»Der Soldat James Ryan« und die Schwierigkeit, vom Krieg zu erzählen
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Ich glaube, mich in dem Soldaten James Ryan wieder zu erkennen, der in Spielbergs Film inmitten eines endlosen Feldes von Soldatengräbern noch einmal die Schrecken eines einzigen Kriegstages aus dem Jahre 1944 nacherlebt.
Ich bin etwa so alt wie dieser Ryan, vielleicht zwei Jahre älter. Aber ähnlich wie Ryan war es mir ergangen, als meine Truppe im Sommer 1942 auf dem Brückenkopf bei Woronesch am Don von den gut vorbereiteten Russen abgefangen worden war. Das gleiche Inferno vom Donnern der Abschüsse und Einschläge mit dem Surren und Pfeifen der Splitter in der verqualmten Luft, mit dem Schreien und Wimmern der Getroffenen und den zerfetzten Toten ringsum. Die eigene Truppe und die Russen ineinander verkeilt. Chaotisches Durcheinander. Riesenverluste. Teils war ich als Richtkanonier am Geschütz zum direkten Beschuss durchgebrochener russischer Panzer eingesetzt, teils zu vorgeschobener Beobachtung mit Spähtrupps unterwegs, um die verworrene Frontlage zu erkunden.
Einmal waren wir in schwarzer Nacht zu zweit mitten unter russische Soldaten geraten. Aber wie der Soldat Ryan war ich wunderbarerweise davongekommen — gerade neunzehn war ich damals. Auch ich habe niemals diejenigen vergessen, die in jener Situation in meiner Nähe waren, etwa den älteren Oberwachtmeister, der mich ein paar Mal von Stellen weggeholt hatte, wo eine Minute später Granaten oder MG-Garben einschlugen.
Auch ich habe wie Ryan heute eine Familie hinter mir — Frau, Kinder, Enkel, bereit, mich zu stützen. Ich habe ihnen etwas erzählt. Aber wie hätte ich ihnen vermitteln können, was davon damals in meinem Inneren zurückgeblieben ist, was mich verändert hat?
Der Soldat Ryan hatte seine drei Brüder im Krieg verloren. Ich hatte, als ich aus dem Krieg und Gefangenschaft zurückkam, überhaupt keinen mehr aus meiner früheren Nähe. Geschwister gab es ohnehin nicht. Die Eltern waren Monate nach Kriegsende von betrunkenen Besatzungssoldaten auf einem Spaziergang überfallen und erstochen worden. Die Mutter hatte sich gewehrt. Der Vater hatte ihr helfen wollen. Weit verstreut in der Welt wohnten ein paar entfernte Verwandte, die ich aber nie näher kennen gelernt hatte.
Doch da ist ein wesentlicher Unterschied zu Ryan. Der hatte auf der gerechten Seite gekämpft, ich hingegen auf der Seite der Schuldigen. Das Kriegsszenario war das Gleiche, aber ich war als Aggressor, nicht als Befreier in die Schlacht geworfen worden. Und ich hatte gewusst, dass es die falsche Sache war, so wie es auch schon falsch und schlimm gewesen war, was ich als Schüler an Schikanen gegen meine jüdischen Mitschüler und deren Familien mitbekommen hatte, die nach und nach ausgewandert waren.
Vor ein paar Tagen habe ich im Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, das ich als 76-Jähriger immer noch leite, einen Vertrag mit der Feuerwehr unterschrieben. Es geht darum, Feuerwehrleute durch Fortbildung und Supervision zu unterstützen, dass sie die bedrückenden Erfahrungen mit Opfern von Bränden oder schweren Verkehrsunfällen besser verarbeiten können. Endlich ist es nun ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass die grauenhaften Bilder von Katastrophen psychische Schäden zurücklassen können, Ängste, depressive Reaktionen, psychosomatische Störungen, chronische Gereiztheit; und dass zur Überwindung eine professionelle Unterstützung angebracht ist.
Heute sieht das jeder ein. Aber wen hat es schon interessiert, was das massenhaft organisierte Morden in der Psyche des Soldaten Ryan und der meinigen angerichtet hat? Das waren damals keine Unfälle aus Unachtsamkeit oder durch technische Mängel — wie kürzlich im Falle mehrerer Flugzeug- und Eisenbahnkatastrophen. Sondern es war ein planmäßiges gegenseitiges Umbringen und Verstümmeln mit Hilfe extra zu diesem Zweck laufend modernisierter Vernichtungsmaschinen.
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Es war die Erniedrigung von zivilisierten jungen Männern zu Handlangern der puren Unmenschlichkeit. Hat jemand damals etwa gefragt, was da in den Beteiligten passiert und zurückgeblieben ist? So wie der ehemalige Soldat Ryan sich mit Mühe und gebeugt zwischen den Kriegsgräbern bewegt, merkt man ihm die Last an, die ihn drückt, obwohl er gewiss manche Ehrungen erlebt und zu hören bekommen hat, welche hohe patriotische Pflicht er erfüllt habe, nämlich dass er in heldenhafter Weise zur Niederschlagung eines Menschheitsfeindes beigetragen hat. Aber ob ihm das viel geholfen hat?
Auf dem Schlachtfeld selbst löst sich das moralische Gefälle auf. Da machen die Regeln des wechselseitigen Mordens Freund und Feind gleich. Da regiert die nackte Brutalität zwischen Menschen, die persönlich miteinander nicht verfeindet sind und vielleicht ein paar Jahre später als vereinte Waffenbrüder gegen einen neuen gemeinsamen Feind in Stellung gehen mögen. — Im Moment ist es gut zu töten, um nicht getötet zu werden. Skrupel sind lebensgefährlich. Erst später kommt das Erwachen, wie aus einem partiellen Koma: Man erkennt sich nicht mehr selbst darin, was man mitgemacht hat. Ich muss mich indessen fragen: Hatte ich dieses Los nicht freiwillig gewählt?
17 war ich gewesen, da hatten wir auf der Schule zwischen drei Möglichkeiten zu wählen. Die erste, mit Notabitur gleich zum Militär und aktiver Offizier werden; die zweite, sich nach dem Abitur und Arbeitsdienst zu einer beliebigen Waffengattung einziehen lassen; die dritte, nach Abitur und Arbeitsdienst zu einer selbst ausgesuchten Waffengattung einrücken und zum Reserveoffizier ausgebildet werden.
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Ich hatte mich für die dritte Möglichkeit entschieden und die leichte motorisierte Artillerie ausgesucht. Die gleich zum Militär wollten, das waren die schneidigen HJ-Führer, die eine Kategorie für sich bildeten. Ich war mit Vaters Hilfe von der HJ frühzeitig freigekommen und brannte darauf, bald Medizin und Philosophie zu studieren. Aber weil dem Kriegsdienst ohnehin nicht zu entrinnen war, hatte ich die Lösung drei vorgezogen, da würde man vielleicht in der Ausbildung weniger malträtiert werden, und bei der motorisierten Artillerie würde ich es wohl zumindest leichter haben als bei der Infanterie.
Bei der Abfahrt nach Russland Februar 1942 hatte ich der Mutter den Wunsch abgeschlagen, mich zum Bahnhof zu begleiten, aus Furcht vor einem öffentlichen sentimentalen Abschiedsdrama. In Wahrheit ging es natürlich darum, dass ich meinen eigenen Ablösungskonflikt vor mir hatte verbergen wollen. Nach 14 Tagen Bahnfahrt und ein paar Fußmärschen war ich endlich bei meiner Truppe angekommen, die im Winter auf dem Vormarsch nach Moskau stecken gebheben war. Ein einziges Mal hatte ich einen professionellen Seelenhelfer erlebt. Das war der Divisionspfarrer mit einem großen silbernen Kreuz auf der Brust, der den Soldaten vor der großen Offensive 1942 so etwas wie innere Stärkung vermitteln wollte oder sollte. Aber was bekamen wir zu hören? Dass es eine gute Sache sei, die Russen vom gottlosen Kommunismus zu befreien. Es war nichts anderes als eine christlich verkleidete Einpeitscher-Rede.
Meine Artillerie-Einheit hatte schon in Frankreich gekämpft. Die Leute wirkten abgebrüht. Sie verrichteten ihr befohlenes Geschäft als ein verdammtes Muss. Da war keine Begeisterung, keine Idee, für eine gute Sache, nicht einmal gegen eine böse zu kämpfen. Von einem Tag zum anderen mit unberechenbaren Situationen zurechtzukommen, das war ihr Thema. Keinen traf ich, der an die uns eingeredete politische Mission dieses Feldzuges glaubte. Vor dem Iwan hatten sie Respekt. Noch wagte niemand, seine Zweifel am Erfolg des Unternehmens offen zu zeigen. Komisch fanden sie es allerdings schon, dass der aufs Ritterkreuz versessene Batteriechef bangte, ob er seinen Dienst-BMW nach Kriegsende wohl behalten dürfte.
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In der sozialen Hierarchie fand ich mich zunächst ganz unten, bis ich mich durch einige Tests als recht tauglicher Richtkanonier ausgewiesen hatte. Die Maßstäbe für soziale Anerkennung widersprachen sonst mitunter krass den bürgerlichen Konventionen.
Bewundert wurde ein Leichtfuß, der schon acht Jahre Knast hinter sich hatte, aber einmal ganz allein, fast deckungslos, mit dem Flieger-MG eine Russen-Attacke abgewehrt hatte. Der zog auch seinen Kopf am MG im Geschosshagel russischer Tiefflieger nicht ein.
Als ich zu Beginn der Großoffensive zwischen Kursk und Orel den ersten jungen Deutschen bäuchlings im Gras liegen sah, ohne äußerlich erkennbare Verletzung, drehte ich ihn um und starrte auf einen Kopf, dem das Gesicht weggerissen war. Nie habe ich den Anblick vergessen, weil bei mir an jenem Tag noch nicht die Routine der Gefühlsabtötung funktionierte, die dann nach und nach einsetzte und dafür sorgte, dass ich fortan den hundertfachen Anblick von Verstümmelten ohne panisches Erschrecken ertragen konnte und ohne von den Bildern im Nachhinein verfolgt zu werden.
Das ist ein psychohygienischer Mechanismus, der wie ein Anästhetikum funktioniert. Die schaurigsten Bilder der Zerstörung dringen nicht mehr ins Sensorium durch. Es setzt eine partielle Apathie ein. Hunger und Schlaf werden nicht mehr gestört. Aber anders als unter Psychopharmaka kommt es nicht etwa zu einer dösigen Benommenheit, sondern man kann jederzeit blitzartig reagieren, um die Tötungsinstrumente zu bedienen oder in Deckung zu springen.
Man lebt nur noch mit einem Teil-Selbst, als eine rudimentäre Person. Das schützt vor innerem Chaos, vor Verzweiflung und manchen Ängsten. Wenig beeinträchtigt ist der Gehorsamsautomatismus. Der ist bereits in der Rekrutenzeit in der Kaserne weitgehend eingeschliffen worden durch eine Methode unsinniger Kommandos, die nur bei Unterdrückung kritischen Denkens ertragen und mechanisch befolgt werden konnten. Die angedrohte Kriegsgerichtsstrafe bei Befehlsverweigerung funktioniert als unwiderstehliche Erpressung. Bezeichnend übrigens, dass immer von Befehlsverweigerung geredet wird, wenn Gehorsamsverweigerung gemeint ist. Als ob die Befehlenden sich gleich mit in das Bedrohungssystem eingeschlossen fühlen sollen.
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Eine andere Lösung, als durch solche Abstumpfung unter dem mir unausweichlich scheinenden Zwang zu überleben, kam mir zu keiner Zeit in den Sinn. Wenn ich heute bei Cora Stephan (»Das Handwerk des Krieges«) lese, wie herrlich der Krieg den Mann zum Manne mache, und ich meine damalige Schrumpfexistenz als Maschinenbediener dagegen halte, kann ich über die Realitätsverkennung besagter Autorin nur lächeln. Das geölte Funktionieren an technischem Kriegsgerät bei Abspaltung der zentralen Anteile des persönlichen Selbst halbiert Männer zu routinierten Robotern — das ist der moderne Krieg.
Wenn ich zwischendurch als vollständige Person präsent war, dann in den kurzen Fluchten in Träume, in das Schreiben von Briefen, oder einige Minuten zu Hölderlins Hyperion, Nietzsches Gedichten oder platonischen Dialogen. Da fühlte ich, wie ich wieder sein würde, wenn der Höllenspuk ein Ende nähme. So fern dieser Augenblick auch sein mochte, in der Phantasie nahm ich ihn oft vorweg, um mir einreden zu können, den momentanen unausweichlichen Ausnahmezustand wie eine bloße Unterbrechung meiner eigentlichen Lebensgeschichte bewältigen zu müssen.
Mehrmals hatte ich später versucht, den drei Kindern etwas von meinen Russlandkrieg-Erlebnissen zu erzählen. Aber jedes Mal hatte ich bald gestockt. Was war davon erzählbar? Doch nichts von dem echten Grauen, wie es Spielbergs Antikriegsfilm einigermaßen getroffen hat. Und das Menschliche, was man Kameradschaftsgeist nennt, das Einstehen füreinander, manche verwegene Hilfeleistung, Augenblicke spontaner Humanität, kurze anrührende Begegnungen mit russischen Bauern, Frauen und Kindern?
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All das konnte wieder täuschend klingen in der Falschheit des Ganzen — nach echten Idyllen oder spannenden Abenteuern, so wie man meine Generation einst auf der Schule betrogen hatte mit den Heldengeschichten des Ersten Weltkrieges: Langemarck, Verdun, Fort Douaumont, Somme, Ypern, und mit Ernst Jünger: »Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an.«
Bei jedem Satz, den ich zu Hause beim Erzählen vom Krieg herausbrachte, war ich unsicher, ob man mich nicht missverstehen würde. Dabei lag mir so vieles davon auf der Seele. Selbst wenn ich mal wiederzugeben versuchte, was ich gesehen, gehört und gemacht hatte, so war das ja immer nur die eine Seite. Die andere, die Angst, die Spannung hinter der Selbstbetäubung, der Ekel, der Zynismus als Abwehr von Verzweiflung, das ließ sich ohnehin nicht beschreiben.
Eine ungefähre Ahnung davon, was da psychisch abläuft, kann ein Film wie »Der Soldat James Ryan« aufkommen lassen. Aber gerade deshalb haben sich viele aus der mittleren Generation den Film nicht zumuten wollen. Was sie über die ersten zwanzig Minuten von der Schlacht an der Normandie-Küste gehört oder gelesen hatten, erschien ihnen zu schrecklich. Verständlich, aber schade. Denn so sieht militärisches Gemetzel tatsächlich aus. Und das sollte im Kopf haben, wem eingeredet wird, dass Krieg wieder zur Normalität gehöre und dass es gut sei, dass Deutschland schon wieder in die Spitzengruppe der Exporteure der Waffen aufgestiegen ist, die neue Kriege führbar machen.
Als ich mich nach dem Spielberg-Film schwerfällig aus dem Kinosessel erhebe, drückt Bergrun, meine Frau, mir die Hand. Mir fällt ein, dass ihr Vater mit einer entstellenden Handverwundung und mehreren Granatsplittern im Körper aus dem Ersten Weltkrieg heimgekommen war. Der war Pazifist geworden, religiöser Sozialist. Zwölf Jahre von den Nazis schikaniert, immer wieder von der Gestapo verhört, als Pädagogik-Professor bereits 1932 entlassen. Bergrun war Liebling des Vaters gewesen.
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Jemand hatte ihr mal gesagt, sie habe ein jüngeres Abbild ihres Vaters geheiratet. Mir hatte der Vergleich anfangs nicht behagt, weil ich mir den Schwiegervater nach dem Krieg kämpferischer gewünscht hätte. Der hatte resigniert, als er um sich herum die rasche erfolgreiche Anpassung vieler ihm bekannter Nazis sah. Zudem hatten ihn paranoide Ideen befallen. Auf der Straße oder in der S-Bahn machte er plötzlich kehrt oder stieg auf der nächsten Station aus, weil er sich wieder von Gestapo-Leuten beobachtet und verfolgt glaubte.
Der Soldat Ryan hatte sich geweigert, als man ihn nach dem Kriegstod seiner drei Brüder nach Hause schicken wollte. Es ging ihm darum, seinen Kameraden gegen die anrückenden Deutschen beizustehen. Auch ich hätte mich, wenn ich es gewollt hätte, vielleicht noch weigern können, als mich der Truppenarzt beim Vorrücken auf Stalingrad eines Tages unerwartet ins Lazarett schicken wollte. Ich hatte mich gar nicht besonders krank gefühlt. Nur hatte ich bemerkt, dass ich nicht mehr klar sehen konnte. Und beim Trinken war mir das Wasser oder der Tee wieder aus der Nase herausgelaufen. Und die Stimme war mir weggeblieben, so dass ich nur noch zu flüstern vermochte. Ob ich vor kurzem eine Halsentzündung gehabt hätte, hatte mich der Arzt gefragt. Das hatte ich bestätigt. »Dann war das eine Diphtherie. Jetzt haben Sie Lähmungen einiger Hirnnerven, und bald wird das auch in die Arme und Beine gehen. Sie müssen zurück ins Lazarett.«
So viel hatte ich mir schon von Medizin angelesen, dass ich die abgelaufene Infektion, bei der mir der Hals zugeschwollen war, als Diphtherie erkannt zu haben glaubte. Ich hatte einem kleinen russischen Jungen auf Wunsch der Eltern in den Hals geguckt, da war mir der für Diphtherie beschriebene süßliche Geruch aufgefallen. Von den neurologischen Komplikationen der Diphtherie, die der Arzt nun offenbar bei mir diagnostizierte, wusste ich nichts. Aber ich vertraute ihm. Mein Hauptmann protestierte, aber der Arzt blieb fest. So wurde ich ahnungslos vor der Katastrophe bewahrt, die meinen Kameraden bevorstand, die direkt in den Todeskessel von Stalingrad hineinmarschierten. Mein Retter war der kleine russische Junge gewesen. Ob er überlebt hat?
Wochen später verfolgte ich die Stalingrad-Tragödie am Radio und in der Zeitung, während ich mit den vorausgesagten Lähmungen an den Beinen in einem deutschen Reservelazarett lag. Nie habe ich einen Kameraden aus meiner Feldtruppe wieder gesehen. In diesen Wochen der Kesselschlacht von Stalingrad begriff ich erstmalig das ganze Ausmaß der Verantwortungslosigkeit Hitlers, der seinem Größenwahn ein paar Hunderttausend Menschen opferte, die sich durch einen rechtzeitigen Rückzug hätten retten können. Umso mehr empfand ich die eigene Rettung als Gnade. Dennoch fühlte ich mich irgendwie beklommen, als hätte ich mich unberechtigt aus einem Schicksal davongestohlen, das ich mit den anderen hätte teilen müssen. Warum sollte ich etwas Besseres verdient haben? Die allermeisten, die ich an der Front näher kennen gelernt hatte, waren genauso wenig gesinnungstreue Hitlersoldaten wie ich. Sie waren illusionslose, herumgestoßene Teile einer bis ins Letzte durchprogrammierten Maschinerie. Der an uns allen verübte riesige Betrug war mir ja selbst auch erst hier in meinem inselartigen Lazarett-Dasein aufgegangen.
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Warum noch einmal erinnern?
Warum bin ich eigentlich so sehr darauf versessen, noch einmal diese alten Erinnerungen zu überprüfen? Der Spielberg-Film war der Auslöser. Aber es kommt anderes hinzu. Zum Beispiel ein Vortrag, den ich gerade zur Einführung in die Ausstellung über die Wehrmachtsverbrechen, die in Bonn Station macht, entwerfe. Dazu haben mich Freunde aus der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW eingeladen.
Und noch ein weiterer Grund: Ich bin gerade von einer Erkrankung genesen, die mich mehr erschreckt hat als manche gesundheitlichen Indispositionen der letzten Jahre. Nach einer Zahnoperation war ich von einer absoluten Herzarrhythmie befallen worden, die zunächst allen medikamentösen Korrekturversuchen getrotzt hatte. Dass ich ausgerechnet diesem Organ, das mir noch vor ein paar Monaten einen völlig komplikationslosen Ski-Marathon im Engadin gestattet hatte, nicht mehr trauen konnte, hatte mich erheblich geängstigt.
Nun hat man die Funktion durch eine elektrische »Kardioversion« und ein Medikament wieder in Ordnung gebracht. Aber immer noch horche ich mit einiger Unsicherheit in mich hinein, ob der Takt stimmt. Jetzt überlege ich, ob ich nicht einiges noch genauer regeln sollte, um der Familie klare Verhältnisse zu hinterlassen. Und da geht es eben nicht nur um äußere Sachen. Zwar habe ich vor fünfzehn Jahren schon einmal viel Autobiografisches notiert. Aber das war längst nicht alles. Gerade in letzter Zeit ist noch vieles in mir hochgekommen, was ich noch nicht gesagt habe und was zumindest meine sechs Enkel noch erfahren sollten.
Irgendwo habe ich gelesen, dass die Flakhelfer-Generation nichts mehr zum aktuellen Diskurs im Lande beizutragen habe. Auch das hat mich gereizt, mich noch einmal zu Wort zu melden, obwohl ich sogar den Flakhelfern noch um einige Jahre voraus bin. Und diese vier, fünf Jahre habe ich schon immer als eine gewaltige Entfernung empfunden.
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Denn die Flakhelfer hatten es nach meinem Eindruck leichter, über ihre kurzen Erfahrungen an der Flak oder in irgendwelchen letzten Widerstandsnestern zu erzählen, während die nicht sehr vielen Überlebenden meiner eigenen Altersgruppe, die einen größeren Teil der zwölf Jahre des Nazi-Ungeistes und in voller Wachheit aktiv den Krieg mitgemacht hatten, meist verstummt waren.
Oft habe ich mich gefragt, ob und wie die deutsche Nachkriegsgeschichte vielleicht anders verlaufen wäre, hätten die Hunderttausende aus meiner Altersklasse, die im Kriege geblieben sind, noch mitreden können. Manches Mal habe ich mich nach dem Kriege wie ein heimlich Beauftragter meiner getöteten Freunde gefühlt, die keine Lehre mehr weder aus dem mit ihnen getriebenen Missbrauch noch aus der eigenen blamablen Verblendung ziehen konnten.
Im Notieren meiner Geschichte will ich aber vor allem auch für mich selbst noch einmal bessere Klarheit schaffen. Im Erinnern lernen, wie viel von bewusster oder unmerklicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in dem steckt, wie ich geworden bin und was ich inzwischen gemacht habe. Natürlich bleibt dabei immer offen, inwieweit mir der unbewusste Wunsch, es möge so gewesen sein, wie ich es heute haben möchte, einen Streich spielt.
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Es kommt mir gelegen, dass ich dieser Tage den Vortrag in Bonn aus Anlass der dortigen Ausstellung über Verbrechen in der deutschen Wehrmacht zu halten habe. Zwar bin ich gesundheitlich noch nicht wieder voll bei Kräften, aber ich hatte den einladenden Freunden eine Absage nicht zumuten wollen. Obwohl ich im wesentlichen frei sprechen werde, habe ich mir zur Sicherheit einen kurzen Text bereitgelegt:
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Die Ausstellung über Verbrechen der deutschen Wehrmacht, die jetzt auch nach Bonn kommt, hat bereits in einer Reihe deutscher Städte viel bewegt: Entsetzen, Schaudern, aber auch stürmische Proteste. Sie dokumentiert einen Ausschnitt aus einer bestimmten Periode des Russlandkrieges. Sie demonstriert speziell die Massaker, die von Truppenteilen an der jüdischen Bevölkerung in eroberten Gebieten verübt worden sind. Sie widerlegt die verbreitete Vorstellung, derartige Verbrechen hätte sich nur die SS geleistet.
Sicherlich war der zahlenmäßige Anteil der Wehrmachtsoldaten, die zu diesen Massakern befohlen wurden, eher gering. Aber wie hätten sich denn die anderen verhalten, wäre an sie der Befehl ergangen? Aus dem Dokumentationsmaterial ist ersichtlich, dass es offenbar einen weit verbreiteten automatischen Gehorsam gab, der diese organisierten Mordaktionen möglich machte.
Diese widerstandslose Hörigkeit der ausführenden Täter ist fast noch schrecklicher und unheimlicher, als es die Taten selbst waren. Man fragt sich, wie es den Angehörigen eines anscheinend hochzivilisierten Volkes möglich war, auf bloßes Kommando hin wehrlose Bürger, darunter Frauen und Kinder, scharenweise niederzumetzeln. Oft kommt die verlegene Antwort: Es sei unfassbar, unerklärlich. Die Vorstellung, dass vielleicht die eigenen Väter oder Großväter beteiligt gewesen sein könnten, wird von vornherein als absurd verworfen. Vielleicht waren die ja auch nicht dabei — oder doch?
Die große Zahl der Gehilfen bei diesen Terroraktionen beweist untrüglich, dass nicht etwa nur ausgesuchte Killer, sondern dass reguläre Einheiten am Werke waren, was heißt, dass normalsinnige, normal erzogene Männer aus allen sozialen Schichten fähig waren, gegen ihr natürliches moralisches Empfinden die scheußlichsten Untaten zu begehen. Wer da sagt, das sei schlechthin unfassbar, der drückt damit nur aus, dass er selbst himmelweit von solcher Anfälligkeit entfernt zu sein glaubt. Aber das ist eben eine Illusion. Die Bereitschaft, sich moralisch total korrumpieren zu lassen, ist offenbar viel weiter verbreitet, als man sich das eingestehen will.
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Das Milgram-Experiment, das viele von Ihnen wahrscheinlich kennen, beweist, dass man sonst völlig unauffällige Menschen zu einem hohen Anteil unter gewissen Umständen dazu bringen kann, ihr Mitgefühl auszuschalten und andere in lebensbedrohlicher Weise zu quälen. Voraussetzung ist, dass sie sich einer scheinbar Achtung gebietenden Autorität bereitwillig unterworfen haben.
Ist dieses Abhängigkeitsverhältnis erst einmal etabliert, sind die Betreffenden bereit, ihr Gewissen so massiv zu unterdrücken, dass man sie zu den schlimmsten Grausamkeiten anstiften kann. Am Ende bereitet es ihnen sogar größere Skrupel, sich der befehlenden Instanz zu widersetzen, als auf deren Geheiß kriminell zu handeln.
Nun könnte man sagen, die Vollstrecker der Mordbefehle, die man in der Ausstellung besichtigen kann, seien eben nur praktisch entmündigte Werkzeuge ihrer verbrecherischen Führung gewesen. Richtig daran ist, dass wahrscheinlich viele sich zu den angeordneten Grausamkeiten gegen Menschen zwingen mussten, gegen die sie persönlich keinerlei Hass empfanden. Aber die vollständige Abtretung der Eigenverantwortung war nichts anderes als eine schuldhafte Selbstentmündigung. Viele, die sich widersetzt haben, sind heil davongekommen.
Wenn ich hier über diese Dinge rede, so nicht von einer Warte der Selbstgerechtigkeit aus. Ich habe selber 1942 in der 6. Armee gekämpft, in der Verbrechen verübt worden sind. Weder bin ich persönlich in meiner Widerstandsfähigkeit durch einen unmenschlichen Befehl getestet worden, noch habe ich von entsprechenden Gräueln auch nur gehört. Dennoch fühle ich mich als Angehöriger der Truppe, in der solche Exzesse stattgefunden haben, mitbelastet.
Im übrigen konnte ich für mich persönlich ohnehin keinen klaren Trennungsstrich ziehen zwischen verbrecherischem und üblichem kriegerischen Töten. Beim Vorrücken unserer Truppe habe ich viele zivile Tote in den Dörfern gesehen, die wir beschossen hatten. Ich wusste, dass wir ein ahnungsloses Volk überfielen. Wir dienten, wie uns die Propaganda lehrte, einem fanatischen rassistischen Vernichtungswillen Hitlers, der in den Massakern, von denen die Ausstellung einige sichtbar macht, nur seinen barbarischsten Ausdruck fand.
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Die an den Vortrag anschließende Diskussion verläuft erfreulich angenehm, wozu ein pensionierter höherer Bundeswehroffizier beiträgt, der die Ausstellung bejaht und sie vor allem auch als wichtiges Lehrstück für die jungen Bundeswehrsoldaten lobt. Allerdings hat die Veranstaltung mit dem Namen des Referenten nur ein spezielles, kritisches, auf die Ausstellung neugieriges Publikum angelockt. Im Bonner Generalanzeiger wird der Vortragsabend mit keinem Wort erwähnt werden.
Nachtrag nach 12 Monaten:
Zwei Historiker, der Pole Bogdan Musial und der Ungar Kristian Ungvary, haben inzwischen nachgewiesen, dass manche Fotos der Ausstellung mit Sicherheit oder mit hoher Wahrscheinlichkeit gar keine deutschen Wehrmachtsverbrechen belegen. Abgebildet sind u.a. exhumierte Opfer des russischen NKWD, die von deutschen Soldaten betrachtet werden, ferner Hinrichtungen von Deserteuren und Erschießungen durch SS, SD oder Polizei. Unter dem Druck der aufgekommenen Kritik zieht Jan Philipp Reemtsma, Leiter des verantwortlichen Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Ausstellung vorläufig zurück.
Panne? Oder war es nicht vielmehr der anklägerische Antrieb, dem die historische Sorgfalt zum Opfer fiel? Reemtsma hatte sich bereits durch die häufiger verwendete Formel angreifbar gemacht, nicht alle Wehrmachtsoldaten hätten sich an Verbrechen beteiligt, aber — so klang es, wohl die meisten! Das wäre gewiss eine haltlose Verkehrung der Proportionen.
Indem die Verantwortlichen mit ihren nunmehr nachgewiesenen Flüchtigkeiten den Anschein erwecken, dass ihr Bezichtigungseifer mit der aufklärerischen Absicht konkurriert hat, erschweren sie den lange versäumten offenen Dialog zwischen den Generationen, der so nötig ist. Zahlreiche Überlebende der Wehrmachtsgeneration könnten und sollten noch zum Reden ermutigt werden. Aber davon kann sie der Eindruck abhalten, sie sollten nicht erzählen, sondern nur gestehen.
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Die Jüngeren wollten lediglich entlarven und verurteilen und nicht auch begreifen und mittragen. Eben diese Bereitschaft ist indessen bei den Enkeln durchaus vielfach vorhanden, wie mühsam es für diese auch ist, sich das damalige Leben in der totalitär organisierten Inhumanität vorzustellen. Wüsste ich nicht von den eigenen Enkeln, wie wichtig es ihnen ist, die Vergangenheit besser zu verstehen, deren Spuren bis in ihre Gegenwart hineinreichen, hätte mein Antrieb vielleicht nicht ausgereicht, mit dem Schreiben dieses Buches zu beginnen.
Die Enkel müssen besichtigen, wie viel an Menschlichkeit jenes Regime des mörderischen Ungeists zerstört hat. Aber sie müssen auch erfahren, dass und wo und von wem unverantwortliche Befehle missachtet wurden, wo persönliches Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl über Gehorsamsautomatismus und Verrohung gesiegt haben. Solche Zeugnisse sollten auch gezeigt werden, wo das Bild der Wehrmacht vermittelt werden soll — nicht um diese Beispiele gegen die verübten Ungeheuerlichkeiten aufzurechnen, aber um es den Enkeln zu erleichtern, mit einem geistigen Erbe ohne innere Abspaltung zu leben.
Da waren zum Beispiel die jüdischen Schöpfer des Holocaust-Museums in Washington weiser als die Hamburger Ausstellungsmacher. Jene haben am Rande der großen Dokumentation des schaurigsten Völkermordes den Lebensweg und die Rettungstaten des Deutschen Oskar Schindler auf einer großen Ausstellungswand ausführlich nachgezeichnet, offenbar ohne zu befürchten, den Eindruck der furchtbaren Verbrechen abzuschwächen oder zu einer Überschätzung des Ausnahmebeispiels zu verleiten. Mit dem einen Gerechten auf der anderen Seite erinnern sie daran, dass mitfühlende Menschlichkeit über alle Grenzen hinweg Brücken schlagen und sich grundsätzlich auch unter massivstem Terror behaupten kann.
Entsprechend hätten die Hamburger Verantwortlichen gut daran getan, ebenfalls eine Verbindung zu der anderen Seite sichtbar zu machen, also zum Beispiel Verweigerer oder Verhinderer von Untaten entsprechend zu würdigen. Das wäre eben sowenig ein Abstrich an der Schaurigkeit der unleugbar geschehenen organisierten Verbrechen wie die Herausstellung Schindlers im Falle des Holocaust.
Den Besuchern würde die Chance geboten, sich auf der Gegenseite des niederdrückend Negativen mit ermutigenden Beispielen von Widerstandsfähigkeit zu identifizieren. Vielleicht kommen die Ausstellungsmacher ja bei der anstehenden Überarbeitung selbst darauf, ihr Konzept unter diesem Aspekt noch einmal zu überprüfen und es nicht beim Austausch strittiger durch unstrittige Verbrechenszeugnisse bewenden zu lassen.
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