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Teil I Schreie auf der Straße
1979 - 1982
Das irre Mädchen mit den stieren Augen und langen knochigen Fingern
In die Steine der Mauer gekrallt, Das Haar sturmverfilzt und gellend der Mund:
Ist es wichtig, Kassandra, Ob die Menschen Deinem bitteren Quell glauben?
Wahrlich, sie hassen die Wahrheit, lieber Würden sie auf der Straße einem Tiger begegnen.Robinson Jeffers, Kassandra (1948) wikipedia Robinson_Jeffers 1987 in Pennsylvania bis 1962
Das ungeheure Dings - Frühjahr 1979
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Den ersten Hinweis darauf, dass die Menschheit ihre eigenen Lebensbedingungen zerstören könnte, entdeckte Rafe Pomerance auf Seite 66 der regierungsamtlichen Veröffentlichung mit der Bezeichnung EPA-600/7-78- 019. Es war ein technischer Bericht über Kohle mit einem kohlschwarzen Einband und der Schrift in Beige – einer von vielen ähnlichen Berichten, die in unterschiedlich großen Haufen in Pomerances fensterlosem Büro im Erdgeschoss eines Hauses in Capitol Hill lagen, das den Friends-of-the-Earth als Washingtoner Hauptquartier diente. en.wikipedia Rafe_Pomerance *1946
Im letzten Absatz eines Kapitels über Umweltschutzmaßnahmen hielten die Autoren des Kohleberichts fest, dass die unverminderte weitere Nutzung fossiler Brennstoffe innerhalb von zwei oder drei Jahrzehnten zu «erkennbaren und schädlichen» Veränderungen der Erdatmosphäre führen würde. Der bestürzte Pomerance blieb an diesem isolierten Abschnitt hängen. Er schien aus dem Nichts zu kommen. Er las ihn noch einmal. Das ergab keinen Sinn.
Pomerance war kein Naturwissenschaftler; elf Jahre zuvor hatte er die Universität Cornell mit einem Abschluss in Geschichte verlassen. Er war das Inbild eines Bücherwurms, ein unterernährter Doktorand, der im Morgengrauen mit Hornbrille und einem buschigen Schnurrbart, der in den Mundwinkeln voller Missbilligung herabhängt, zwischen den Regalen auftaucht. Sein charakteristisches Merkmal war seine unnötige Länge, fast zwei Meter, die ihm peinlich zu sein schien; er bückte sich, um es seinen Gesprächspartnern leichter zu machen. Sein lebhaftes Gesicht konnte jederzeit in ein breites, fast manisches Grinsen ausufern, doch in seiner ganzen Haltung, auch als er den Kohlebericht las, drückte er Sorge aus.
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Mit technischen Berichten hatte er seine Not. Er ging vor wie ein Historiker: überstürzte nichts, untersuchte das Quellenmaterial, las zwischen den Zeilen. Als ihn das nicht weiterbrachte, rief er mehrere Leute an, mehrmals die Autoren, die ihrerseits überrascht waren, dass er sich meldete. Naturwissenschaftler sind nicht darauf eingestellt, die Fragen von politischen Lobbyisten zu parieren. Politik fand für sie außerhalb ihres Gesichtsfelds statt.
Pomerance beschäftigte eine große Frage: Wenn das Verbrennen von Kohle, Öl und Naturgas zu einer globalen Katastrophe führte, warum hatte ihm das dann keiner gesagt? Wenn in Washington, wenn in den Vereinigten Staaten überhaupt jemand auf diese Gefahr aufmerksam geworden wäre, dann doch Pomerance. Als stellvertretender Geschäftsführer der Friends of the Earth, dieser gewieften, kämpferischen gemeinnützigen Institution, die zehn Jahre zuvor mit Hilfe von David Brower nach dessen Abgang vom Sierra Club gegründet wurde, war Pomerance einer der am weitesten vernetzten Umweltaktivisten, er verfügte über beste Kontakte zu allen Bereichen der Legislative und der Exekutive.
Dass er in den Fluren des Dirksen Senate Office Building ebenso willkommen war wie bei den Veranstaltungen zum Earth Day, hatte sicher nicht zufällig damit zu tun, dass er ein Morgenthau war – der Urenkel von Henry Morgenthau, Sr., den Woodrow Wilson als Botschafter in die Türkei geschickt hatte, und der Großneffe von Henry Morgenthau, Jr., dem Finanzminister Franklin D. Roosevelts; schließlich ein Cousin zweiten Grades von Robert Morgenthau, dem Bezirksstaatsanwalt von Manhattan. Vielleicht war es aber auch einfach sein Charisma: Pomerance konnte bescheiden und doch ungestüm sein, redegewandt und besessen, mit seinem angeborenen Talent, mitreißend zu monologisieren, schien er überall zu sein und sehr laut mit allen gleichzeitig zu sprechen. Nichts beschäftigte ihn mehr als das Thema Luft.
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Nach einer Zeit, in der er sich für Sozialreformen eingesetzt hatte, verbrachte er die zweite Hälfte seiner zwanziger Jahre mit dem Schutz und der Erweiterung des Clean Air Act, des großangelegten Gesetzes, mit dem die Luftverschmutzung reguliert werden sollte, wobei er persönlich einige Ergänzungen formulierte. So stieß er auf das Problem mit dem sauren Regen und den Kohlebericht.
Er zeigte den verstörenden Absatz Betsy Agle, die mit ihm in seinem Büro arbeitete. Hatte sie je etwas vom «Treibhauseffekt» gehört? War es tatsächlich denkbar, dass die Menschen den Planeten aufheizten? Agle zuckte mit den Schultern, auch sie hatte noch nie davon gehört.
Damit hätte es sein Bewenden haben können, wenn Agle Pomerance nicht ein paar Tage später mit einer Zeitung begrüßt hätte, die ihnen aus dem Büro der Friends of the Earth in Denver geschickt worden war. «Hast du nicht erst vor kurzem genau davon gesprochen?», fragte sie und deutete auf einen Artikel.
Der Artikel handelte von einem Geophysiker namens Gordon MacDonald. Pomerance hatte bis dahin noch nie von MacDonald gehört, aber er kannte die Jasons, jene geheimnisvolle, elitäre Gruppe von Wissenschaftlern, zu der auch MacDonald zählte. Die Jasons waren so etwas wie diese Teams von mit Extrakräften begabten Superhelden, die sich zusammenfinden, wenn es zu einer Krise in der Galaxis kommt. Sie waren vom US-Geheimdienstkomplex rekrutiert worden, um neue wissenschaftliche Methoden für die verzwicktesten Probleme der nationalen Sicherheit zu entwickeln: Wie erkennt man einen feindlichen Marschflugkörper? Wie lässt sich der Fallout einer Atombombe vorhersagen? Wie entwickelt man unkonventionelle Waffen wie hochkonzentrierte Laserstrahlen, einen Überschallknall oder mit Pestbazillen infizierte Ratten?
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Unter den Jasons gab es Wissenschaftler mit Staatsaufträgen oder alten Verbindungen zum Geheimdienst, andere hatten es auf einen angesehenen Lehrstuhl an einer der großen Forschungsuniversitäten geschafft. Sie alle einte die Überzeugung, die sie mit ihren Auftraggebern in der Regierung verband, dass die amerikanische Staatsmacht der Führung durch die Klugheit ihrer besten Forscher bedurfte. Die Jasons trafen sich jeden Sommer heimlich, und schon dass es sie überhaupt gab, war ein nachlässig gewahrtes Geheimnis gewesen. Erst die Veröffentlichung der Pentagon-Papiere machte ihren Plan bekannt, den Ho-Chi-Minh-Pfad mit Bewegungsmeldern auszurüsten, die Bomber anfunken sollten. Nachdem Vietnamkriegsgegner seine Garage angezündet hatten, plädierte MacDonald bei den Jasons dafür, dass sie ihre Fähigkeiten für den Frieden einsetzten und nicht mehr für den Krieg.
MacDonald hatte die Hoffnung, die Jasons könnten ihre Kräfte vereinen, um die Welt zu retten. Seiner Ansicht nach drohte der menschlichen Zivilisation eine existenzielle Krise. In seinem Aufsatz «Wie man die Umwelt ruiniert» aus dem Jahr 1968, als er zu den wissenschaftlichen Beratern Lyndon Johnsons gehört hatte, prophezeite MacDonald eine nahe Zukunft, in der «Nuklearwaffen praktisch verboten und die Massenvernichtungswaffen die der Umweltkatastrophe» sein würden. Bald, so seine Warnung, würden die avanciertesten Militärs in der Lage sein, das Wetter zur Waffe umzufunktionieren. Wenn sie den industriellen CO2-Ausstoß beschleunigten, könnten sie in das Wettergeschehen eingreifen und damit Massenflucht, Hunger, Dürre und den Zusammenbruch der Wirtschaft verursachen.
Im darauffolgenden Jahrzehnt beobachtete MacDonald mit wachsender Sorge, wie die Menschheit nicht aus bösem Willen, sondern unbeabsichtigt ihr Streben nach dieser besonderen Massenvernichtungswaffe weiter vorantrieb. Die Initiative Präsident Jimmy Carters, kohlenstoffreichen synthetischen Treibstoff zu entwickeln – Gas und Flüssigtreibstoff aus Schiefer- und Teersand – , war ein erschreckender Missgriff.
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Es war nichts anderes, als wollte man eine neue Generation thermonuklearer Bomben entwickeln. Zwischen dem Frühjahr 1977 und dem Sommer 1978 trafen sich die Jasons im National Center for Atmospheric Research in Boulder, um sich darüber klarzuwerden, was geschehen würde, wenn die CO2-Konzentration in der Atmosphäre doppelt so hoch wäre wie vor der Industriellen Revolution. Diese Verdoppelung war ein willkürlicher, aber gewichtiger Meilenstein, mit dem der Punkt bezeichnet wurde, an dem die Menschheit genauso viel CO2 in die Atmosphäre blasen würde wie in den 4,6 Milliarden Jahren davor. Dass sich die CO2-Konzentration verdoppeln würde, war gar keine Frage, das hätte jeder Oberschüler ausrechnen können. Abhängig vom künftigen Verbrauch an fossilen Brennstoffen würde die Grenze vermutlich 2035 und nicht später als 2060 erreicht sein.
Der Bericht, den die Jasons für das Energieministerium verfassten, «Die langfristigen Umweltfolgen von CO2 für die Atmosphäre», war in einem so nüchternen Ton formuliert, dass seine albtraumhaften Befunde nur noch schärfer zutage traten: Weltweit würden die Temperaturen um durchschnittlich zwei bis drei Grad ansteigen, Bedingungen wie in der dust bowl der dreißiger Jahre würden «weiten Teilen Nordamerikas, Asiens und Afrikas drohen», Ernteerträge würden dramatisch zurückgehen, der Zugang zu Wasser so erschwert, dass es zu massenhaften Migrationsbewegungen komme. Das «vermutlich verhängnisvollste Phänomen» aber zeige sich in der Auswirkung auf die Polkappen. Bereits eine geringfügige Erwärmung könne «zu einem raschen Schmelzen» der Eisdecke in der Westantarktis führen, die genug Wasser enthält, um den Spiegel der Weltmeere um mehr als fünf Meter steigen zu lassen.
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Die Jasons schickten ihre Studie an Dutzende von Wissenschaftlern in den USA und im Ausland, an Industrieverbände wie die National Coal Association und das Electric Power Research Institute sowie im Bereich der Exekutive an die National Academy of Sciences, das Handelsministerium, die Umweltbehörde, die National Aeronautics and Space Administration (NASA), die National Security Agency (NSA), das Pentagon, an alle Teilstreitkräfte des Militärs, das National Security Council und das Weiße Haus.
Als Pomerance all das las, erlitt er einen Schock, der jedoch, wie bei ihm nicht ungewöhnlich, sofort in Empörung umschlug: «Das ist ein Riesending», sagte er zu Betsy Agle.
Er musste sich unbedingt mit Gordon MacDonald treffen. In dem Artikel hieß es, der Forscher arbeite bei der Mitre Corporation, einer mit Bundesmitteln finanzierten Denkfabrik, deren Angehörige sich mit Landesverteidigung und der Technologie für den Nuklearkrieg beschäftigten. Er führte die Bezeichnung Leitender Forschungsanalytiker, was mit anderen Worten bedeutete, dass er als wissenschaftlicher Berater für den Geheimdienst fungierte.
Nach einem Anruf setzte sich Pomerance, der gegen den Vietnamkrieg demonstriert und den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert hatte, in sein Auto und fuhr mehrere Meilen auf dem Autobahnring in Washington bis zu einer Ansammlung anonymer weißer Bürogebäude, die eher der regionalen Zentrale einer Sparkasse glichen als dem Solarplexus des amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes. Er wurde an das Büro eines muskulösen, leise sprechenden Mannes mit einer großen, eckigen Hornbrille verwiesen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Football-Verteidiger Alex Karras zeigte, ein Geophysiker im Körper eines Offensivspielers. Die Hand, die der Mann ausstreckte, war bärenhaft.
«Ich freue mich, dass Sie an diesem Thema interessiert sind», sagte MacDonald zu dem jungen Aktivisten. «Aber das muss ich doch sein», erwiderte Pomerance. «Das geht doch jeden an.»
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Als Prophet des Weltuntergangs wirkte MacDonald fehlbesetzt, dafür war er in seiner ganzen Erscheinung zu eindrucksvoll und zu anständig. Mit neun Jahren war er an Kinderlähmung erkrankt. Ihr verdankte er ein chronisches Hinken und eine leidenschaftliche wissenschaftliche Neugier, die in den Monaten erwachte, die er zur Rehabilitation in einem Krankenhaus in Dallas verbrachte, wo er sich in medizinischen Fachzeitschriften über seine Krankheit informierte. Trotz seiner Behinderung begann er als Guard bei den San Marcos Academy Bears und bekam von der Rice University ein Football-Stipendium angeboten. Harvard bot ihm sogar ein uneingeschränktes Stipendium. Kaum auf dem Campus angekommen, galt er schon als Wunderkind. Mit noch nicht dreißig Jahren beriet er Dwight D. Eisenhower in Fragen der Weltraumerforschung, mit zweiunddreißig wurde er in die National Academy of Sciences berufen, mit vierzig wurde er in das erste Council on Environmental Quality aufgenommen, das Richard Nixon über die Umweltschäden unterrichtete, die durch Kohlenutzung drohten.
Inzwischen näherte er sich seinem fünfzigsten Geburtstag und konnte Pomerance erzählen, dass er sich das erste Mal mit CO2 befasst hatte, als er in Pomerances Alter war – 1961, als Berater John F. Kennedys. Das Thema hatte ihn seitdem nicht mehr losgelassen, gleichzeitig war seine Sorge gewachsen.
MacDonald redete zwei Stunden lang. Er referierte die ganze Geschichte, wie das Problem erkannt wurde, und erläuterte dabei die zugrunde liegende Wissenschaft, während Pomerance mit zunehmendem Schrecken zuhörte.
«Wenn ich Ihnen Termine bei einigen Leuten im Kongress besorge», fragte Pomerance, «können Sie das denen dann auch erzählen?»
Und so begann die CO2-Tournee von Gordon und Rafe. Pomerance organisierte informelle Treffen mit allen einflussreichen Leuten auf dem Capitol Hill, die ihm einfielen.
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Bald pegelte sich ein Wechselspiel ein, bei dem MacDonald mit methodischer Gründlichkeit die wissenschaftliche Seite erklärte und Pomerance an geeigneter Stelle die Ausrufezeichen anbrachte. Zu ihrer Überraschung mussten sie feststellen, dass zwar in den meisten Büros ein Exemplar des Jasons-Berichts lag, aber von den höheren Beamten nur die wenigsten dessen Ergebnisse wahrgenommen, geschweige denn die dystopischen Folgen der Erderwärmung begriffen hatten.
Nachdem sie mit der EPA, der «New York Times», dem Energieministerium (in dem, wie Pomerance erfuhr, auf MacDonalds Drängen bereits zwei Jahre zuvor eine Abteilung für die Auswirkungen von CO2 eingerichtet worden war), dem National Security Council (Jessica Mathews, eine leitende Angestellte, war eine entfernte Cousine von Pomerance) und dem Council on Environmental Quality des Weißen Hauses gesprochen hatten, waren sie bei Frank Press angelangt, dem obersten wissenschaftlichen Berater des Präsidenten.
Bevor sie die Räumlichkeiten von Press im Old Executive Office Building betraten, dieser Granitfestung auf dem Gelände des Weißen Hauses, wo es sich neben den West Wing drängte, war Pomerance gar nicht klar gewesen, in welchem Ansehen MacDonald selbst auf den höchsten Regierungsebenen stand. MacDonald und Press kannten sich seit den Jahren der Kennedy-Regierung, als Press eine Methode entwickelt hatte, wie mit Geigerzählern das unterirdische Atomtestprogramm der Sowjetunion ausfindig zu machen war. Press wusste beim Thema CO2 genau Bescheid. Im Juli 1977, sechs Monate nach dem Amtsantritt von Carter, hatte er ein Memorandum an den Präsidenten gerichtet und ihm dargelegt, dass der ungebremste Verbrauch fossiler Brennstoffe eine «globale Klimaerwärmung» um fünf Grad Celsius und «erhebliche Ernteausfälle» zur Folge haben könnte.
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«Wie Sie wissen», so schrieb er an Carter, «ist das kein ganz neues Problem.» Doch Press war zu dem Schluss gekommen, dass der «gegenwärtige Wissensstand» keineswegs rasches Handeln notwendig mache. Seit damals war Press für das von Carter initiierte Programm synthetischer Brennstoffe verantwortlich.
Pomerance hatte ein normales informelles Gespräch erwartet, doch nahm es bald den Charakter eines hochrangigen Treffens über die nationale Sicherheit an. Press hatte beinahe die gesamte Führungsebene des vom Präsidenten geschaffenen Office of Science and Technology Policy einbestellt. Die Beamten, die bei jeder wichtigen Frage im Bereich Energie und Verteidigung hinzugezogen wurden, schienen jedoch in der Klimafrage nicht übermäßig bewandert zu sein. Pomerance hielt es für das Beste, dass MacDonald allein redete. Es zeigte sich, dass es gar nicht nötig war, Press und seine Abteilungsleiter eigens darauf hinzuweisen, dass es sich hier um eine Frage von entscheidender nationaler Bedeutung handelte. Die ernste Stimmung im Büro verriet, dass die Botschaft angekommen war.
Um zu erläutern, was das CO2-Problem für die Zukunft (und zwar keineswegs für die ferne Zukunft) bedeutete, kehrte MacDonald in die fernere Vergangenheit zurück – zu John Tyndall, einem irischen Physiker, der sich früh für die Arbeit von Charles Darwin einsetzte und starb, nachdem ihm seine Frau aus Versehen eine Überdosis seines Schlafmittels verabreicht hatte. 1859 entdeckte Tyndall die entscheidende Nebenwirkung des Treibhauseffekts: Weil CO2-Moleküle Hitze aufnehmen, konnten Veränderungen in ihrer atmosphärischen Konzentration für Klimaveränderungen sorgen. Dieses Forschungsergebnis inspirierte Svante Arrhenius, einen schwedischen Chemiker, der dereinst den Nobelpreis erhalten sollte, 1896 zu der Folgerung, dass das Verbrennen von Kohle und Petroleum zur massenhaften Energiegewinnung zu einer Erderwärmung führen könnte. Diese Erwärmung würde sich in einigen Jahrhunderten bemerkbar machen, vielleicht auch früher, wenn der Verbrauch fossiler Brennstoffe weiter zunehmen sollte.
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Der Verbrauch stieg viel höher, als sich das der schwedische Chemiker je hätte vorstellen können. Vier Jahrzehnte später berechnete ein britischer Kraftwerksingenieur namens Guy Stewart Callendar, was passiert, «wenn man jede Minute neuntausend Tonnen CO2 in die Luft schießt». Mit Hilfe der Wetterstationen, die er kontrollierte, konnte er feststellen, dass die vergangenen fünf Jahre die wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen waren. «Der Mensch», so schrieb er, sei mittlerweile «in der Lage, Vorgänge in der Natur zu beschleunigen». Das war 1939.
MacDonalds Stimme wirkte wohlüberlegt und flößte Respekt ein, seine kräftigen Hände verliehen dem Vortrag zusätzlichen Nachdruck. Sein Publikum hörte stumm und reglos zu. Pomerance wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Politische Angestellte lebten davon, dass sie mit ihrer Meinung hinterm Berg hielten. Pomerance konnte das nicht. Er ruckelte unruhig auf seinem Stuhl und schaute zum Vortragenden, dann wieder zu den Schlipsträgern von der Regierung und versuchte zu ergründen, ob ihnen die Ausmaße des Ungeheuers klarwurden, das MacDonald beschrieb.
MacDonald beschloss seine Predigt mit Roger Revelle, der in der priesterlichen Elite von staatlichen Forschern das höchste Ansehen genoss und seit dem Manhattan Project jeden Präsidenten in den wichtigen Fragen beraten hatte. Revelle war ein vertrauter Kollege von MacDonald und Press, seit sie alle zusammen unter Kennedy gearbeitet hatten. Während Arrhenius und Callendar in ihren frostigen nordeuropäischen Dörfern nichts gegen wärmeres Wetter einzuwenden hatten, erkannte Revelle, dass die menschliche Gesellschaft nach bestimmten klimatischen Bedingungen organisiert war und es zu gewaltsamen Störungen kommen musste, wenn man sie veränderte. MacDonald zitierte aus einem Aufsatz, den Revelle und Hans Suess 1957 veröffentlicht hatten:
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«Die Menschen sind dabei, ein riesenhaftes geophysikalisches Experiment durchzuführen, das in dieser Form weder in der Vergangenheit möglich gewesen wäre noch in der Zukunft zu wiederholen sein wird.»
Im Jahr darauf sorgte Revelle dafür, dass die Wetterstation in Gipfelnähe des Mauna Loa auf der Hauptinsel Hawaiis mit der kontinuierlichen Messung des CO2-Gehalts der Luft begann. Es handelte sich um ein in 3397 Metern über dem Meeresspiegel von allen Einflüssen unbeeinträchtigtes natürliches Labor auf einem sonst durch die Emissionen fossiler Brennstoffe eingehüllten Planeten.
Ein junger Biochemiker namens Charles David Keeling sammelte die Daten und zeichnete einen Verlauf, der als Keeling-Kurve bekannt wurde, obwohl er viel mehr einem schartigen Blitz ähnelt, der gegen das Firmament geschleudert wird. Während sein Publikum weiter ungerührt blieb, verlängerte MacDonald die Keeling-Kurve in die Luft und stieß mit seinem dicken Zeigefinger zur Decke hoch.
Mit jedem Jahr, so erläuterte MacDonald, nahm das geophysikalische Großexperiment der Menschheit noch kühnere Dimensionen an. Nachdem Keeling Aufzeichnungen aus einem ganzen Jahrzehnt vorweisen konnte, wandte sich Revelle mit seinen Befürchtungen an Lyndon Johnson, der sie wiederum zwei Wochen nach seiner Amtseinführung in einer eigens an den Kongress gerichteten Botschaft zur Sprache brachte. Johnson führte aus, dass seine Generation durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe «die Zusammensetzung der Atmosphäre in einem globalen Ausmaß verändert» habe. Seine Regierung gab beim Science Advisory Committee, dem wissenschaftlichen Beirat des Präsidenten, dem Revelle vorstand, eine Studie in Auftrag.
Im Bericht für das Jahr 1965 war bereits von der rasanten Schmelze in der Antarktis, dem Ansteigen des Meeresspiegels und dem wachsenden Säuregehalt im Wasser die Rede, alles Veränderungen, die «allein durch lokale oder selbst nationale Anstrengung nicht kontrollierbar» wären.
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Zusammenarbeit auf internationaler Ebene war unabdingbar. Diese Zusammenarbeit kam jedoch nicht zustande, und der Schadstoffausstoß stieg weiter an. Sollte die Entwicklung so weitergehen, erläuterte MacDonald, würde in Neuengland bald kein Schnee mehr fallen, einige große Küstenstädte würden überflutet, die Weizenernte würde um vierzig Prozent zurückgehen und ein Viertel der Weltbevölkerung wäre gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Und das alles war keine Frage von Jahrhunderten, sondern würde sich noch zu Lebzeiten der Anwesenden ereignen.
«Und was sollen wir dagegen unternehmen?», fragte Press.
Die Anstrengungen, die Präsident Carter nach der von den Saudis verursachten Ölkrise unternommen hatte, um die Solarenergie zu fördern – er hatte vorgeschlagen, dass der Kongress ein Gesetz für eine «nationale Solarstrategie» verabschieden solle, und zur Warmwasserbereitung für die Präsidentenfamilie auf dem Dach des Weißen Hauses zweiunddreißig Solarzellen installieren lassen – , waren für den Anfang nicht schlecht, gab MacDonald zu, doch bedeute Carters Vorhaben, die Produktion synthetischer Treibstoffe zu fördern, ein gefährliches Torkeln in Richtung Selbstauslöschung. Trotz der jüngsten Schreckensnachrichten aus Three Mile Island sollte die Atomkraft weiter ausgebaut werden. Aber selbst Erdgas und Äthanol waren besser als Kohle. Es half alles nichts: Die Kohleförderung musste beendet werden.
Carters Berater stellten höfliche Fragen, doch konnte Pomerance nicht erkennen, ob sie gewonnen waren. Die Männer erhoben sich, schüttelten sich die Hände, und Press geleitete MacDonald und Pomerance aus seinem Büro. Als sie auf die Pennsylvania Avenue hinaustraten, wandte sich Pomerance an MacDonald.
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«Sie kennen Press», begann Pomerance, «was wird er Ihrer Meinung nach tun?» - «Da ich Frank gut kenne», erwiderte MacDonald, «habe ich keine Ahnung, was er tun wird.»
Pomerance wurde unbehaglich. Seit er MacDonald kennengelernt hatte, drehten sich seine ganzen Gedanken darum, was es an Erkenntnissen über das CO2-Problem gab und wie es um die Aussichten auf eine politische Lösung stand. Jetzt, wo er seine Termine auf dem Capitol Hill abgearbeitet hatte, begann Pomerance darüber nachzudenken, wie sich die zu erwartende globale Erwärmung auf sein eigenes Leben auswirken würde.
Seine Frau Leonore war im achten Monat schwanger. Sie hatten viel über das gesprochen, was sie sich für die Zukunft erwarteten. War es überhaupt moralisch zu rechtfertigen, ein Kind in diese Welt zu setzen, die sich über kurz oder lang als unbewohnbar erweisen würde? Reichte die Zeit denn aus, um das Schlimmste aufzuhalten? Und warum sollte ausgerechnet er, ein zweiunddreißigjähriger Lobbyist ohne wissenschaftliches Studium, auf diese bedrängende, die ganze Welt erfassende Krise aufmerksam machen?
Mehrere Wochen später rief ihn MacDonald an, um ihm mitzuteilen, dass Press tätig geworden war. Press schrieb am 22. Mai an Philip Handler, den Präsidenten der National Academy of Sciences, und verlangte eine Bestandsaufnahme des CO2-Problems. Handler wandte sich an Jule Charney, den Vater der modernen Meteorologie, damit der die besten Ozeanographen, Atmosphäre-Wissenschaftler und Klimarechner des Landes zusammenholte. Sie sollten darüber urteilen, ob MacDonalds Weckruf berechtigt war, ob die Welt also wirklich dem Abgrund entgegenstürzte.
Pomerance war erleichtet, als er das hörte, wunderte sich allerdings, dass es so lange gedauert hatte. Wissenschaftler in den obersten Rängen der Regierung wussten seit Jahren von den Gefahren beim Verbrauch fossiler Brennstoffe und hatten doch nicht mehr unternommen, als wissenschaftliche Aufsätze zu schreiben, akademische Tagungen zu veranstalten und unlesbare Berichte zu verfassen. Bis zur Stunde hatte kein Politiker und kein Umweltschützer das Thema zu seiner Sache gemacht. Überhaupt war sehr wenig geschehen.
Wenigstens das würde sich jetzt ändern, dachte Pomerance. Wenn Charneys Exzellenztruppe bestätigte, dass die menschliche Zivilisation ihrer eigenen Auslöschung zustrebte, würde der Präsident unweigerlich handeln müssen.
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