Angaben aus der
Verlagsmeldung
Miese Stimmung : Eine Streitschrift gegen
positives Denken / von Arnold Retzer
Wider den Zwang zur Selbstoptimierung!
Wir alle stehen unter dem Diktat des positiven
Denkens. Noch nie konnten wir angeblich so einfach unser Glück finden,
wir müssen es nur wollen, es liegt in unserer Hand! Selbstoptimierung ist
Pflicht. Die Konsequenz: Depression und Burn-out! Der renommierte Arzt und
Psychologe Arnold Retzer zeigt uns einen Weg aus dieser Falle: ein
provokantes und ungemein befreiendes Buch.
»Sein Essay macht Mut, den eigenen Reserven,
Rückschlägen und Vorstößen mehr zu vertrauen als den Programmen,
Pillen und Propheten der Glücks- und Erfolgsindustrie.« (Die Welt)
»Eine rasante Abrechnung mit der gesellschaftlich
geforderten Selbstoptimierung« (Deutschlandradio Kultur)
Inhalt
Einstimmung:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin (9)
1
Lebensziel: Heldentod (15)
2 Wir hoffen uns zu Tode (31)
3 Wir hoffen uns bankrott (57)
4 Lob der Angst (75)
5 Lob des Irrtums (105)
6 Von toten Gäulen soll man absteigen (131)
7 Trauma, Katastrophen und das posttraumatische Wachstum
(147)
8 Hirndoping: Stimmt die Chemie, stimmt auch die Stimmung!
(165)
9 Gebrauchsanleitung zur Herstellung von Depressionen (211)
10 Die biologische Entsorgung von Depressionen (245)
11 Ausstieg aus der Depression: Wut und Tränen (255)
12 Unsere depressive Erfolgsgesellschaft (281)
13 Auswege, Umdenken, Ablassen - Was tun? (293)
Anmerkungen
295
Literatur 325
Die
Hoffnung muss sterben
Deutschlandradio
Kultur Interview 17.08.2015 Lebensqualität
deutschlandradiokultur
lebensqualitaet-die-hoffnung-muss-sterben
Hoffen
dürfen wir - solange uns das Leben nicht eines Besseren belehrt
Hoffen
tun wir alle – und manchmal viel zu viel, meint der Psychologe,
Therapeut und Autor Arnold Retzer. Er plädiert stattdessen für eine
"resignative Reife". Retzer
hat sich ausführlich mit der Hoffnung beschäftigt – und versucht sie
uns zu nehmen.
Hoffen
sei eigentlich in Ordnung, meint er. Doch oftmals stellt sich Hoffnung
nicht als realitätstauglich heraus. Und dennoch werde an ihr
festgehalten. "Blödheit, Dummheit, das Ignorieren von Informationen,
Schönfärberei" und das Abstellen jeder Vernunft sei eine gute
Möglichkeit, auf Dauer weiter zu hoffen, meint Retzer.
"Die
Hoffnung ist eine notwendige pubertäre Glaubensvorstellung
unaufgeklärten Größenwahns", sagt er. Behalte man sie wider
aller Erfahrung bis ins hohe Alter aufrecht, habe man ein ernstes Problem.
Retzer empfiehlt eine "resignative Reife" als Lebenshaltung. Im
Grunde reiche es, "auf die Anstrengung zu verzichten, dumm zu
bleiben". Wer jahrzehntelang darauf hofft, dass der Partner sich doch
noch ändert, macht nach Retzers Logik einen schweren Fehler. Erst das
Aufgeben dieser Hoffnung führe zu mehr Lebensqualität.
Nana
Brink: Das kennen Sie bestimmt, das Sprichwort: Die Hoffnung stirbt
zuletzt.
Es
ist aber auch so etwas wie eine, kann man sagen, universelle Redensart.
Uwe Seeler führt den Spruch gern im Munde, wenn es etwa um die Chancen
seines HSV geht. Der Rapper Bushido – ist ja nicht gerade ein
romantisches Seelchen – hat ein Lied darüber geschrieben, und in der
aktuellen Griechenland-Krise hat dieses Stichwort Schlagzeilen gefüllt. Hoffnung
als Lebensprinzip.
Heute
Abend nun beginnt eine ARD-Sendereihe zu diesem Thema, wie die Deutschen
daran glauben, an das Prinzip Hoffnung.
Das
Gespräch im Wortlaut:
Brink:
Jetzt war ich gerade noch so hoffnungsvoll, bis ich dann gelesen habe in
Ihrem Buch: "Hoffnung erzeugt eine Binnenrationalität der Hoffenden,
die man auch Blödheit nennen könnte." Kurz gefasst: Bin ich doof,
wenn ich hoffe?
Retzer:
Prinzipiell nicht. Außerdem kenne ich Sie ja nicht so gut, insofern
will ich eines endgültigen Urteils mich da auch eher zurückhalten.
Ich
glaube auch nicht, jeder, der hofft, ist prinzipiell blöd. Aber man
muss sich natürlich schon die Frage stellen, wie man Hoffnung auf Dauer
stellt bzw. wie man es schafft, eventuell wider Lebenserfahrung weiter
zu hoffen.
Und
da ist möglicherweise Blödheit, Dummheit, das Ignorieren von
Informationen, Schönfärberei, kurz, das Abstellen der Vernunft eine
gute Möglichkeit, auf Dauer weiter zu hoffen, obwohl das Leben ständig
sein Veto gegen diese Hoffnungsillusionen einlegt.
Brink:
Habe ich Sie denn richtig verstanden, dass, wer hofft, dann nicht mehr
seine Rationalität bemüht?
Retzer:
Nicht prinzipiell. Man kann schon hoffen, das ist ja auch in Ordnung.
Aber wenn sich die Hoffnung nicht als realitätstauglich herausstellt,
also wenn zum Beispiel man auf ein bestimmtes Ding hin, auf eine
bestimmte Erwartung hin hofft und es stellt sich nicht ein oder die
Nebenwirkungen sind so negativ, dann stellt sich die Frage, ob Hoffen
wirklich vernünftig ist.
Ich
will Ihnen ein Beispiel geben: Die Hoffnung ist ja ein seltsames
Phänomen eigentlich, und das macht sie auf der einen Seite
möglicherweise so attraktiv, auf der anderen Seite möglicherweise auch
so gefährlich, wenn man so will.
Die
Hoffnung vermindert sich ja nicht durch ihre Enttäuschung, sondern sie
vermehrt sich durch ihre Enttäuschung, also sie scheint so etwas wie
eine Energie zu sein, die sich durch Verbrauch vermehrt.
Das
weiß übrigens jeder Glücksspieler. Der Roulette-Spieler, der beim
Roulette im Casino auf eine Zahl oder eine Farbe setzt, und diese Zahl
und die Farbe kommt nicht, der geht davon aus, dass er beim nächsten
Mal dran ist, dass heißt, dass die Wahrscheinlichkeit sich erhöht. Und
das nährt seine Hoffnung, dass das Verlieren die Wahrscheinlichkeit des
Gewinnens höher macht. Und dadurch wird die Hoffnung zu einer
Möglichkeit, sich bankrott zu hoffen, weil sich die Hoffnung immer mehr
steigert und sogar durch die Enttäuschung nicht kleiner, sondern
größer wird.
Brink:
Das heißt, ich muss also irgendwie den Punkt abpassen, in dem Hoffnung
nicht mehr hilft und ich zweifeln muss. Ist das die Therapie?
Retzer:
Es reicht eigentlich, auf die Anstrengung zu verzichten, dumm zu
bleiben. Es soll ja auch, neben diesem Spruch, den Sie eben gesagt
haben, "Die Hoffnung stirbt zuletzt", es soll ja auch den
Spruch geben: "Aus Erfahrung kann man lernen." Es ist schon
ziemlich anstrengend, wenn man aus Erfahrung es vermeidet zu lernen.
Wenn
die Erfahrungen, zum Beispiel der Verlust beim Roulette, dagegen
sprechen, dass man sich hoffnungsvoll sozusagen in den Bankrott hinein
begibt, dann genügt es eigentlich, die Erfahrung zur Kenntnis zu nehmen
und nicht über sie hinwegzugehen. Und das scheint
mir das wichtigste Mittel gegen diese illusionäre und möglicherweise
destruktive Hoffnung zu sein.
Brink:
Wir hoffen ja auch meistens, wenn wir zum Beispiel Angst haben. Wie
müssen wir denn damit umgehen, wenn wir dann nicht hoffen sollen oder
können?
Retzer:
Wir hoffen eigentlich nicht, wenn wir Angst haben. Dem muss ich ein
bisschen widersprechen, auch als Psychotherapeut. Wenn wir Angst haben,
versuchen wir alles Mögliche zu mobilisieren, die Angst zu bekämpfen.
Das heißt, wir mobilisieren den Kampf gegen die Angst.
Ich
bin in einem Interview mal gefragt worden, Herr Retzer, leben wir in
Deutschland in einer Angstgesellschaft? Da habe ich gesagt, nein, das
stimmt nicht, wir leben nicht in einer Angstgesellschaft, wir leben in
einer Angstbekämpfungsgesellschaft.
Das
heißt, es gibt dort die Hoffnung, durch den Kampf gegen die Angst die
Angst in den Griff zu bekommen. Das hat die fatale Konsequenz, dass, je
stärker wir Angst bekämpfen, umso größer wird die Angst, weil die
Angst sozusagen als der Gegner die ganze Kampfenergie, die wir gegen sie
aufwenden, benutzt, um noch stärker zu werden.
Das
weiß jeder, der versucht, sich sozusagen zusammenzunehmen, sich
zusammenzureißen, um sein Lampenfieber bei einer Präsentation in den
Griff zu bekommen.
Brink:
Also dass wir vielleicht aufhört, in dieser Angstgesellschaft,
Angstbekämpfungsgesellschaft und Schönfärberei zu leben, wie Sie in
Ihrem Buch sagen. Und da taucht auch noch ein ganz interessanter Begriff
auf, der eigentlich ganz gut passt. Sie sprechen da von einer
"resignativen Reife". Ist das dann so was wie Achselzucken für
Fortgeschrittene?
Retzer:
Nein, ich glaube, das ist, wenn man so will, wenn man aus Erfahrung
gelernt hat, die fast notwendige oder zwangsläufige Entwicklung, auf
die etwas hinausläuft. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben für
diese resignative Reife, aus einem Gebiet, das vertraut ist.
Man
heiratet jemanden, ein netter Kerl, nette Frau, sonst würde man ihn
oder sie nicht heiraten, aber schon am Hochzeitstag sagt man sich:
"Das kriegen wir auch noch hin." Gemeint ist damit, die zwei
oder drei Macken, die der andere oder die andere hat, die wird mit
Hoffnung versehen sozusagen als ein Auftrag, ein Veränderungsauftrag
genommen, das kriegen wir auch noch hin. Wenn man Glück hat, sind dann
zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre ins Land gegangen. Der Gegner, hätte ich
jetzt fast gesagt, hat dieselben Macken in derselben Ausführung wie am
Hochzeitstag, aber ein Großteil von Lebensqualität ist auf der Strecke
geblieben.
Die
resignative Reife kann dann darin bestehen, dass man die Hoffnung
aufgibt, den Partner so hinzubekommen, wie man denkt, dass er sein
sollte.
Diese
Art von Hoffnungslosigkeit oder resignativer Reife kann mit einer
erhöhten Lebensqualität verbunden sein, weil man die vergeblichen
Versuche aufgeben kann, den Partner zu verändern, und der Partner kann
die Verteidigungsversuche, die er anstrengen muss, um nicht verändert
zu werden, auch aufgeben.
Insofern
ermöglicht die resignative Reife etwas wie Hoffnungslosigkeit, die
durchaus ein Trost sein kann.
Brink:
Können Sie uns noch ein bisschen mehr Hoffnung mitgeben zum Schluss?
Retzer:
Ich befürchte, dazu bin ich nicht der Richtige. Aber ich will Ihnen
trotzdem was Hoffnungsvolles zum Schluss noch sagen: Ich glaube, die
Hoffnung ist eine, die wir, ähnlich wie die Angst, nicht abschalten
können als Idee. Die Hoffnung ist aber wahrscheinlich eine notwendige
pubertäre Glaubensvorstellung unaufgeklärten Größenwahns. Behält
man diese pubertäre Glaubensvorstellung wider alle Erfahrung bis ins
hohe Alter aufrecht, hat man ein ernstes Problem.
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