählen.

Was sollte Gott dagegen haben?

Und dann machte ich etwas völlig Verrücktes: Ich wählte seine Nummer. Wir verabredeten uns, für Montagabend.

Dieses Detail beruhigte mich, Montag war der Beginn der Woche, ein Arbeitstag. Verliebte treffen sich am Samstag, nicht an einem Montag. Mein Date war gar kein Date, sondern eine Art Studientreffen. Meiner Mitbewohnerin sagte ich vorsichtshalber trotzdem nichts davon.

Normalerweise hatte ich keine Geheimnisse vor ihr. Aber ich hatte Angst, sie würde mich von dem Treffen abbringen wollen. Davon ging ich zumindest aus, denn so hätte ich reagiert, wenn sie mit einem Nicht-Christen hätte ausgehen wollen.

Ich konnte in den Tagen vor der Verabredung kaum essen und mich nicht konzentrieren. Ich lief unruhig durch die Wohnung, putzte das Bad jeden Tag. Mit der Arbeit, die ich für die Uni schrieb, kam ich nicht weiter, ich starrte auf den weißen Bildschirm. 

In meinem Kopf spielte ich durch, wie weit ich an dem Abend gehen würde. Würde ich ihn küssen? Sobald der Gedanke aufkam, schämte ich mich dafür. In der Kirche hatte ich gelernt, dass schon ein Gedanke ein Betrug sein konnte. Gott sieht alles.

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An dem Abend des verbotenen Dates war meine Mitbewohnerin nicht zu Hause. Ich stand vorher vor meinem Kleiderschrank, der mir auf einmal sehr leer vorkam. Es hatte lange keine Gelegenheit gegeben, sich schick zu machen. Am Ende entschied ich mich für einen anthrazitfarbenen Rollkragenpullover, den ich kurz nach der Wende gekauft hatte und in dem ich mich sicher fühlte. Dazu Jeans. Ich war nervös, ich spürte, wie mein Herz klopfte, als ich zum Bus ging.

Alexander hatte ein portugiesisches Fischrestaurant im Schanzenviertel ausgesucht. Wir redeten viel, um die Nervosität zu überspielen, doch mit der Zeit wurde es leichter. Vielleicht lag es auch an dem Rotwein. Ich hätte ihn stundenlang nur beobachten können, ich mochte es, wie er sich eine Zigarette anzündete, wie er sich die Haare hinter das Ohr strich, ich versuchte, so viele Details wie möglich aufzusaugen, ich musterte die blaue Packung, französisch, Gauloises. Später gingen wir in eine Bar und dann zum Hafen.

Manchmal dachte ich an die Gemeinde, an Jesus, wie an einen eifersüchtigen Ehemann, aber ich verdrängte die Gedanken schnell.

Wir kletterten im Mondschein auf die Barkassen, die im Wasser lagen. Er nahm meine Hand und er küsste mich. Das passierte alles, ohne dass wir groß drüber redeten. Es war nicht meine Entscheidung - oder wenn, dann hatte ich diese Entscheidung schon vor längerer Zeit getroffen, als ich den Zettel mit seiner Telefonnummer nahm.

Ich glaube, es ging auch nicht speziell um diesen Mann, der sich nicht besonders um mich bemüht hatte, dem ich alles viel zu leicht machte, der nur ein paar nette Worte sagen musste, es ging um diesen Moment, um diese Stille. Als wir uns küssten, verstummten die Stimmen in meinem Kopf, die mir sagten, was ich zu tun hatte, was ich zu lassen hatte.

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Was falsch war, was richtig war, was Gott gefiel, was Gott nicht gefiel. Ich stand einfach nur da, die Augen geschlossen.

Minuten vergingen, Stunden. Als ich die Augen wieder aufmachte, standen wir vor seiner Wohnung, sie lag in einem unscheinbaren Neubau im Osten Hamburgs. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hierhergekommen war, ich war es nicht gewöhnt, Alkohol zu trinken. Er öffnete die Tür und zog mich hinein. Ich wehrte mich der Form halber noch ein bisschen, dann gab ich auf.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag Alexander neben mir und rauchte. Ich habe nie verstanden, wie man noch vor dem ersten Kaffee eine Zigarette rauchen kann, ohne dass einem schlecht wird. Ich sah mich um, es war eine spartanische, ein wenig eingestaubte Männerwohnung, Bett, Schrank, Schreibtisch, kein Fernseher. Die einzigen persönlichen Gegenstände, die ich sah, waren Bücher und Schallplatten.

Ich wartete, bis Ruth auf dem Weg zur Arbeit war, bevor ich in die WG zurückkehrte. Die Bibelsprüche an den Wänden schienen mich anzuschreien: Verräterin. Am liebsten hätte ich mich im Schrank versteckt. Ich fühlte mich schuldig, wie eine Ehebrecherin. Ich fühlte mich, als hätte ich mein Leben zerstört, nur leider war ich nicht gestorben, sondern lebte weiter, sogar doppelt.

Ich ging weiter in die Gemeinde, gab die brave Christin, und wenn ich zu Alexander ging, stellte ich alles in Frage.

Er gab mir, was mir in der Gemeinde fehlte. Er las die Zeitung, er konnte ebenso klug über Habermas wie über Oasis und Blur reden. Er erzählte von New York und spielte mir Musik aus den siebziger Jahren vor, Velvet Underground, Nico, Iggy Pop.

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War ein Song zu Ende, blieb er noch Sekunden danach still, als würde er in die Stille hineinhorchen. Er musste nicht sofort applaudieren, er konnte Dinge genießen, annehmen.

Sein Leben war nicht perfekt, ich hatte keine Ahnung, wovon er seine Miete bezahlte und was er nach der Uni machen wollte. Er schien sich darüber keine Sorgen zu machen.

Ich erfuhr, dass er aus dem Westen kam, aus einer kleinen Stadt in Hessen, seine Familie besaß seit Ewigkeiten eine Fabrik. Ich fragte ihn nach seinen Eltern und nach seinen Geschwistern aus, von mir erzählte ich wenig. Es spielte zwischen uns keine Rolle, woher wir kamen. Obwohl, ich war ein wenig stolz darauf, mit einem West-Mann zusammen zu sein, auch wenn ich nicht hätte sagen können, was ihn speziell als West-Mann auszeichnete. Vielleicht dieses Selbstbewusstsein, dass alles schon gut wird? Eine gewisse Verschlossenheit, eine Scheu, seine dunklen Seiten zu zeigen?

Wir verbrachten viel Zeit bei ihm zu Hause. Wenn ich nachmittags aus der Bibliothek kam, dann lag er oft noch im Schlafanzug im Bett und las Autoren, die ich nicht kannte, Hunter S. Thompson oder Kurt Vonnegut. An anderen Tagen kaufte er ein und verschwand danach für mehrere Stunden, um ein großes Essen zu kochen und Freunde zu bewirten. Er war mit lauter interessanten Journalisten befreundet.

Je besser ich Alexander kennenlernte, desto perfekter erschien er mir. Er war der Typ Mann, mit dem ich alt werden wollte. Ich träumte davon, ihn meinen Eltern vorzustellen. Ich malte mir aus, wie wir das Dorf meiner Eltern besuchen würden. Ich und mein West-Mann. 

Über seinen einzigen Makel, seinen Unglauben, sah ich großzügig hinweg. Verliebt zu sein machte alles andere auf einmal unwichtig.

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Wir diskutierten viel über Religion, er forderte mich heraus, stellte meine Wahrheiten in Frage. Er war selbst in einer streng religiösen Familie aufgewachsen und hatte sich, als er älter wurde, mit Philosophie und liberaler Theologie beschäftigt.

Er fand es eigenartig, dass ich, eine erwachsene, intelligente Frau, mir so viele Vorschriften machen und Schuldgefühle einreden ließ. Er wollte wissen, wer in der Hölle landen würde und wie sie aussah. Er fragte, warum die evangelikalen Christen so besessen sind, das Privatleben anderer zu regeln. Warum jagen sie Homosexuelle, warum attackieren sie Ärzte von Abtreibungskliniken?

Ich wiederholte Standardargumente, die ich mir in der Gemeinde antrainiert hatte. Aber meine eigene Stimme klang hohl und nicht überzeugend.

Eines Abends, als wir uns über die Gemeinde unterhalten hatten und ich immer defensiver wurde, hatte Alexander gesagt, mir fehle Ambiguitätstoleranz. Ich musste das Wort wiederholen: Am-bi-gui-täts-toleranz. Ich hatte das noch nie gehört. Vereinfacht gesagt bedeutet es die Fähigkeit, Spannungen und Widersprüche auszuhalten. Zu erkennen, dass man sich im Leben oft nicht zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß entscheiden kann, dass es Grauzonen gibt. Ich musste später öfter daran zurückdenken. An meine mangelnde Ambiguitätstoleranz. Einmal hatte ich Alexander mit in den Gottesdienst genommen. Ich wollte ihn nicht missionieren, sondern ihm einen Teil meines Lebens zeigen. Vielleicht wollte ich auch, dass alle wissen, dass ich einen Freund habe. Einen verbotenen.

Aus Sicht der Gemeinde hatte ich die Regeln gebrochen. Es gab eine Krisensitzung der Leitung, in der über mich gesprochen wurde. Die Ältesten berieten, wie es mit mir weitergehen solle. Die Bestrafung sah so aus, dass ich keine Jugendgottesdienste mehr organisieren durfte, weil ich kein Vorbild mehr sein konnte. Meine Mitbewohnerin musste mir das Urteil überbringen. Ich wurde nicht mal angehört.

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Es war kein richtiger Rauswurf, aber die Stimmung änderte sich. Die Menschen, die ich als Freunde betrachtet hatte, gingen auf Distanz. Gespräche verstummten, wenn ich den Raum betrat. Ein paar Jungs machten sich über mich lustig. Es geschah mir recht. Ich war diejenige gewesen, die anderen Sex verboten hatte. Ich hatte es gutgeheißen, wenn junge Männer in Seminaren von ihrer Homosexualität »geheilt« werden sollten.

Zu Treffen wurde ich nach einer Weile nicht mehr eingeladen. In gewisser Weise konnte ich die Reaktion verstehen. Die Gemeinschaft war wichtiger als der Einzelne und musste geschützt werden. Doch ich wollte nicht mehr in die Enge der Gemeinschaft zurück. Durch die Uni, durch Alexander war Licht hinter die Mauer gekommen.

Im Mai 1998 hatte ich meine letzte Uni-Prüfung. Es war ein sonniger Tag, ich zog mein neues blaues Blumenkleid an, das ich extra für den Anlass gekauft hatte. Ich war zuversichtlich, dass ich die Prüfung bestehen würde. Alexander hatte mir in den Tagen zuvor geholfen, hatte mich bekocht, hatte die Themenfelder abgefragt, hatte mir zugehört.

Nach dem Examen wartete er vor dem Gebäude neben dem Kino Abaton, einen Blumenstrauß in den Händen. Als ich ihm sagte, dass ich bestanden hatte, umarmte er mich. Wir gingen in seine Wohnung, er hatte Sekt zum Feiern gekauft. Ich war stolz auf das, was ich geschafft hatte. Die Angst, nach der Uni Taxi fahren zu müssen, hatte sich aufgelöst. Mein Vater, der gesagt hatte, dass das Leben ein Kampf sei, hatte recht gehabt, aber er hatte die falsche Schlussfolgerung gezogen, nämlich dass eine Niederlage unausweichlich war. Aber es stimmte nicht, es lohnte sich zu kämpfen, sich zu wehren. Ich fühlte mich an dem Tag meines Abschlusses unbesiegbar, das Leben schien leicht.

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Ich hatte mich bei mehreren Verlagen um ein Volontariat in Hamburg beworben. Ein anderer Ort kam für mich nicht in Frage, wegen Alexander. Ich verschickte meinen Lebenslauf und Arbeitsproben an verschiedene Verlage. Als Erstes wurde ich zum Vorstellungsgespräch bei der Frauenzeitschrift petra eingeladen. Ich mochte Magazinjournalismus, hatte während des Studiums bereits für eine andere Zeitschrift geschrieben.

In der Bibel war die Frau bescheiden, tugendhaft, keusch. In der petra war die Frau genusssüchtig, extravagant, emanzipiert. Es gab eine Rubrik mit dem Namen »Männer zum Bestellen«. Man konnte darin blättern wie in einem Katalog, unter den halbnackten Fotos der Männer standen biografische Angaben (Gewicht, Größe, Beruf) und eine Hotline-Nummer. Es schien mir ein Omen zu sein, wie wenig petra und ich zusammenpassten, dass ich an jenem Tag, an dem ich zum Vorstellungsgespräch in den Verlag musste, einen grauenvollen Ausschlag bekam, mein ganzes Gesicht war mit Pusteln bedeckt.

Ich schmierte mir Make-Up auf die Haut und machte damit alles noch schlimmer.

Als ich den Verlag betrat, merkte ich sofort, dass ich falsch angezogen war, ich trug einen schwarzen Blazer, weiße Bluse und einen schwarzen Rock. Ich sah aus wie eine Kellnerin.

Im Chefbüro warteten zwei Frauen auf mich, die eine etwas älter, eher rundlich und mütterlich, die andere, die einen komplizierten Doppelnamen trug, war dünn, stark geschminkt und hatte Stilettos an den Füßen. Sie blickten nicht unfreundlich. An der Wand hingen die Cover der letzten zwei Jahre.

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Das Mai-Heft empfahl »zwanzig Wege zu kosmischen Orgasmen«. Ich zwang mich wegzuschauen und rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her, ich balancierte die Kaffeetasse zu meinen Lippen, immer auf der Hut, nichts auf die weiße Bluse zu verschütten.

Die Chefinnen gingen meinen Lebenslauf durch, am Ende fragten sie, ob es etwas gebe, was mir an der petra nicht gefiele. Ich überlegte kurz, ob ich ehrlich sein sollte, aber während ich nachdachte, musste ich immer wieder auf die Wand mit den Orgasmen gucken.

Wenn ich hier arbeiten soll, brach es aus mir heraus, werde ich nie über kosmische Orgasmen schreiben.

Die Chefredakteurinnen guckten sich an, etwas perplex, aber sie widersprachen nicht. Dann standen sie auf und schüttelten meine Hand. Ich war fest davon überzeugt, dass sie mich ablehnen würden. Aber sie boten mir einen festen Job an. Ich nahm ihn an, auch wenn meine Eltern nicht verstanden, warum ich jahrelang Politik studiert hatte, um dann bei einer Frauenzeitschrift über Lippenstifte zu schreiben. (Dass ich nicht über Lippenstifte schreiben sollte, sondern über Sex und Popstars, machte die Sache aus ihrer Sicht nicht besser.)

Wenige Tage, bevor ich die Stelle antreten sollte, stand Alexander vor meiner Tür, der Blick ernst und distanziert. Er war gekommen, um die Beziehung zu beenden. Ich war geschockt.

Danach spielte ich in meinem Kopf Dialoge durch, was ich zu Alexander sagen würde, wenn ich ihn wieder traf. Nach ein paar Tagen rief ich ihn an und holte meine Sachen aus seiner Wohnung. Er lag auf dem Bett und rauchte, während ich meine Tasche packte. Wir sprachen nicht und sahen uns nicht wieder.

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Wie sollte es weitergehen? Ich fühlte mich zu stolz, um in die Gemeinde und zu ihren Regeln zurückzugehen. Ich wollte meinen vermeintlichen Freunden nicht den Triumph gönnen, dass sie mit ihrer Meinung über Ungläubige richtiglagen. Ich hätte eingestehen müssen, einen Fehler gemacht zu haben, ich hätte Abbitte leisten müssen.

Doch es war zu viel passiert. Ich wollte mir von niemandem mehr vorschreiben lassen, wie ich zu leben habe, weder von einer Partei noch von einer Kirche oder sonstigen Institutionen.

Im Nachhinein war es vielleicht mein Glück gewesen, dass Alexander die Beziehung beendete. Er zwang mich, unabhängig zu werden, das Alleinsein auszuhalten.

Ich zog aus der christlichen WG aus und suchte mir eine kleine Wohnung. In der Zeitschriftenredaktion litt ich still. Trotz des Abschieds von der Gemeinde war ich noch immer sehr konservativ. Ich hasste die expliziten sexuellen Inhalte, wollte mir das aber auch nicht anmerken lassen und auf meine neuen Kolleginnen uncool wirken.

Ich kam mir wie einer dieser Terroristen-Schläfer vor, die sich verstellen müssen, damit ihre Tarnung nicht auffliegt. Es war schizophren. Einmal hatte die Zeitschrift einen Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem Leserinnen selbstgeschriebene Porno-Drehbücher einreichen sollten. Die drei besten würden auf Kosten des Verlages verfilmt werden. Die Volontärinnen stellten die Jury, ich musste alle Drehbücher lesen. Es waren über zweihundert.

Meine Sabotage bestand darin, dass ich die Bücher mit den heftigsten Szenen aussortierte und nur die romantischen an die Chefredaktion weiterreichte. Die ganze Zeit mahnte mich eine Stimme im Ohr, wie verboten das sei, was ich da mache. War das Gott? Mein schlechtes Gewissen? 

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Ich versuchte die Stimme zu unterdrücken. Nach und nach wurde sie leiser. Ich freundete mich mit meinen Kolleginnen an, ich unternahm Dienstreisen nach London und Mailand, ich bekam ein festes Gehalt. Ich ließ mich auf die neue Welt außerhalb der Mauer ein.

Der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, der den Bestseller Gefühlsstau geschrieben hat, sagt, dass die Kinder im Osten diszipliniert und anpassungsfähig sein sollten. Im Westen wurden sie auf Konkurrenz und Durchsetzungsfähigkeit gedrillt, nach dem Motto: Sei stark, setz dich durch, dominiere. Beide Methoden erzeugten einen ähnlichen inneren Druck. Wie und ob er abgebaut wird, hänge vom späteren Erfolg im Beruf oder in der Gesellschaft ab, meint Maaz.

Ich hatte das Glück, einen Beruf zu finden, der mir das erlaubte, und Freundschaften, in denen ich mich entwickeln konnte. Ich kam in der bundesdeutschen Realität an.

Doch was kann passieren, wenn man dieses Glück nicht hatte? Wenn man keine Arbeit hatte, die Anerkennung und Sicherheit gibt? Was macht der Druck, von dem der Therapeut Maaz spricht, dann aus einem? Was wäre, nur als Gedankenspiel, aus Beate Zschäpe geworden, wenn sie als 16-Jährige 1991 eine Lehrstelle in ihrem Traumberuf gefunden hätte - und Kindergärtnerin geworden wäre? Was wäre aus Uwe Böhnhardt geworden, wenn er seinen ersten festen Job nicht gleich nach einem Monat wieder verloren hätte? Wären sie trotzdem 1998 untergetaucht?

Ich lernte nach und nach ein Land voller Selbstillusionen und Selbsthass kennen. Ein Land, das neun Jahre nach der Wende so lebte, als wäre die Uhr im Jahr 1989 stehengeblieben, als sei die Mauer nie gefallen.

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Die DDR hieß nun »die neuen Länder«. Es klang wie »die neue Welt«. So hatten die Spanier ihre Kolonien bezeichnet. In den Osten überwies man viel Geld, um Straßen und Häuser zu renovieren, wollte aber von den Problemen der Menschen verschont werden.

Deutschland, lernte ich, war ein Land, in dem man jedem misstraute, der nicht so war wie man selbst. In der Redaktion, auf Dienstreisen, auf Partys traf man nie Ostler. Oder auch Ausländer. Obwohl Deutschland nach dem Regierungswechsel zu Rot-Grün nun endlich auch offiziell ein Einwanderungsland geworden war, blieb man am liebsten unter sich.

Ich wollte trotzdem nicht zurück in die Gemeinde, erfand Ausreden, nicht mehr in den Gottesdienst zu gehen.

Es gab ein Erlebnis, das besonders einschneidend war: Ich besuchte Ruth, meine ehemalige Mitbewohnerin, die inzwischen eine neue christliche WG gegründet hatte. Es war ein Nachmittag an einem Samstag, schon später im Jahr, es wurde früh dunkel. Ruths Mitbewohnerin hatte Besuch, sie saßen in der Küche und besprachen den nächsten Jugendgottesdienst. Ruth führte mich in ihr Zimmer, es war ruhig, mit hellen Möbeln aus Birkenholzfurnier eingerichtet. Überall hingen Bibelsprüche. Ich nahm auf dem Sofa Platz, lehnte mich aber nicht zurück, sondern saß nervös auf der Sofakante.

Ruth kochte Tee, sie zündete Kerzen an. Alles sollte gemütlich sein, aber trotzdem lag eine Spannung im Raum. Sie hatte mich angerufen, hatte christliche Bücher geschickt, aber ich hatte darauf nicht reagiert. Mir war das unangenehm. Während ich darüber noch nachdachte, klingelte es an der Tür.

Ich hörte nur eine weibliche Stimme. Sie wolle zu Ruth, sagte sie. Nein, sie sagte das nicht. Sie schrie, hämmerte an die Tür. Eine von den Typen, die meine ehemalige Mitbewohnerin gern aufsammelte.

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Das Mädchen war vielleicht 16, pummelig, stoppelige Haare, schmutziges Sweatshirt. Nach einer Weile fiel mir auf, dass sie ihre rechte Unterlippe nicht richtig schließen konnte. Über ihrem linken Auge hatte sie eine Narbe. Sie war angeblich in einer Satanisten-Familie im Osten aufgewachsen; als ihre Eltern sie ihrem Kult opfern wollten, war sie weggerannt und lebte seitdem auf der Straße. So weit die Geschichte, die sie erzählte. Ich glaubte ihr kein Wort.

Jetzt stand das Satanskind im Flur und schrie und tobte. Sie rannte in das Wohnzimmer, warf sich auf den Boden. Sie riss den Kopf nach hinten und zitterte, vor dem Mund bildete sich Schaum.

Mein erster Gedanke war: Drogen. Aber ich blieb mit dieser Meinung allein. Die vier, fünf Freunde, die zu Besuch waren, um den nächsten Gottesdienst zu besprechen, bildeten eine Gebetsgruppe in der Küche. Ruth blieb bei dem Mädchen und hielt die Hände flach über ihren Körper, während sie immer wieder murmelte.

Jesus steht über allem. - Jesus steht über allem. - Jesus steht über allem.

Ich fand das unheimlich und unterbrach sie, wollen wir nicht einen Krankenwagen rufen? Danach ging alles sehr schnell.

Jemand holte einen deutsch-türkischen Konvertiten aus der Gemeinde, der in der Nachbarschaft wohnte und der mir in der Jugendgruppe bisher nur wegen seiner sexuell anzüglichen Bemerkungen aufgefallen war. Er fasste Frauen gern mal an die Brust und kannte sich offenbar auch mit dem Teufel aus.

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Er kam und schloss sich mit dem Mädchen in Ruths Zimmer ein. Dann kam ein Krankenwagen. Ich weiß nicht mehr, wer ihn gerufen hatte. Der Nachmittag verschwand im Nebel. Das Mädchen war inzwischen ruhiger geworden, sie röchelte. Zwei Sanitäter hoben sie auf eine Trage, legten sie an einen Tropf und schleppten sie ins Auto.

Ruth rühmte sich, dass sie mit ihren Worten den Teufel eingeschüchtert hatte. Das Mädchen sei durch ihre Gebete ruhiger geworden. Aber ihr fehlte die letzte Kraft, um dem Satan zu trotzen. Ich starrte die Leute an, die früher meine Freunde gewesen waren: Sie umarmten sich, als hätten sie etwas Großartiges geleistet, einen Berg erklommen, ein Mittel gegen Krebs gefunden, einen Krieg gewonnen. Sie fielen einander ins Wort. Um das Mädchen ging es nicht, es war unwichtig, ob sie sterben oder weiterleben würde.

Die Teufelsaustreibung hatte vielleicht bei dem Mädchen nicht funktioniert, aber auf mich wirkte sie nachhaltig. Ich bekam keine Luft, ich wollte nur noch weg. Weg aus dieser Wohnung, von diesen Freunden, von dieser Kirche.

Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit, zog das Volontariat durch und wurde als Redakteurin übernommen. Doch in Hamburg wurde ich nicht mehr heimisch.

Ich kündigte meine Stelle bei der petra, ohne einen neuen Job zu haben. Ich packte meine Sachen. Die Bibeln, die Traktate und Schriften, die langen Röcke und die Jesus-CDs kamen in eine Kiste. Eine Jesus-Kiste.

Ich rief meinen Vater an, mit dem ich seit langer Zeit nicht gesprochen hatte. Nicht mal zum Uni-Abschluss hatte ich etwas von ihm gehört. Ich fragte ihn, ob er mir beim Umzug hilft, und er zögerte keine Sekunde. Ich glaube, er genoss es, aus dem Dorf herauszukommen. 

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Als die Mauer fiel, hatte er gehofft, dass er nun mehr reisen könnte. Aber weiter als bis nach Amsterdam, 1991, ist er nicht gekommen. Er fragte nicht, was passiert war, vielleicht, weil er Angst vor der Antwort hatte, vor den Vorwürfen, die ich ihm machen könnte.

Er kam an einem Samstag mit einem alten gelben VW-Bus, den er sich vom Nachbarn aus dem Dorf geliehen hatte. Als er aus dem Auto stieg, trug er einen blauen Arbeitsanzug und einen Werkzeugkasten.

Mein Vater und ich packten die Kisten, auch die Jesus-Kiste, in den Wagen und fuhren nach Berlin. Auf der Fahrt schaute ich aus dem Fenster, und je näher wir Berlin kamen, je dichter die Kiefernwälder wurden, je mehr die Häuser dem Haus ähnelten, in dem ich aufgewachsen bin, je mehr Autos mit Dreibuchstaben-Kennzeichen ich sah, desto froher wurde ich. Vielleicht gab es Schlimmeres als einen Vater, der sich von Arbeits­beschaff­ungsmaßnahme zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hangelte. Vielleicht stimmte es gar nicht, dass meine Heimat verschwunden war. Vielleicht hatte ich mich nur abgewandt. Ich war verschwunden gewesen.

Ich dachte daran, wie ich versucht hatte, jemand anders zu werden. Ich dachte an die Studentin, die mich gefragt hatte, ob meine Eltern bei der Stasi waren, ich sah mich im weißen, nassen Gewand im Taufbecken, ich sah mich, wie ich auf dem Campus in Hamburg Bibeln verteilte, ich sah mich, wie ich in Russland bei Irina im Wohnzimmer saß und ihre Oma gefragt hatte: Ost oder West? Ich dachte, wahrscheinlich wird mir diese Frage noch sehr oft gestellt werden. Ich dachte an Alexander, auf den ich noch wütend war. 

Aber ich war mir ganz sicher, dass ich mich wieder verlieben würde. Das Leben war kein Roman. Es endete nicht mit einer Trennung.

Ich hatte bereits von Hamburg aus eine neue Wohnung in Prenzlauer Berg gefunden. Ich würde sie mir mit einer Studienfreundin aus Hamburg teilen. Die Kisten mit dem Jesus-Material stellte ich in den Keller und fasste sie nicht mehr an. Ich sah meine Eltern nun regelmäßiger, und ich erzählte ihnen von dem, was ich in Berlin erlebte. Wenn ich sie am Wochenende besuchte, betete ich nicht mehr vor dem Essen, ich ließ auch nicht Jesus in das Gespräch einfließen. Als hätte es die Freikirche nie gegeben. Es gab keine große Aussprache, aber ich spürte, dass meine Eltern erleichtert waren. Irgendwann sagte mein Vater, dass er sich Sorgen gemacht hatte, als ich mit der Bibel unter dem Arm herumlief. »Das Religiöse war für mich etwas vollkommen Fremdes. Aber was sollte ich machen, du warst ja erwachsen.«

Es war das Jahr 1999, zehn Jahre waren nach der Wende vergangen. Fünfzehn Jahre hatte ich hinter einer steinernen Mauer verbracht, fünf weitere Jahre hinter einer gedachten. Ich war jetzt 25, bald würde ein neues Jahrtausend beginnen. Es war Zeit für eine neue Wende.

Am 15. Februar 2001, einem Donnerstag, hatte ich meinen ersten Arbeitstag in der Redaktion der <Berliner Zeitung>. Vor vielen Jahren war die Redaktion der <Berliner Zeitung> die Patenbrigade der Schule meines Dorfes gewesen, der bekannte, umstrittene DDR-Reporter Karl-Heinz Gerstner war regelmäßig zu Veranstaltungen gekommen. 2001 galt die Redaktion der Berliner Zeitung als einzigartiges »Ost-West-Labor«, das heißt, es gab ungefähr ebenso viele ostdeutsche wie westdeutsche Redakteure, die sich täglich in der großen Konferenz Redeschlachten lieferten. Ich ging in das Hochhaus am Alexanderplatz, ein Monument der DDR-Architektur, und fuhr in den 12. Stock an meinen neuen Arbeitsplatz, ein mit Zeitungen und Videofilmen vollgestopftes Büro am Ende eines langen Ganges.

Mein Büro teilte ich mir mit zwei Kollegen, einer kam aus Pankow, der andere aus Bonn. In der Ecke stand ein Extra-Rechner, wir nannten ihn Multimedia-Computer, und darauf war ein Musik-Sharing-Programm namens Napster installiert. Über Ost und West redeten wir erst mal nicht.

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 Ende

  wikipedia  Karl-Heinz_Gerstner   1912-2005 

 

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